© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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Deutsches Reich.
* Berlin, 26. Oct. Der russische Reichskanzler Fürst Gvrtschakoff,
welcher seit Ansang des Sommers in süddeutschen Bädern und in der
Schweiz zugebracht hat, wird nächstens auf der Rückkehr nach Peters
burg hier ankommen und einige Tage hier verweilen.
Die Nachrichten aus Wien lassen offenbar erkennen, daß die Krisis
sich nicht mehr hinausschieben laßt. Die Verfassungstreuen jubeln
bereits. So schreibt die „Presse": „Alt-Oesterreich siegt! Die ver
einigten Staaten von Neu-Oesterreich, welche die Föderalisten an
Stelle der einheitlich organisirten Monarchie errichten wollten,
werden mit den czechischen Fundamentalartikeln eingesargt und begraben
werden , in dem böhmischen Landesarchive. Das ' ist die 'große
Neuigkeit des Tages. Die sehnlichst erwartete Wendung in unserer inne
ren Politik ist also endlich eingetreten. Die Vorstellungen, welche die
gemeinsamen Reichsminister und der ungarische Ministerpräsident wider
die czechischen Vorschläge zu einer Neugestaltung der Verfassung er
hoben haben, haben die Ausgleichsverhandlungen ins Stocken
und schließlich, wenn auch noch mcht zu einem vollständigen Abbruche,
doch in ein Geleise gebracht, das einen glücklichen Ausgang mit Zuver
sicht erwarten läßt, mag dieser nun bereits in den nächsten Tagen oder
erst nach einem letzten verunglückten Versuche eines neuett Compromisses
eintreten. .
— Die Berlin-Stendal-Lehrter Bahn wird nach amtlicher Bekannt
machung am 1. November zunächst für den Gütertransport eröffnet.
Ein direcler Güterverkehr wird mit den hannoverschen, oldenbnraischen,
westphälischen re. Bahnen hergestellt.
— Mehrere Berliner Blätter, u. A. „Nat.-Ztg." und „Voss. Ztg."
zeigen an, daß, weil die, Herstellungskosten der Zeitungen ungewöhnlich
und plötzlich gestiegen sind, sie die Jnsertionsgebühren von 2ys ans
L'rhöhen.
Siraßburg, 21. Octbr. Die definitive Ernennung des Hru. Ernst
Lauth zum fünfjährigen Maire von Straßburg und 'seine Einführung
in den'Municipalrath ist vor einigen Tagen erfolgt. So viel uns be
kannt:: hat der neu eingetretene Maire bereits oer oberen Behörde die
vier Adjuncten vorgeschlagen, die er mit seiner Verwaltung zu ver
binden wünscht; unter denselben nimmt Jmlin, der schon seit vielen
Jahren im Municipalrath Sitz und Stimme hat, die erste Stelle ein.
Er kennt'die Stadt und ihre Bedürfnisse; als thätiges Mitglied der
Agriculturgesellschast hat er sich in jenem Vereine seit Jahrzehnten
üusgezeichnet. Er steht als ausgezeichneter' Veterinärsirzt mit mehreren
Schichten der Bevölkerung tu Berührung. — Der ausgeschiedene,
anspruchslose provisorische Maire, Klein, hat sich während
seiner achtmonatlichen Verwaltung unter schwierigen Umständen
um die deutsche Regierung und um seine Mitbürger verdient ge
macht. — Das protestantische Generalconsistorium war aus den 19.
laufenden Monats einberufen. Der interessanten Sitzung wohnte der
neue Präfect des Niederrheins, v. Ernsthausen, bei. Hauptzweck der
Zusammenberufung war die Wahl eines Präsidenten und die Bezeich
nung eines Regierungscommissars. Die anwesenden Mitglieder, 15 an
der Zahl, schwankten in der Präsidentschaft zwischen Kratz, bisherigem
Mitglied des Direktoriums, und Traut, Vicepräsidenten des hiesigen
Landgerichts. Erst nach dreimaliger Balottage erhielt ersterer die er
forderliche Stimmenmehrheit. Zu erinnern wäre, daß Kratz vom Monat
Mai 1848 bis im Frühjahr 1851 als republikanischer Maire
von Straßburg functionirte. Wir gestehen, nicht recht zu be-
areifen, wie und warum in der elften Stunde die Gegencandidatur
Traut's auftauchte; jedenfalls hätte Letzterer, wäre ihm die Würde im
Dircctorium zugefallen, seinen kaum angetretenen richterlichen Functio
nen entsagen müssen. Zum Commissär der Regierung wurde Schiellein,
ehemaliger Notar in Buchsweiler, vorgeschlagen. Es ist derselbe schon
seit langen Jahren Mitglied des localen Consistoriums jener kleinen
ehemaligen Hanau-Lichtenbergischen Zffidenz, also mit stien kirchlichen,
protestantischen Interessen wohl betaut. Als erklärter Gegner des
verstorbenen Schottenmann. welcher di. dortigen kirchlichen Dotationen
ausschließlich für das Hospiz beansprchte und im Schooße des elsässi-
schen Protestantismus einen 30jährven Streit hervorrief, hat sich
Schielleiu als Vertheidiger der Pfarreen ein unbestrittenes Verdienst
bei dem Dircctorium erworben und eiltet somit am Ende seiner Lauf
bahn eine ehrenvolle Anerkennung. Dr Wahl fiel auf den rechten Mann.
Goguel wurde im Laufe derselben Sitzutg als Mitglied des Directoriums
bestätigt. Nun bliebe, so viel uns bednut, noch eine Ersatzwahl an
der Stelle des Hrn. Kratz zu vollziehen Durch diese neue Coustituirung
der Protest. Behörde wird die liberalePartei Herrin im Lager. Der
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geziemt absonderlich denen, welche "sein „Fortschritt" huldigen und
hoffentlich aus der Sittenlehre des Emugeliums Milde gegen Anders
denkende in ihr praktisches Glaubejsbekenntniß mit hinübernehmen.
Die Regierung zeichnet den Weg vor, indem sie mit nicht genug zu
preisender Liberalität der- aufgeregte: protestantischen Gemeinde die
freie Willensäußerung zugestand. Sh war befugt, mit einem Macht
wort den inneren Zwistigkeiten und Spaltungen ein Ende zu machen
und die Reorganisation der Protestant scheu Kirche in ihre eigene Hand
zu nehmen. Sie zog es vor, den schon eit 70 Jahren bestehenden Rahmen
ausrecht zu halten und den künftighin anszusprechenden Wünschen freien
Lauf zu lassen; aber die Unterdrückung einer Minderheit kann ihr auch
von vorn herein nicht im Sinne liegen. (Schw. M.)
Großbritannien.
* London, 25. Oct. Einer Zuschrift von „Daily News" zufolge
in den bestehenden Einfuhrzöllen um 10 bis 13 pCt.; Wollenwaaren
mit Baumwolle oder Seide gemischt eine Erhöhung von 5 bis 8 pCt.;
Garne 20 pCt. und Rohbaumwolle ebenfalls 20 pCt.
Wie sehr die angebliche Verbindung zwischen der conservativen
Aristokratie und den Arbeiterclaffcn im gegenwärtigen Augenblicke die
öffentliche Aufmerksamkeit fesselt, geht schon daraus zur Genüge hervor,
daß unsere drei ersten Witzblätter derselben ihr Hauptbild widmen;
jedes rmf f P j n p e i altP Wois^_,..Niinck" denkt kick die ..sociale
Bewegung" als eme Katze, die den WiffervaMen Peers aus dem Sack
gesprungen ist, und Disraeli, welcher nebenan steht, hält das Mißlingen
des Planes für ganz natürlich, weil die Peers ihn, den Führer der
Partei, nicht zu Rathe gezogen hatten. „Fun" stellt die stereotype
Arbeiterfigur dar, wie sie einen recht hochnäsigen Peer voller Wärme
umarmt, während der letztere in affcctirtem Tone bemerkt, daß die
Freundschaft doch nicht ganz so intim gemeint gewesen. Auch das
torystische Witzblatt „Judy" bringt ein artiges Bild über denselben
Gegenstand : Ein Dienstmädchen wischt sich die Augen mit der Schürze,
da sie ihren Liebhaber, einen biedern Handwerker, mit einer vornehmen
Dame, welche durch die Krönlein im Haarschmuck und auf dem Kleide
als Personisication der Peers zu erkennen ist, zärtlich sehen thut. Die ver
lassene Mago zeigt bei näherem Zuschauen die Züge Gladstone's, wäh
rend Disraeli, in Gestalt eines Tnrteltäubchens von einem Baum
herab die Scene übersieht und sich des neugeschloffencn Liebesbünd
nisses freut.
Die „Times" ist der Ansicht, daß man die ganze Geschichte der
übereilten Dienstwilligkcit eines oder mehrerer sogenannten Arbeiter
vertreter verdanke. Es sei geradezu abgeschmackt, von einer politischen
Allianz, von einer Verschwörung der Conservativen zum Sturze der
Regierung zu sprechen. Eins sollte der Politiker aus dieser „neuen
socialen Bewegung" lernen, daß nämlich beim Kokettiren mit Leuten,
wie diese sogenannten Arbeitervertreter, die größte Vorsicht vonnöthen
sei. Die Beziehungen zwischen hervorragenden Parlamentsmitaliedern
einerseits und den verschiedenen Vereinen, Liguas und Brüderschaften,
von denen das Land augenblicklich überlaufen ist, anderseits, könnten
nicht zu offen gehalten werden. Es sei nicht in der Ordnung, die
Interessen einer Classe in geheimem Concläve und durch confidentielle
Unterhandlungen zu berathen, sondern die beiden Parlamentshäus-r,
die Plattform der öffentlichen Meetings, oder die Spalten der Presse
seien das einzig passende Feld, auf welchem beide Parteien ihre
Meinungen veröffentlichen und die Ansichtm anderer Classen kennen
lernen sollten.
Vor einem der hauptstädtischen Polizeigerichte ist ein Schwindel
aufgedeckt worden, welcher sich des Namens der Kaiserin Eugenie
bediente, um mildthätigen Personen Geld aus der Tasche zu locken.
Ein 16jähriger Bursche hatte etwa 40 Bettelbriefe an Persönlichkeiten
geschickt, deren Mildthätigkeit bekannt ist. Angeblich kamen diese Briese
von einer Dame im Gefolge der Kaiserin, welche letztere in großer
Noth sei, bis erwartete Geldsendungen aus Frankreich einträfen. Die
Briese sind sehr geschickt gemacht und enthalten hie und da eine
unenglische Wendung, welche auf eine französische Briefstellerin schließen
ließen. Folgende Stelle ans denselben ist charakteristisch: „Entschuldigen
Sie mich, Madame, daß ich unter einem falschen Namen schreibe, aber
mein eigener muß geheim gehalten werden, und ich ersuche Sie im
Namen 'der heiligen Jungfrau, als das tiefste Geheinmiß zu bewahren,
denn meine hohe Gebieterin hütet ihren Kummet eifersüchtig
vor den Augen der Welt, und würde mir nimmer vergeben,
wenn sie wüßte, was ich zu schreiben wage. Alles soll richtig wieder
gezahlt werden, sobald die Sendungen aus Frankreich eintreffen." Graf
Davailler, Adjutant des Kaisers, sagte, weder die kaiserliche Familie
noch irgend lemcmd aus dem Gefolge misse etwas von jenen Bettel
briefen. ' Der Angeklagte gab vor, von einer unbekannten Dame zum
Copiren von 40 dieser Briefe engagirt worden zu sein und mit dem
Schwindelversuch nichts zu thun zu haben: da er aber abgefaßt wurde,
als er gerade einen Brief, welcher 10 Schilling „zur Unterstützung für
die Kaiserin" enthielt, beim Schein einer Straßenlaterne aufbrach und
da kein Beweis vorlag, daß er Mitschuldige habe, wurde er zu 3 Mo
naten Zuchthaus verurtheilt.
Im Manrion-Honse findet heute unter dem Borsitz des Lord
Mayors eine Versammlung statt, um sofortige Maßregeln zur Milde
rung der Hungersnoth in Persien in Angriff zu nehmen.
F r a u f t t i ch.
* Paris, 25. Oct. Die Versailler Nachrichten über den Ausfall
der Präsidentenwahlen in den Generalräthen sind noch recht dürftig.
Man erfährt nur, daß die Mehrzahl der Gewählten der Regierung
mehr oder weniger freundlich gesinnt ist; doch scheinen die Bonapar
tisten und die Radicalcn auch nicht schwach vertreten zu sein; die
letzteren sollen in 15 von 87 Departements Männer ihrer Farbe
durchgesetzt haben.
Bedenkliche Straßendemonstrativnen scheint Prinz Plonplon in
Ajaccio nicht veranlaßt zu haben; im Schooße des corsischen General
raths ging es indeß gar lebhaft zu. Die Bonapartisten, die mit den Wahl-
resultaten in Corsica keine Ursache hatten, besonders zufrieden zu sein,
erklärten dies damit, daß die Anwesenheit der Flotte und die Ver
stärkung der Truppen die Wähler in der freien Ausübung ihres Rechts
behindert hätten. Ein in dieser Beziehung von ihnen formulirter Pro
test erhielt ledoch nicht die Stimmenmehrheit. Nachdem ihnen das mißglückt,
scheinen einige Mitglieder der Partei nicht übel Luft gehabt zu haben,
Volksdemonstrationen zu provociren, was ihnen indeß auch nicht gelun
gen sein soll. Möglich freilich, daß die RsgierungstelegraNime nicht
die ganze Wahrheit sagen. Prinz Napoleon war in der Sitzung nicht
anwesend. Die Nachricht, daß er die Insel bereits verlassen und sich
nach einem italienischen Hasen eingeschifft, hat bis jetzt keine Bestäti-
Zum Streit der Königinnen zu Dresden.
ii.
W. L. Wie kommt es, daß der Dresdener Streit ein Interesse
gefunden hat, das weit über die eigentlich kunstverständigen Kreise
hinausreichte'? Man mag von den leidenschaftlichen Discumonen, die
täglich vor den beiden Bildern stattfanden und Jeden, der damals in
Elb-Athen verweilte, bis auf die Straße und ins Hotel verfolgten, ab
ziehen, was der Mode, der bloßen Neugier und dem Bedürfniß des
Autoritätsglaubens angehört, so bleibt immer noch so viel zurück, daß
man die Streitfrage eine eigentlich populäre nennen darf. Ganz be
greiflich. Nicht bloß galt es ein Bild, das von hervorragendem Ruf,
das allgekannt und verehrt und allen Beschauern unvergeßlich war.
Sondern der Streit eröffnete auch den weitesten Kreisen eine Einsicht
in die Methode der wissenschaftlichen Kritik. Das Element der Kritik
ist der Vergleich, und nun ermöglichte die Zusammenstellung der beiden
Streitbilder in Verbindung mit der allgemeinen Holbeinausstellung auch dem
gebildeten Laien, den Urtheilen der Kunstverständigen in ihren Raisonne-
ments zu folgen, ja selbständig an denselben theilzunehmen, mindestens die
hin und wieder ins Feld geführten Gründe durchzudenken. Es war ein
öffentlicher Gerichtshof etäblirt. Das moderne Princip der Oeffentlich-
keit, dem mehr als eine Zunftweisheit sich hat bequemen müssen, sah
sich plötzlich ein neues Feld geöffnet. Für Manche war die Methode
des wissenschaftlichen Streits etwas Neues, und Manchen mag sie um
ihrer selbst willen das Interessanteste gewesen sein. Die chelehrteu
selbst konnten sich nicht genug beeilen, an die Oeffentlichkeit sich zu
wenden und fast in tnmultuarischer Weise nahmen sie die Tagespresse in
Beschlag. Ja, durch den Anschlag des Professor Fechner und das aufgelegte
Einschreibebuch sah sich in Dresden auch der Laie geradezu aufgefor
dert, nach bestem Gewissen seinen Wahrspruch abzugeben. Dieses Ein
schreibebuch, das sich mit poetischen und prosaischen Urtheilen füllte
und das nach der Intention seines Urhebers dem Pensionsfräulein
" t m dieselbe Stimme zutheilte, wie dem berühmtesten Akademiemitglied —
• 1 man sieht, wie vorherrschend die Idee des allgemeinen Stimmrechts
^ um sich greift! — hat unzweifelhaft seine heitere Seite gehabt; doch
völlig unberechtigt war der Gedanke nicht zu nennen. So wenig auf
diesem Weg für das wissenschaftliche Urtheil etwas Brauchbares
gewonnen werden konnte, so bestand doch das Eigenthümliche der
Streitfrage darin, daß, wie bald zu sehen war, diejenigen Instanzen,
welche vorzugsweise die Domäne der Gelehrten und im engeren
Sinne Sachverständigen sind, zur Entscheidung schlechterdings nicht
ausreichten. So sind zunächst die äußeren Zeugnisse, welche bis jetzt
beigebracht werden konnten, nach beiden Seiten lückenhaft und jeden
falls nach keiner Seite beweisend. Wenn man dann die Originalskizzen,
welche von Holbein's Hand zu den Köpfen der Familie Meyer noch
vorhanden sind, zum Vergleich herbeizog, so ließen sich auch darauf
keine durchschlagenden Resultate gründen; wenigstens sind sie von den
entgegengesetzten Meinungen für sich verwerthet worden. Und wenn
man ferner die Technik der beiden Bilder, Pinselführung und Farben
auftrag, die Wahl der Farben, die nachträglich vorgenommenen Cor-
recturen in Vergleich gesetzt hat, so kam man auch damit nicht ins
Reine, wenigstens nicht zur Uebereinstimmung. Denn gerade aus diesen
Elementen holten sich die Sachverständigen der einen wie der anderen
Seite die Mittel der Beweisführung. Gerade aus der Technik des
Dresdener Bildes bewiesen die Einen seine Echtheit, die andere seine
Unechtheit. So lag denn das, was auf beiden Seiten das Urtheil be
stimmte, auf einem anderen und allgemeineren Gebiet.
Jedem Beschauer fiel sofort ein durchgreifender Unterschied beider
Bilder in ihrer Gesammthaltung in die Augen. Versuchte er sich von
diesem allgemeinen Eindruck genauere Rechenschaft zu geben, so stieß er
auf erhebliche Abweichungen der Composition, bei welchen zunächst bald
das eine Bild, bald das andere gegen seine Rivalen in Vortheil zu
kommen schien. Je genauer indeß "die einzelnen Abweichungen verfolgt
wurden, um so durchgreifender erschienen die Veränderungen, welche
bei der Wiederholung des Werkes vorgenommen worden waren. Wie
das ältere Bild in sich eine geschlossene Einheit darstellte, so auch das
andere, es waren gleichsam zwei Individualitäten. Und die Aufgabe
war eS nun, in die Motive jener Veränderungen einzudringen, welche
der Urheber des zweiten Bildes — war es nun Holbein selbst oder ein
anderer — ans demselben anbrachte. Gelang es, sich über diese Motive
! u verständigen, so mußte auch eine Verständigung über die Urheber-
chaft sich erzielen lassen. Unstreitig lag hier zuletzt für alle Beurtheilet'
>as eigentlich Bestimmende, nnd von hier aus suchten fie/fotrfff die
übrigen Momente der Kritik in den Dienst ihrer Ansicht zu ziehen^ Und
bei diesem Stand der Dinge schien in der That der eigentlich „Sachver
ständige", zumal der ausübende Künstler, wenig vor einem ästhetisch gebil
deten, durch die Anschauung von Kunstwerken geübten Auge voraus
zu haben. Wirklich hat es — beiläufig bemerkt — nicht viel auf sich,
wenn die Dresdener sich darauf HHrfen, daß vorzugsweise die Künstler
— die noch dazu meist der interessicten Stadt selbst angehören — sich
der Authenticität des Dresdener Bildes annehmen. Die Kritik wird
doch nicht mit dem Pinsel erlMt. Es kann Einer ein vorzüglicher
Prediger sein und doch geringen Beruf dazu haben, über die Echtheit
einer neutestamentlichen Schrift ein Urtheil zu fällen.
Man wird nun den seltsamen Umstand begreifen, daß mit der
Echtheitsfrage stets die Schönheitsfrage zugleich ins Spiel kam. An
sich war dies natürlich ein Unfug, ein unberechtigter Excurs, der nichts
zur Entscheidung des eigentlichen Streites beitrug. Denn die Frage
war nicht: welches ist das schönere Bild, sondern wie steht es mit der
Echtheit? Gesetzt, das eine Bild ist das schönere, so folgt daraus
unmittelbar noch nichts für seinen Ursprung vonHolbein's Hand. Und
Professor Fechner dehnte seinen Appell an das snffrage universsl offenbar
gar zu weit aus, wenn er dem beschauenden Dilettanten nicht blos die Frage
vorlegte, wie sie über die Aechtheit der Bilder denken, sondern welches ihnen
am besten gefalle und welches sie amlicbsten mihrerStnbe hängen sähen. Allein
der Einfall des Leipziger Professors, der bekanntlich damit beschäftigt ist,
mit vielem Fleiße eine neue allgemeine Schönheitstheorie aus dem
suffrage imiversel der Menschheit aufzubauen, ist wenigstens begreiflich.
Denn da die Frage zuletzt in dem Urtheil über die Veränderungen der
Composition gipfelt, drängt sich ganz unvermeidlich das Urtheil über
den Schönheitsgehalt beider Bilder dazwischen, man saun daher dieserQuer-
frage gar nicht ausweichen. Ans diesem Moment schöpften mit Vor
liebe die Dresdener ihre Gründe, oder besser, der Streit nahm von
Anfang an die Wendung, daß die Dresdener blos noch ans die Posi
tion sich zurückziehen konnten: die Dresdenerin ist ungleich schöner, folg
lich ist sie gleichfalls von Holbein.
Uno die Analyse dieses Urtheils der Dresdener ist das eigentlich
Entscheidende.
Sehen wir zu, wie sie es begründen. Daß die Dresdener Madonna
das secundäre Werk ist, lehrt unwidersprochen der erste Augenschein.
Niemand zieht in Abrede, daß sie das jüngere Bild ist, nach und aus
dem anderen entstanden. Auch wenn man in Abzug bringt, daß das
Darmstädter Bild von eineni schweren Firniß bedeckt ist, der ihm ein
alterthümliches Gepräge giebt, während das andere mit seinen
frischen röthlichen Tönen vor kurzem erst aus dem Atelier gekommen
zu sein scheint, kann immerhin kein Zweifel an der Originalität un
Priorität des ersteren aufkommen. Man wird am lebhaftesten von
diesem Eindruck erfüllt, wenn man die Köpfe der Familie Meyer ver
gleicht, die ans dem Darmstädter Bild voll energischer Leben:Wahrheit
sind, die liebevollste Ausführung zeigen und von einem unendlich
geistigeren Ausdrtlck beseelt sind als auf dem Schwesterbild. Dort
zeigen sich unverkennbar alle Vorzüge der Holbein'schen Porträtmalern.
Franz Kugler sagte in seiner Kunstgeschichte von dem Dresdner Bild,
es sei „zunächst nur auf die Bildnisse berechnet". Heute würde das
Urtheil gerade umgekehrt lauten. Von dem Darmstädter Exemplar
kann man sagen, es sei „zunächst nur auf die Bildnisse berechnet".
Aber eben die Consrontation mit diesem zeigt, daß die Gesichter des
Dresdener Bildes matte, unselbständige Copieu sind, wie sie ein nachbil
dender Künstler hinschreibt, der die Originale nicht kennt und kein Interesse
mehr für sie besitzt. Auch die Anwälte der Dresdnerin ziehen dies nicht m
Abrede und geben zu, daß vielleicht Schüler bei diesen Theilen beschäftigt ge
wesen seien. Sodann zeigt sich in der Ausführung des Beiwerks,). B. an den