© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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aus : ?
1871, Okt. 5
Priese aus der Heimath.
von Fanny Lkwald.
Ih Friedrichsrode, 29. September.
Die Holbein'schen Madonnen.
Bei der Theilnahme, ja, bei der gerechten Aufregung, welche die
feierliche Achterklärung hervorgerufen hat, die von eurer Genossenschaft
von Kunstkritikern gegen die in der dresdener Galerie befindliche Holbein'sche
Madonna ausgesprochen worden ist, glaube ich Ihnen und der großen
Menge derjenigen Kunstfreunde, denen die dresdener Madonna als ein
Gegenstand liebevoller Verehrung in das Herz gewachsen ist, einen
outen Dienst zu erweise», wenn ich ihnen neben oder nach der Erklä
rung, welche jene schöne Himmelskönigin entthronen will, das Urtheil
eines deutschen, anerkannten imb gewiegten Malers, das Urtheil Rudolf
Lehinann's, in diesen Blättern mittheile, zu dessen Veröffentlichung ich
Mch ihn selbst, und zwar aus folgende Weise ermächtigt worden bin.
, Wir hakien im Sommer, als wir nach Böhmen gingen, in Dresden,
wie bei jedem dortigen Aufenthalte, die Galerie besucht, lange und
erfreut auch vor der Holbein'schen Madonna verweilt, und uns vor
gesetzt, die Holbcin-Ausstellung in» September nicht zu versäumen.
Umstände maricher Art hinderten uns an der Ausführung dieses Vor
habens. Wir konnten uns bei der Rückkehr in Dresden nicht aus
halten, mußten rasch vorwärts gehen, trafen aber bei der Abreise von
Dresden unerwartet mit unserem römischen Freunde Rudolf Lehmann
zusammen, der, seit Jahren in London ansässig und viel beschäftigt,
um der Holbein-Ausstellnng »villen nach Dresden gekoinlnen »var und,
»vie er selber sagte, ans der Betrachtung derselben ein Studium gemacht
hatte. Natürlich »vareu »vir begierig, seine Meinung über den Bilder
streit zu vernehmen, da in dieser Frage das Urtheil eines so durchge
bildeten, die Kunst selber mit Meisterschaft übenden Künstlers von
großer Bedeutung sein mußte; und »veil des Künstlers Ansicht in diese»»»
Falle dein Verdammungsspruche dcsKnnstkritiker-Consortiums, das die
dresdener Madonna nicht als einen.Holbein anerkennen »vollte, mit
Gründen widersprach, die sammt und sonders ans der Kenntniß
der künstlerischen Technik und aus der eigenen Erfahrung unseres
Freundes hergenommen waren, ersuchte ich ihn, dasjerüge, »vas er uns
mündlich erklarcr»d mitgetheilt, auch niederzuschreiben, und fragte z»»gleich
au, ob er gegen die Veröffentlichung dieser feiner Meinung etwas ein
zuwenden habe. — Er erklärte sich zu dem Ersteren bereit, rvünschte
sogar die letztere, i»nd ich erbot mich, dieselbe d»»rch Ihre Zeitung zu
vermitteln. Hier also sein Brief:
«London, 26. Septeirrber.
Es mag von einem Laien (der Feder) verrnesse»» erscheinen, nach
den Männern, die ihr Urtheil gegen die dresdener Madonna ausge
sprochen haben, noch eine 'Meinung abzugeben, besonders »venn sie von
der ihrigen abweicht. Ich gebe Ihnen die »»»einige in Folgende»»» auch
nur für das, was sie ist: die individuelle Ansicht eines Künstlers, der
sich zwar seit dreißig Jahren mit Rialen beschäftigt, aber der in keiner
Weise eine Kennerschaft bea»»sprncht.
Nach »»»einer Ueberzeugung sind beide Bilder von Hai»s Holbein des
Jüngeren Haird.
Wer das^Glück gehabt hat, alte Meisterwerke zu copiren, oder die
Ehre, von Schülern copirt z»» »verden, der »veiß, was unfehlbar die
Folgen des Copirprocesscs sind. Tie Schönheiten verlieren, »verden
stumpfer in den» Maße, roie die Fehler vergrößert »verden, u»»d zwar
tritt das am empfindlichsten hervor in den Haupttheileu eines Bildes,
»veil sie die schwierigsten sind. Betrachten »vir nun vergleichend das
eine Bild nach dem anderen, so muß ich gleich voranschicken, daß das
dresdener Bild gcreiriigt, das heißt: jenes »vohlthuenden »varuren Fir
nisses beraubt ist, den die Zeit alten guten Gemälden verleiht, den
aber manche alte Meister ihren Bildern gleich von vorn herein durch
gelblich oder röthlich gefärbten Firniß zu verleihen für gut befunden
haben. Das darrnstüdter Exemplar, noch in» Besitz seines ursprüng
lichen Firniß, ist dad»»rch, »vas den allgemeinen Aspect anlangt, in
entschiedenen» Vortheil. Es ist ohne Zweifel das zuerst gemalte.
In allen Details, die geduldigsten Fleiß erfordern, in der Krone
der Madonna und in der Steinmuschel, von der ihr Kopf sich abhebt,
in dein Perlenkopspntze der rechts vom Beschauer knieeuden jüngeren Tochter,
in den feinen schwarzen Ornamenten aus ihrem weißen Kleide, »vie in
manchen anderen Accessorien sieht mm» deutlich eine größere Präcision
»ind Schärfe als in den entsprechenden Theilen des dresdener Bildes.
Ferner haben die Geivänder sowohl der Madonna als des Bürger
meisters, so wie die Tasche des vorn, links vom Beschauer knieenden
Jünglings, mehr Licht und Farbe.
In den» dresdener Bilde hingegen ist die räumliche Massenverthei-
lung, das Verhältniß der Figuren zur Archite'tnr nub zu einander
schöner, reifer, edler.. Dasselbe gilt von den» Kopfe der Madonna,
ja, von dein des Ehristllsklndes, trotz seines fast Iheilnahmlosen Eriistes,
»Nid ganz besonders von dein Kopfe des Bürgermeisters Meyer, der
geradezu ein anderer, älterer, schönerer ist, und schließlich ist die Per-
»pective berichtigt, indem die Füße, der den Kopsen nach vor der Ma
donna zu ihrer Rechten fnieeiibeii Gruppe des Jünglings mit den»
reizenden nackten Knaben, bedeutend weiter heruntergezogen, so daß
sie um ein Geringes tiefer sind, als das Geivand der Madonna, was
auch für die Grundlinie der Komposition sehr wohlthuend wirkt. Was