© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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Noch einmal der Holbeinzwist.
feite Rußland, dessen Griffe in das asiatische Völkergewirr immer kühner
werden. Hier ist ein Feld auch für deutsche Thatkraft. Nach dem Süden
leitete einst das politische Streben unserer Kaiser die Expensionskraft unseres
Volkes, es geschah zu Lande und mit Heereszügen von Rittern und Knappen.
Die Zukunft weist uns und unseren dereinstigen Kaiserregierungen den Weg
nach Ostasien, mit Flotten von Kriegs- und noch mehr von Handels
schiffen, zu friedlichem, civilisatorischem Verkehr mit den Menschendickichten
Chinas und Japans; nach Ostasien, wohin Europa und Amerika mehr und
mehr convergiren, dieses mit seiner Pacificbahn und ihrer maritimen Fort
setzung, der Dampferlinie von San Francisco über Jokohama nach Hong
kong, ersteres mit seinem Suezcanal, der eventuellen Euphratlinie, dem eng-
lisch-ostindischen, dem russisch-sibirischen Telegraphen. Alle diese Friedens
und Kriegswerke tragen den Stempel desselben auf unermeßliche Zukunft
deutenden Jahrzehnts. In ihrem Lichte aber gewinnen die hier besprochenen,
im tiefsten Innern Asiens theils geschehenen, theils sich noch vorbereitenden
Dinge ihren Reiz für die Betrachtung und ihre Bedeutung für die Praxis.
Berlin, im Frühjahr 1871. F. Mart he.
Uoch einmal der Kolbeinzwist.
1. Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna.
Der Holbeinzwist ist geschlichtet. Teuflisch verneinende Kritik hat über
die Dresdener Madonna, die so lange das holde Gretchen aller für deutsche
Schönheit begeisterten Fauste gewesen, ein „Sie ist gerichtet!" ausgerufen
und, wie weit „von oben" auch vereinzelte barmherzige Stimmen ihr „Ist
gerettet!" mögen herabtönen lassen, in dieser irdischen Welt der Wissenschaft
pflegt man solchen Offenbarungen von jenseits nun einmal nicht zu lauschen.
Sollen wir da nicht mitleidig der Sache durch Schweigen den Rest geben,
nicht den Schmerz der guten Elbflorentiner achten, von denen nach mensch
licher Billigkeit Niemand unbefangenen Wahrspruch erwarten durfte? Oder
sollen wir nicht wenigstens als selbstverständlich den Trost gelten lassen, in
Wirklichkeit könnten sie ja nichts verloren haben? Wie — oder wäre nicht
dasselbe, was bisher so schön war, auch künftig noch von gleicher Schönheit?
Wen richten wohl, die heute schmähen, was sie gestern gepriesen? So blin
den Ueberwindern gegenüber wendet sich fast unwillkürlich die Theilnahme
der Zuschauer dem bis an's Ende standhaften Häuflein der Unterliegenden
Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna.
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zu, die — meist, was sicherlich kein Zufall ist, der älteren Generation an
gehörig — des Glaubens leben und sterben wollen, welchen sie von je —
sei's in poetischer Prosa, sei's in prosaischer Poesie — feierlich bekannt haben.
Da stehen sie wie eine Märtyrergruppe im römischen Zwinger, und wenn
auch ihre demüthigen Lobgesänge auf die verhöhnte Himmelsjungfrau im
wilden Gebrüll der beutegierigen Löwen der Kritik verhallen, wird nicht dereinst
in milderen Zeiten die Wahrheit, für die sie leiden, um so lebendiger wieder
auferstehen? Ja wird nicht schon jetzt, wenn denn die siegreiche Sache den
Göttern gefallen hat, dem Cato Fechner die besiegte gefallen?
Doch genug des Scherzes, zu dem, wie man gern einräumen wird, nach
beiden Seiten hin der denkwürdige Streit unbeschadet seines ernsten Gehaltes
überreiche Gelegenheit geboten hat! Daß diese Blätter, nachdem in ihnen
(No. 37, S. 419 ff.) eine Kennerstimme von gutem Klange bereits ihr
wohlbegründetes Votum im Sinne — wie man jetzt sagen darf — der
Mehrheit der Urtheilsberechtigten abgegeben, gleichwohl noch einmal aus ein
Nebeninteresse des Streites zurückweisen, geschieht um des Fechner'schen Buches
willen, das sie gleichfalls schon früher (No. 34, S. 317) „zur Vorbereitung
aus das Studium der Frage" angelegentlich empfohlen haben; denn Fechner
hat dies Nebeninteresse, das seinen eigenen Worten zufolge „leicht das sach
liche der Frage selbst überbieten" könnte, geflissentlich hervorgezogen. Indem
er, wie immer als Meister der Wissenschaft, doch nach seinem bescheidenen
Geständnisse zugleich nur als Liebhaber der Kunst, die Echtheitsfrage historisch
und kritisch beleuchtet, verfolgt er offen den Zweck, die Hinfälligkeit des heu
tigen wissenschaftlichen Kunsturtheils aus den Widersprüchen der Autoritäten
unter einander, ja, was schlagender scheint, der einzelnen mit sich selbst, deut
lich darzuthun. Dabei verhehlt er übrigens keineswegs den eigenen Partei
standpunkt: er ist — oder genauer: war vor der Dresdener Ausstellung —
Utraquist, d. h. genießt und erkennt den wahren Holbein sub utraque, und
in der That hinterläßt seine Schrift dem Unbefangenen den Eindruck, daß
darin mit dem Scharfsinn eines geübten Anwalts alles für die Auchechtheit
des Dresdener Bildes vorgebracht sei, was sich überhaupt in den Grenzen
redlicher Billigkeit irgend dafür vorbringen ließ. Zu seinen wirksamsten
Mitteln gehört dabei, wie bei Vertheidigungen allenthalben üblich, eben die
Erschütterung des Zeugnisses der Gegner. So und so vielen Aussagen da
wider stehen so und so viel andere dafür entgegen! Dies beweist allerdings
in wissenschaftlichen Fragen nicht, daß beide Theile gleich Unrecht haben, kann
vielmehr unter Umständen auch nur besagen, daß in dem gegenwärtigen
schwierigen Streite die eine Hälfte der Fachkundigen vollkommen irrt, die
andere ganz aus richtigem Wege ist. Nun kann man freilich jemandem, der
in den bombenfesten Räumen exakter Naturforschung zu Hause ist, nicht übel
Im neuen Reich. 1871, II. 63