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Noch einmal der Holbeinzwist.
nehmen, wenn er für mißlich hält, sich einem Gebäude anzuvertrauen, dessen
eine Seite mindestens über Nacht den Einsturz droht; allein man bedenke
doch auch, in wie geringer Zeit das Gebäude unserer Kunstwissenschaft auf
geführt worden. Mit solchen Nothbauten haben wohl alle Wissenschaften
begonnen; daß dazu in der ersten Eile auch untüchtige Arbeiter verwandt
werden, ist natürlich, und es bleibt zur Abhilfe dann allerdings nichts übrig,
als sie zu entlassen und ihr Tagewerk wieder abzutragen. Ist aber darum
gleich alles einzureißen, sotten die Woltmann und Genossen, die von tasten
dem Gefühle bis zu verständiger Gewißheit vorgedrungen sind, den Irrthum
ihrer Widersacher entgelten, welche zum Theil auf dem Punkte trügerischer
Empfindung ausharren? Doch nein! Fechner will jene ja vornehmlich nur
ihren eigenen früheren Irrthum, die eigene Unsicherheit entgelten lassen.
Der Theil seiner Polemik, der den Lesern — soweit man herumhört — den
tiefsten Eindruck gemacht, ist der Aufruf des früheren Woltmann gegen den
heutigen. Soll man glauben, daß, was jemand gestern für weiß, heut für
schwarz erklärt, wirklich schwarz sei, bloß weil dies Urtheil das spätere, über
lebende ist? Gewiß nicht, wenn es sich um weiß oder schwarz handelt; ob
aber nicht doch, wo es schön oder nicht schön gilt, das bedarf vielleicht noch
der Untersuchung. Und hierzu gerade möchte ich, so weit es ein Liebhaber
der Wissenschaft wie der Kunst vermag, einen kleinen Beitrag geben. Es
handelt sich dabei zuletzt um die „sonderbare Frage", wie Fechner sie nennt:
„Darf ein Bild aus zweiter Hand gegenüber dem aus erster Hand überhaupt
noch gefallen?" Oder direct auf den vorliegenden Fall angewandt: Hat die
Dresdener Madonna für denjenigen einen Schönheitsverlust erlitten, der von
ihrer Unechtheit überzeugt worden? Zuvor jedoch ist allgemein zu fragen:
In wie weit dürfen die Urtheile über Echtheit und Schönheit einander über
haupt berühren oder gar stützen? Dabei kommt uns nicht bei, nach irgend
einer Seite hin persönliches Interesse zu zeigen. Autoritäten giebt es auch
für uns nicht, sondern Gründe in jedem einzelnen Falle; wer heute Recht
hat, kann darum morgen sich täuschen, nur muß er nicht, weil er sich gestern
getäuscht hat, heute Unrecht haben. Und wie: wenn in der That gestern
richtig war, was heut und morgen falsch wäre? Man kennt das Verfahren
politischer Principienreiter, ihren Gegnern aus alten stenographischen Berich
ten frühere Aeußerungen entgegenzuhalten, denen sie jetzt zuwider sprechen
oder handeln. Die Angefochtenen pflegen dann zu ihrer Entschuldigung auf
die inzwischen veränderte Weltlage hinzuweisen, rvas man mit der Zeitungs
phrase „den Thatsachen Rechnung tragen" nennt. Ist nun, fragen wir, die
— bewiesene oder dafür gehaltene — Unechtheit eines Kunstwerkes eine
Thatsache, welcher der Geschmack Rechnung tragen darf oder vielleicht
gar muß?
Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna. 499
Ungerechtfertigte Associationen der Vorstellungen von Sache und Person,
Schöpfer und Werk erfüllen unser Leben und führen täglich zu den hand
greiflichsten Täuschungen. Wir wünschen, daß ein Ding, das uns gefällt,
von jemandem herrühre, der uns auch sonst zusagt, wir wünschen, von einer
Person, die wir überhaupt schätzen und lieben, nur Handlungen ausgehen zu
sehen, die an sich unseren Beifall finbcn würden. Und was wir wünschen,
glauben wir, bis die Wirklichkeit uns zu unserer Betrübniß mit dem Gegen
theil überrascht. So ist der Historiker arglos beflissen, erfreuliche Erschei-
nuugeu, die in der Zeit seines Helden hervortreten, mehr oder weniger auf
ihn als ihren Urheber zurückzuführen, so sichtet er andererseits die wirkliche
Ueberlieferung über jenen und sucht manchen ungünstigen Zug aus seinem
Bilde wegzulöschen, indem er ihn der Feindseligkeit oder dem Unverstände
des Berichterstatters beimißt. So steigt ganz im Großen den Menschen aus
der Anschauung der Welt in ihrer Erhabenheit und Schönheit die Idee eines
intelligenten Schöpfers dieses Ganzen auf, und hernach sind sie umgekehrt
bemüht, was sich nun doch als Unvollkommenheit oder gar als Uebel auf
drängt, dem höchsten Willen durch irgend welchen Kunstgriff des Beweises
wieder abzusprechen. Nirgends aber ist jenes erstere Bestreben, von anmu-
thenden Eigenschaften des Gegenstandes auf eine bereits anderweit namhafte
Kraft, die ihn hervorgebracht, zu schließen, nirgends ist dies Bestreben, von
dem auch die Geschichte der klassischen Literatur viel zu erzählen hat, so ver-
hängnißvoll wirksam gewesen, als gegenüber Werken der bildenden Kunst.
Denn da diese leibhaftig Objecte für das Verlangen nach Besitz und die
Freude daran zu werden fähig sind, so kommt der harmlosen Selbsttäuschung
des Betrachters berechnender Betrug des eitlen Ausstellers oder des habsüch
tigen Feilbieters entgegen. So hat sich genau wie die Reliquien einzelner
Heiliger die Anzahl der Werke großer Maler in unkritischen Zeiten oft bis
in's Unmögliche vervielfältigt. Was hat nun die Wissenschaft, die von kei
nem Wunsche noch sonst einem practischen Interesse verführt werden darf,
dem gegenüber zu thun? Mich dünkt, man muß da wohl unterscheiden
zwischen beiden Arten der Association: der, die zum gefälligen Kunstwerk
einen beliebten Künstler hinzudenkt, und der, die einem bestimmten Künstler
ein einzelnes Werk deswegen zu- oder abspricht, weil es der Vorstellung eines
gewissen Schönheitsquantums, die man einmal mit seinem Namen verknüpft,
entweder angemessen ist oder nicht.
Geht man zunächst vom Werke aus, so ist die übrigens unbegründete
Annahme eines schon bekannten Meisters dazu nur ein Zeichen der Trägheit
oder des Leichtsinns in der Forschung: statt die verborgene adäquate Ursache
zu einer vor Augen liegenden Wirkung auszuspüren, ernennt man aus der
Zahl bekannter Kräfte kurzweg eine zur Ursache auch dieser Wirkung. So