Nr. 337.
Sonntag, 3 December
1871.
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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Verlag der I. G. Cotta'scheu Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. I. v. Gvsen.
Usbersicht.
Holbein Ausstellung in Dresden. (HI. Resultate.) — Zur englischen
Literatur. — Hr. v. Treitschke über Graßherzog Leopold von Toscana.
Treueste Pfosten. München: Auflösung drs Handelsministeriums
und Vertheilung von dessen bisherigen Geschäften. Reichsgoldmünzs.
Stuttgart: Telegramm des Kaisers. Berlin: Die heutige Neichs-
tagssitzung. Die Cmruption in Belgien. Paris: Graf Beust. Er
schießung Cremieux'. Die Leiche Ferw's.
WrrHerordentLiche Beilage. Nr. 833.
Telegraphische Berichte.
" Stuttgart, 2 Dec. Die Abgeordnetenkammer nahm den Antrag
des betreffenden Ausschusses an: mit den Kriegsentschädigungsgeldern die
4VrProe. Staatsschuld zu tilgen. Der Antrag Pfeiffers: außerdem noch die
5pwc. und 6proc. Staats odligativnen aufzukaufen, wurde abgelehnt.
* Berlin, 2 Dec. Die „Nordd. Allg. Ztg." bezeichnet die Cir
culardepesche Andrassy's als ein Friedensprogramm und neues Pfand der
Freundschaft Deutschlands und Oesterreich - Ungarns. Dasselbe Blatt
bespricht den Vorfall in Rio; nach deutschen Berichten sei ein vorbereiteter
Ueberfall unter der Eonnivenz der brasiüschen Polizei und dem Einflüsse
dortiger Franzosen anzunehmen; eine gründliche Ermittlung des Sach
verhalts fei unerläßlich: die deutsche Regierung würde sich glücklich schätzen
wenn kein Anlaß vorläge auf Genugthuung zu dringen.
* Berlin, 2 Dec. Der „Kreuzzeitung" wird die wiederholt auf
tauchende Nachricht: die Regierung beabsichtige die facultative Civilehe
vorzuschlagen, als unrichtig bezeichnet. Es handle sich vielmehr um die
Noth-Civilehe.
* Drs-SdLn. L Dsc. In seiner Rede zue Eröffnung des Landtages
gedachte der König der Wiederherstellung der Kaiserwürde, des ruhmvollen
Antheils der sächsischen Truppen am Kriege, sowie der opferwilligen Hin
gebung aller Classen derB Witterung. Ein geordneter Zustand der Finan
zen ermöglichte die Mobttlsirnug aus der Staatecaffe ohne Beihülfe des
Reichs, und rasch erholten sich die Verhältmffe des Landes. Vorgelegt
wurden: eine Reform des Vvlksschulwesms, Organisation dr Verwal
tungsbehörden, Revision der Gemeindeg» s tzgebung auf Grundlage einer
ausgedehnten Selbstverwalrung, Verbesserung der Beamtengehalte. Das
Verhältniß zu allen auswärtig n Staaten blüh dasselbe freundliche wie
früher. Dem Reiche gegenüber hielt d»r König an der früyer angedeu
teten Stellung fest.
Weitere Telegramme stehe fünfte Seite.
Holbeirr-Urrsstellung in Dresden.
UI. Resultate.*)
* Die (durch ein Mißverständlich verursacht ) lange Unterbrechung
zwischen den früheren Berichten und diesemSchlußbencht hat denBortheil
daß ich eine große Menge in.,wischen laut gewordener Meinungsäuße
rungen übersehen und von den Eindrücken einer Rundreise durch die her
vorragendsten Hvlbeinorte in Deutschland Nutzen ziehen kann.
Die Holdem Ausstellung ist wohl für die Jugendgeschichte Holbeins
und fern Behält, ch z>m Barer enticheidend geworden. Frerüch war bei
weitem nicht alles dort was zur Münz der Streitfrage nothwendig ist,
doch genug um sie in Fluß zu bringen, und um dw Nothwendigkeit nahe
zu legen über ste mit werter hergeholten Mütein ins reine zu kommen.
Nachdem die berüchtigte Augeymger Jnschnft sich als Fälschung er
wiesen hat, Holdein also unzwe-ftlhuir erst 1497 oder gar 1498 geboren
ist, nachdem ferner der Km härmen-Mar, durch dre Inschrift ihm nicht
mehr zugewieftn, demjenigen Han-Halbem zugehört der 1512 nach mensch
licher Wahrscheinlichkert der einzige war dem man ein so außerordentlich, s
Werk zutrauen konnte, fallen auch die anderen sogenannten Jugend werke
Haas Holbsin des Jüngeren eins noch dem andern mit immer größerer
Wahrscheinlichkeit dem Vater zu, die S-lbersuftzeichnungen, die Madonna
mit den Matglöckchen, siche.- das Ächwmz'zche Votiobild, das mit vieler
*) S. Mg. Ztg. sfr. 258, B.
^ Wahrscheinlichkeit in eine für den Sohn viel zu frühe Zeit gerückt wird,
und endlich selbst der Sebastians-Altar in der Münchener Pinakothek.
Das ergibt für Holbein den Vater eine ganz normale Entwicklung, freilich
zu einer Größe hinaus die man sich aus durchaus unzureichenden Gründen
bisher gescheut hat ihm zuzuerkennen, während man gleichzeitig keinen
Ausland nahm einem Kaa?-en die größten Meisterwerke der deutschen Re
naissance Kunst zuzuschreibenden man als Jüngling zwar in vielen bedeu
tenden Arbeiten, aber doch auch manchen sehr verfehlten, tastenden Ver
suchen verfolgen konnte.
So beginnt der jüngere Holbein für uns nachweislich erst mit seinen
Arbeiten in Basel, und zwar war er dort bereits gegen das Ende des
Jahrs 1515. AuS diesem Jahr soll, nach einem Alliance-Wappen zu
schließen, auch ein bisher verschollenes und gerade vor der Holbem-AuS-
stellung entdecktes Werk seiner Hände stammen, welches aus Schilderungen
der Schriftsteller bereits bekannt war. Professor S. Vögelin in Zürich
hat in der Stadtbibliothek nach mühseligem Suchen den von Patin und
Sandrart beschriebenen viereckigen bemalten Ti'ch mit der Darstellung des
populären Niemand, der, ein Schloß vor dem Munde, zwischen alten zer
brochenen Geräthen sitzt und „alles verbrochen haben soll und sich doch
nicht verantworten kann," aufgefunden. Reigentänze, Jagden in Humor»
strscher Darstellung und Erweiterung des Begriffs und Lanzenstechen sinh
am äußeren Rande herum dargestellt. Die sehr geschickte, trefflich gezeich
nete und in dekorativem Sinne geistvoll componirte Arbeit hat leider sehr
gelitten. Der schwarze Grund ist durch die Farbe gewachsen, und stellen
weise zeigen sich nicht unerhebliche Beschädigungen; doch laßt sich bei ge
nauerer Prüfung das Erhaltene noch ganz wohl erkennen, und die voll»
ständige Uebereinstimmung mit den alten Beschreibungen, wie die unzwei
felhaft echte Bezeichnung mit Holbeins Namen auf einem erbrochenen
fcp ty natürlich au? dem Tisch liegt daLmran sich wirklich, wie
Cändrart"schreivt,' versucht fühlt danach zu tzreffm, läßt an Holbeins Ur
heberschaft keinen Zwerfel.
Die Arbeiten der ersten Baseler Periode bis 'zum September 1526
waren auf der Holbein Ausstellung in Originalen sehr spärlich und auch
in Reproduktionen nicht annähernd vollständig vertreten. Die neu aufge
tauchten beiden H-siligengestalten aus der Kunsthalle in Karlsruhe möchte
ich ablehnen, nicht bloß wegen der sichtlich modernen Inschrift, sondern
auch wegen ihrer ganzen Kunstart, die sie im günstigsten Fall als mäßige
Augsburger Schulbilder charakterisirt, aber mit nichs auf den jüngeren
Howein hinweist. Bon dm Originalen dieser Periode nahmen die beiden
Exemplare der Meysr'schen Madonna weitaus die erste Stelle ein; und
wenngleich ich den Streit über deren Verhältniß zu einander und zu Hol
bein vom wissenschaftliche» Standpunkt aus für erledigt und mit den
Ntchtüberzeugten für hoffnungslos halte, so will ich doch noch auf einige
Gesichtspunkte anläßlich der Madonna-Frage in Kürze hinweisen.
Weil immer so viel Wesens von der Veränderung der Csmpcsitio»
als einer höchst verdienstlichen Arbeit eines ganz außerordentlicheu Mei
sters gemacht wird, komme ich noch auf einen hier einschlagende Punkt
zurück. Dreberühmte Architekturveränderung konnte einfach dadurch bewirkt
werden daß die Theile von den Kragsteinen aufwärts ein paar Zoll höher
geparst wurden; was der Copist mehr gethan hat, ist ein Beweis keines
Unverstandes. Von der eigentlichen Eomposition aber hat er die gesammtr
Frauengruppe — von der Verkleinerung des Kopfputzes bei der Verstor
benen abgesehen, — gänzlich unverändert gelassen; auch die Gruppe des
knieenden Jünglings und des nackten Knaben ist tinf.ch beibehalten; nur
die Figur des Bürgermeisters ist — in sich auch ohne Veränderung — um
so viel in die Höhe gerückt wie sie auf dem Dresdener Bild im Bode»
steckt?)
Bei dem Aufrücken des Bürgermeisters, das an sich eine rein mecha
nische Arbeit ist, iß aber eine Feinheit zerstört worden die eben mechanisch
nicht empfunden werden kann. Im Darmstädter Bilde ruhen die gefal
teten Hände d,:s Bürgermeisters fest auf dem Nocken des vor ihm knisens-
den Knaben. Das ist psychologisch richtig und stimmt zu der ruhigen, aber
tiefen Innigkeit im Kopse. Warum wachen wir unsere Betpulte mit einer
Vmdsrlchue? Doch wahrlich nicht bloß um das Gebetbuch darauf zur
lege». Man gehe in sie erste b-ste katholische Kirche, und man wird er,
*) Dieß gibt selbst Fechner S. 78 vnd 98 zu. , .