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Noch einmal der Holbeinzwist.
Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna.
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plötzliche Enttäuschung begleitende Unwille über das Ueberraschende derselben
verraucht ist, in geringem Maße, niemals aber ganz oder auch nur wesent
lich wieder vergütet werden kann. Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob
wir die nun gehobene Täuschung als eine uns absichtlich bereitete, böslich
auf unsere Fehlbarkeit berechnete durchschauen lernen, oder nicht; denn wie
sehr uns auch die Scham über die Richtigkeit solcher Rechnung augenblicklich
zu noch härterer Beurtheilung des täuschenden Objektes antreiben möge, so
lockert doch die Zeit gar bald diesen Stachel und ohnehin wird der Schmerz,
den er uns schafft, gleich anfangs durch das beruhigende Gefühl eigener mo
ralischer Unschuld gegenüber fremder Bosheit, der wir zum Opfer gefallen
sind, gelindert. Für die Empfindung des plötzlich zu Tage tretenden Schön
heitsdeficits genügt vielmehr vollständig die Wahrnehmung, daß das angeb
liche Kunstwerk, oder strenger, daß wir uns selber getäuscht haben. Die Rea
lität unserer Schilderung von diesem Seelenvorgange wird jeder Leser irgend
einmal empfunden haben; es fragt sich jedoch, wie er zu erklären sei. Wie
kommt es, daß, während die specielle Echtheit, d. h. die Herkunft von einem
bestimmten Künstler, keineswegs integrirender Bestandtheil der Schönheit
eines Kunstwerkes ist, diese doch durch die Zerstörung der generellen Echtheit,
d. h. der Originalität überhaupt, schwer geschädigt wird? Warum hat die
Dresdener Madonna, die ebenso schön bliebe, wenn sie ein Original von
Müller oder Schulze statt von Holbein wäre, in der That an Schönheit
verloren, sobald sie für Copie erkannt wird? Wir nähern uns damit der
Fechner'schen Frage: „Darf ein Bild aus zweiter Hand gegenüber dem aus
erster überhaupt noch gefallen?" Oder lieber: „Warum gefällt es unter allen
Umständen nothwendig viel weniger?"
Wer entsänne sich nicht der unmuthigen Stelle aus der „Kritik der
ästhetischen Urtheilskraft", in der Schiller mit Freuden einmal „eine Spur
von dem Herzen des großen Denkers" erkannte? „Was wird", sagt Kant,
„von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachti
gall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanf
ten Lichte des Mondes? Indeß hat man Beispiele, daß, wo kein solcher
Sänger angetroffen wird, irgend ein lustiger Wirth seine zum Genuß der
Landluft bei ihm eingekehrten Gäste'dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit
hintergangen hatte, daß er einen muthwilligen Burschen, welcher diesen Schlag
(mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen
wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald inan aber inne wird, daß es
Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend
gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel
beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden, damit
wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen
können." Es ist klar, daß auch in diesem Beispiele Kant's nicht die Anstel
lung des virtuosen Spaßvogels durch den gewinnsüchtigen Wirth, sondern die
bloße Thatsache, daß es ein menschlicher Spaßvogel gewesen, den Gästen den
Genuß an seinem Singsang verleidet. Dieselbe Enttäuschung bereiten uns
gemachte Blumen und andere derartige künstlich nachgemachte Naturformen,
wenn wir sie wider Erwarten als solche erkennen. Gewiß haben nun Kant
und Schiller Recht, wenn sie dies durch Enttäuschung zerstörbare Interesse
als ein intellektuelles, als eine Art moralischen Wohlgefallens vom eigentlich
ästhetischen unterscheiden; allein was sich theoretisch sondern läßt, ist doch in
Wirklichkeit unzertrennlich verflochten: ästhetisches und moralisches Wohlge
fallen verschmelzen im Begriffe des Naturschönen, wir gelangen gar nicht zu
dem Urtheile, dies oder jenes Naturding sei schön, wenn wir nicht seine
Qualität als Natur, „sein freiwilliges Dasein, sein Bestehen durch sich selbst,
seine Existenz nach eigenen und unabänderlichen Gesetzen", kurz — um den
Ausdruck Schiller's zu gebrauchen — seine Naivetät dabei voraussetzen.
Nun ist aber kein Zweifel darüber, daß auch die Kunst nur Kunst zu
heißen verdient, sofern sie zugleich Natur ist, daß ihre Werke nur schön er
scheinen, indem sie — nicht etwa den Werken der Natur selbst zum Ver
wechseln gleichen, ein Ziel, das der bloßen Kunstfertigkeit angehört, sondern
indem sie — aus einen der Natur analogen Entstehungsproceß hindeuten.
Mag man nun die Thätigkeit des Künstlers unter die neuerdings so weit
ausgedehnte Kategorie des „Unbewußten" stellen, oder mag man bei den
alten Begriffen des Genialen, Ursprünglichen, Unmittelbaren stehen bleiben:
immer wird man in ihr vornehmlich ein Schaffen gegenüber dem Machen
erblicken, auch das wahre Kunstwerk muß aus sich entstanden erscheinen und
durch sich und für sich bestehen, mit einem Wort: es muß gleichfalls naiv
sein und gilt nur so lange für wahrhaft schön, als es eben für naiv gilt.
Hiermit ist aber zugleich die Nothwendigkeit der Einheit seines geistigen Ur
sprungs ausgesprochen oder, um Hegel das Wort zu lassen — denn wozu
sollt' ich mich darauf steifen, was einmal bündig gesagt ist, durchaus in an
derer Wendung wiederzusagen? — „Das wahrhafte Kunstwerk erweist seine
echte Originalität nur dadurch, daß es als die eine eigene Schöpfung eines
Geistes erscheint, der nichts von außen her aufliest und zusammenflickt, son
dern das Ganze im strengen Zusammenhange aus einem Guß in einem Tone
sich durch sich selber produciren läßt, wie die Sache sich in sich selbst zusam
mengeeint hat." Wir brauchen für diese Einheit des geistigen Ursprungs,
welche hernach auch die ganze Existenz des betreffenden Objectes durchherrscht,
gewöhnlich den bildlichen Ausdruck „organisch", und indem wir ihn von den
Organismen der Natur ganz vorzugsweise auf die Production schöner Kunst
übertragen, erkennen wir die Verwandtschaft beider Schöpfungsarten unzwei-