© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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504 Noch einmal der Holbeinzwist.
felhaft an. Entdecken wir nun, daß wir statt des vermeinten organischen
Productes ein mechanisches vor uns haben, so ist's mit der freudigen Em
pfindung freier Schönheit unwiederbringlich dahin. So geht's, wenn wir ein
angebliches Original als Copie enthüllt sehen.
Man wird uns zwar einwerfen, wir hätten doch jedenfalls dem Grade
nach zu viel aus dem kantischen Gleichnisse entnommen. Denn zwischen or
ganischer Naturschöpfung und todter, künstelnder Nachäffung ihrer Formen
und Phänomene sei ein weit erheblicherer Abstand, als zwischen den echten
Hervorbringungen des Menschengeistes und ihren Nachahmungen, bei denen
doch immer wieder derselbe Menschengeist in Wirkung trete. Die geinachte
Rose verhalte sich zur natürlichen höchstens etwa wie die ganz mechanisch
todtgeborene Photographie zum lebendigen Oelgemälde des schaffenden Meisters.
Die Copie eines Kunstwerkes von Menschenhand, gebundener oder freier nach
geahmt, mit mehr oder weniger individuellen Abweichungen, sei vielleicht der
Blume zu vergleichen, wie sie sich unter der Hand des Gärtners künstlich
modificirt entwickelt und die Freude an der Copie stehe zu der am Original
wie der Genuß an einem feinen Ergebnisse gärtnerischer Zucht zu dem, wel
chen der Anblick wildgewachsener Schönheit uns gewährt. Immerhin, denn
wir wollen um das Quantum des Schönheitsdeficits, das wir nachgewiesen,
nicht lange zanken; worauf uns ankam, war, daß überhaupt ein Deficit vor
handen; bleibt doch die Qualität des Mißbehagens, das ein guter Wirth bei
der Entdeckung eines solchen empfindet, dieselbe, wie groß oder klein es
auch sei.
Welche Forderungen an den urtheilenden Kenner ergeben sich mm aber
aus unserer Betrachtung? Offenbar hat er zunächst den guten Glauben an
die organische Entstehung des Kunstwerkes mitzubringen und aus der Einheit
der dem Ganzen zu Grunde liegenden Idee heraus, die ja auch in der Copie
abbildlich erkennbar ist, die Ausführung der Theile zu beobachten. Selbst
für Befremdliches in den Einzelheiten wird er so lange wie möglich rechtfer
tigende Erklärung aus dem Ganzen, aus der Hauptabsicht des Künstlers zu
gewinnen suchen; er hat also die Pflicht begeisterungsfähiger Hingabe an
das noch unverdächtige Kunstwerk. Die Wahrnehmung starker Disharmonieen
zwischen Conception und Ausführung, peinlicher Befangenheit im Detail bei
freier Großartigkeit des Ganzen, oder auch großer Ueberlegenheit einzelner
Partieen über andere, wird ihm freilich mehr und mehr die Erfüllung dieser
Pflicht erschweren, doch noch versucht er's vielleicht mit hypothetischen Deu
tungen, und beschwichtigt ain Ende den murrenden Geschmack durch irgend
welche Compromisse mit reinverständiger Ueberlegung. Taucht aber alsdann
zu dem vermeintlichen Original plötzlich das unzweifelhaft wahre Urbild auf,
so entsteht dem denkenden Betrachter die unbequeme, doch unvermeidliche
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Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna.
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Arbeit, die eingelebte Gewohnheit des halb irrenden Genusses zu zerstören,
um für den wahren Raum zu schaffen, ja vielleicht alle jene Compromisse
wieder rückgängig zu machen. Da ist denn nichts begreiflicher, als daß
manche partielle Schönheit der Copie, die als solche gepriesen worden, nun
gegenüber der gleichmäßigeren Haltung des Originals verurtheilt werden
kann. Denn so pflegt es ja wohl selbständig begabten Copisten zu ergehen,
daß sie, während sie in der Wiedergabe des Ganzen natürlich weit unter
dem als Ganzes entstandenen Muster bleiben, bei ihrer diskursiven, von Theil
zu Theil denkenden Thätigkeit eben einzelne Theile, ja einzelne Seiten des
Ganzen über den ursprünglichen Zustand hinausbilden. Und da sie bei diesen
Umwandlungen, weil selbst einer späteren Empfindungsweise angehörig, sich
unwillkürlich in der Richtung aus den Zeitgeschmack des nachgeborenen Beur-
theilers hin bewegen, so raffiniren sie natürlich dabei die Copie in gewissem
Sinne für dessen Auge. Denn nur für Raffinement, nicht für Verschö
nerung darf die Ausbildung der Theile im Gegensatze zu einem einheitlich
geschaffenen Ganzen gelten. Die Ueberfeinerung des Kopfes der Madonna,
die Auflockerung der ganzen Composition im Dresdener Bilde gegenüber dem
Holbeinischen sind solche Erscheinungen, wobei denn freilich alles Uebrige dem
Raffinisten um so kläglicher mißrathen ist. Wer wollte da dem Kritiker ver
denken, daß er sein Urtheil zur vollen Anerkennung der gleichmäßigen Schön
heit des naiven Echten zurückzuläutern strebt? Auf dem Gebiete der Ton
kunst haben sich ganz ähnliche Wandlungen des Geschmackes ebenso natur
gemäß vollzogen. Wie lange Zeit über wurden uns z. B. die großen
Schöpfungen Händel's in modernisirten Arrangements vorgeführt, welche
gleichfalls — hier durch Ausbildung der orchestralen Seite unserem an stärkere
Effecte gewöhnten Ohre zuliebe — den Eindruck im Einzelnen zuspitzend
verschärften! Als man hernach hie und da zur echten Instrumentation zurück
kehrte, hat wohl jeder Hörer momentan einen gewissen peinlichen Ruck em
pfunden, wie er plötzliche Aufklärungen des ästhetischen Gefühls zu begleiten
pflegt, wer aber hätte sich nicht bald mit Freuden zur wahren Verehrung
des Originalschönen heimgefunden?
Da wir einmal in den Bereich der Musik hinübergeglitten sind, so sei
im Vorbeigehen noch — nur Spaßes halber — des Kritikers gedacht, wel
cher in der „Neuen freien Presse" über die Holbeinausstellung berichtet hat.
Nicht weil er auch Utraquist ist — steht es doch jedem frei — auch nicht,
weil er auf's anschaulichste erzählt, wie Holbein vermuthlich zur Replik seines
Bildes geführt und wie er dabei verfahren sei, sondern wegen der geistreichen
Art, in der er, dessen Ohren jedenfalls geläufiger hören als seine Augen
sehen, sich selbst und uns über den eigentlichen Unterschied der streitigen
Bilder belehrt. Das Darmstädter, meint er, gehe ganz einfach aus L-dur,
Im neuen Reich. 1871, U.