Literarische Rundschau.
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solche der neuesten Zeit hinein, die über das ganze Buch mit reicher Hand aus
gestreut sind. Eine Aesthetik des „Epos" ganz allgemein könnte sich das Werk
sehr gut nennen. Und es war heute noch, nach so viel Kämpfen, so viel Zweifeln
möglich, diese Aesthetik des Epos zu geben an der Hand des Beispiels „Ilias" . . .
Hier steckt das, was die ganze Arbeit, trotz einer relativ sehr vorsichtigen, beinahe
ablenkenden Einleitung, eigentlich von Zeile zu Zeile — zwischen den Zeilen lesen
läßt. Mögen sich die Historiker und Philologen damit auseinandersetzen.
Ich bin oben davon ausgegangen, daß eine große und liebevolle ästhetische
Studie über Homer heute gleichsam eine Dankesschuld abzuzahlen hat inmitten der
stürmischen wissenschaftlichen Kämpfe, die unsere Zeit sich allmälig gewöhnt hat
beinahe allein noch klirren zu hören, wenn das Wort „Homer" ausgesprochen wird.
Mit dem ästhetischen verknüpft sich aber eng auch noch ein ethisches Motiv, von
dem ich ebenfalls finde, daß es vielfach sehr merklich vernachlässigt worden ist und
eigentlich in diesem Buche Herman Grimm's zum ersten Male auch wieder ganz
zu seinem Rechte kommt. Wenn wir uns in noch so viel Streitereien und
Skepticismen darüber einlassen, wie die Homerischen Gesänge in ihrer vorliegenden
Gestalt zu Stande gekommen sind (u. s. w. — der Leser weiß ja, was hier Alles
gemeint ist) so dürfen Wir doch um keinen Preis dabei vergessen, daß diese Dich
tungen (und zwar als Ganzes!) noch eine andere Rolle in unserer Welt spielen,
als die einer literarischen Station im Griechenthum, über die wir diese oder jene
Wahrscheinlichkeit nachzuweisen suchen. „Homer" bezeichnet und erschöpft in sich
einen ethischen Wendepunkt der Menschheit in sehr ähnlicher Weise, wie es in ge
wissem Sinne das Alte Testament, als Totalität gedacht, thut und in noch viel
deutlicherer Weise die Evangelien leisten. Diese ganz großen Bücher der Mensch
heit (denen man gewiß auch Dante und Goethe's Faust anreihen wird) führen,
außer ihrer literarischen und der historischen und philologischen Kritik zugänglichen
Existenz, noch ein ganz besonderes Dasein in der Menschheit, in dem sie ihrem
Wesen nach absolut untheilbar und ein ewiges Ganzes bleiben. Die ethische
Wandlung, die den Jdealgehalt der Homerischen Gesänge ausmacht, haben wir
innerlich, in ihren Folgen, alle in uns, in unserem ganzen Fühlen und Handeln,
genau so wie die, deren sichtbarer Merkstein etwa die Evangelien sind — auch
ohne Buch und Lied, die uns direct davon berichten. Aber wenn wir uns stärken
wollen durch unmittelbare Anlehnung an das Frühere und seine Stufen, wenn wir
vorwärts bauen wollen, indem wir uns noch einmal den tiefsten Nerv des Ver
gangenen möglichst scharf vergegenwärtigen, so greifen wir zu einer kleinen Reihe
von solchen Universalbüchern, in denen der Mensch aus Momente in begnadeter
Weise Menschheit gewesen ist — und ein solches Buch ist auch „Homer". Aus
der Tiefe dieses Empfindens, dieses Bedürfnisses heraus wird auch der Aufgeklärte
immer wieder der Erste sein, um einzugestehen, daß keine noch so raffinirte Evan
gelienkritik uns jemals hemmen wird, im rechten Moment das Neue Testament als
eine Einheit zu begreifen und für unsere Wünsche zu verwerthen. Und aus der
selben Tiefe wird Homer eine ethische Einheit bleiben über alle philologische Kritik
hinaus. Ich finde nun, daß über diese Dinge, die in der Empfindung thatsächlich
überall noch fortbestehen (denn Tausende von Menschen erbauen sich sactisch heute
noch aller Orten an Homer wie an der Bibel), in der Theorie und allgemeinen
Erörterung bei uns viel Unsicherheit und Vernachlässigung eingerisfen ist. Wie
selten hat man dieses Argument in dem „Kampf um die Schule" gehört!
Freilich ist es ja auch kein strenges Argument für den „griechischen Unterricht",
denn man könnte sonst mit einem gewissen Recht diesen auch für die Kenntniß der
Evangelien als absolute Voraussetzung fordern, was kein Einsichtiger mehr versuchen
wird. Für Homer speciell und seinen Werth auch in Uebersetzungen spricht Grimm
in seinem Buche hier goldene, tief zu beherzigende Worte! Aber davon ab
gesehen — im Ganzen ist sein Werk das erste wieder, in dessen kunstvoller Analyse
auch jener ethische Gehalt Homer's mit voller Macht gleichsam „theoretisch"