© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
738 Rückblick auf die Holbein-Ausstellung in Dresden.
der Renaissance, und strebte nun von ihrem Entwicklungsgänge Näheres zu
erfahren. Diesem Wunsche kamen denn auch bald neue Entdeckungen in
überraschender Weise entgegen; allerdings waren sie nicht alle echt, sondern
zum Theil, wie jetzt ermittelt ist, künstliche und planmäßig angelegte Fäl
schungen. Aber auch so wirkten sie anregend, indem sie kritische Untersuchun
gen und gewissenhafte archivalische Forschungen hervorriefen. Eine weitere
Frucht und höhere Steigerung der Begeisterung gab dann Woltmann's
gründliches und anziehendes Buch über Holbein und seine Zeit, welches, je
mehr es in die Details einging, um so deutlicher die Lücken unserer Kennt
nisse zeigte und eine ganze Literatur von Streitschriften hervorrief.
Bei dieser wachsenden Vorliebe für Holbein stieg dann nothwendig auch
das Ansetzn seiner Bilder. Da die größten derselben, meistens Wandmale
reien, untergegangen waren, erschien die berühmte Dresdener Madonna mit
der anbetenden Familie des Bürgermeisters Meyer als das größte seiner
erhaltenen Bilder und daher als die wichtigste Quelle für die Kenntniß seiner
Kunst. Diese Bedeutung behielt es auch noch, nachdem im Jahre 1822 ein
zweites, etwas verändertes Exemplar derselben Composition aufgetaucht war.
In einem prinzlichen Palais bewahrt, zuerst in Berlin, jetzt in Darmstadt
und dadurch der vollen Oeffentlichkeit entzogen, unterlag dasselbe nur der
Prüfung einzelner Kunstforscher, welche es als ein Holbeinisches Original
und zwar als das ursprüngliche anerkannten, zugleich aber das Dresdener
Exemplar für eine von dem Meister selbst, und zwar bei reiferer Kunst
bildung und mit Verbesserungen gefertigte Wiederholung hielten. Diese
Ansicht fand kaum Widerspruch und wurde auch von Woltmann in seinem
ersten Bande (1866) adoptirt.
Plötzlich wurde dieser Friede zerstört. Ein englischer Kunstkenner, Mr.
Wornum, Jnspector der Nationalgallerie zu London, erklärte (1867) das
Darmstädter Bild für das einzige Original, das Dresdener aber für eine
Copie von anderer Hand. Fast gleichzeitig (1868) kam Woltmann in den
Besitz historischer Nachrichten, aus denen er Verdacht gegen die Echtheit des
Dresdener Bildes schöpfte, und nach neuer Prüfung desselben (1869) sich
dahin entschied, daß es eine bedeutend spätere Copie sei. Andere stimmten
diesem Urtheile bei; man versuchte sogar, aus jenen historischen Daten die
Entstehung dieser Copie nachzuweisen.
Ein historischer Beweis (man hat ihn später auch für die Dresdener
Madonna versucht) war indessen nicht herzustellen; unsere Nachrichten sind
sämmtlich zu lückenhaft und unsicher, um eine Entscheidung darauf zu grün
den. Das einzige Mittel, eine solche zu erlangen, schien daher eine genaue
Vergleichung beider Bilder unter sich und mit anderen Werken des Meisters
und zwar nicht blos durch die Erinnerung reisender Kunstforscher, sondern
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Rückblick auf die Holbein-Ausstellung in Dresden.
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in unmittelbarer Zusammenstellung. Daher denn der Gedanke einer Holbein-
Ausstellung, deren Veranlassung mithin die Rivalität beider Exemplare war,
bei der man jedoch zugleich den höheren kunstgeschichtlichen Zweck eines tie
feren Eindringens in das Wesen und die Eigenthümlichkeit dieses hochbegab
ten Künstlers verfolgte.
Die Bemühungen des Comitos hatten günstigen Erfolg; die Auswahl
Holbeinischer Werke, die hier vorübergehend zusammenkam, war sehr bedeu
tend und lehrreich. Zwar von Vollständigkeit war sie weit entfernt; die
Gallerien von Augsburg, München, Basel hatten Bedenken gehabt, ihre
Schätze den Gefahren des Transportes auszusetzen. Holbein der Vater und
die Jugendzeit des Sohnes waren schwach vertreten. Dagegen war aus
mehreren öffentlichen und privaten Sammlungen Deutschlands, dann aber
auch aus England, aus dem Besitze der Königin und von anderen Eigen
thümern, ein reicher Schatz von vortrefflichen Gemälden und Zeichnungen
aus Holbein's Blüthezeit eingesendet, welcher neben den ausgezeichneten Por
träts der Dresdner Gallerie und in Verbindung mit zahlreichen Photo
graphien nicht erreichbarer Werke einen so vollständigen Ueberblick über diese
Periode seines Wirkens gewährte, wie man ihn noch niemals gehabt hatte.
Die Betrachtung dieser Sammlung war daher für den Kunstforscher unschätz
bar, und gab jedenfalls das nöthige Material zur Entscheidung jener Streit
frage über die beiden Madonnen, welche denn auch eifrig und fast leiden
schaftlich erörtert wurde.
Die Hoffnung, durch die Kraft des Augenscheins ein einstimmiges Ur
theil der Sachverständigen zu erlangen, blieb freilich unerfüllt. Der Streit
ist nicht geschlichtet, sondern nur organisirt; statt der Behauptung Einzelner
traten Collectiv-Erklärungen gegen einander auf. Vierzehn Kunstforscher, die
sich in den ersten Tagen des Septembers in der Ausstellung zu einer Con-
serenz vereinigt hatten, haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie es als
ihre Ueberzeugung aussprachen, daß „das Dresdner Exemplar der Holbein-
schen Madonna eine freie Copie des Darmstädter Bildes sei, welche nir
gends die Hand Hans Holbein des Jüngeren erkennen lasse." Dagegen ver
sichern vierundzwanzig Künstler in einer etwas später unterzeichneten Gegen
erklärung, daß sie in dem Dresdner Exemplar „trotz einer geringeren Voll
endung in den Nebensachen, eine Wiederholung von der Hand des Meisters
erkennen". Die Unterzeichner beider Erklärungen sind sehr ehrenwerthe
Männer; unter der ersten stehen die Namen einiger unserer angesehensten
Kunsthistoriker und anderer bewährter Fachmänner. Das Künstlervotum geht
von ausgezeichneten, zum Theil hochberühmten Malern (von Dresden, Berlin,
Weimar) aus, darunter auch solche, welche wie der ehrwürdige Schnorr von
Carolsfeld und Julius Hübner, als Directoren der Dresdner Gallerie, Ge-