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470 Deutsche Rundschau.
dem Druck gegenüber. Hier hat nun Grimm einen feinen und glücklichen Ausweg
gefunden. Er übersetzt in einer rhythmisch gefärbten Sprache, die scheinbar und in
einer für das verbuchende Auge äußerlich genügenden Weife in Verszeilen abgedruckt
werden kann, die aber — und hier steckt das sinnige Geheimniß der Vermittlungs
form — in Wirklichkeit nur dann melodischen Fluß zeigt, wenn man sie vom ersten
Wort an als volle Prosa (mit dem vollen Wortaccent) zu lesen beginnt. Grimm
nennt diese reichlich eingestreuten directen Citate „keine Uebersetzungen, sondern nur
einen kahlen Auszug der betreffenden Verse mit Fortfall dessen, was nicht durchaus
nothwendig ist". So liest man zwar in einer Anmerkung bei dem Autor selbst —
aber ich glaube, daß der Leser hier ein kleines Recht besitzt, den Autor der Citate
gegen den Autor der allzu bescheidenen Anmerkung in Schutz zu nehmen. Gewiß
sind diese freien Zeilen nur eine Uebersetzung mit Einschränkungen im Sinne des
oben Gesagten. Sie sind es sogar noch mehr, da die stereotypen Schmückwörter
vielfach fortgelassen, die Constructionen vereinfacht, kurz in Allem und Jedem alle
uns irgendwie heute störenden Arabesken, bis hart an die Jnhaltsgrenze heran,
einfach weggeschnitten sind. Aber das hat auf der anderen Seite nicht verhindert,
daß als deutsche und nur deutsche Sätze diese Zeilen bei Grimm an sich einen
Wohlklang empfangen haben, der das feinste und sicherste dichterische Gefühl verräth
und uns durch einen Kunstgriff in des Wortes veredeltster Bedeutung keinen
Augenblick aus der Empfindung fallen läßt, daß wir Citate aus einem Text hören,
der im Original auch durch die weihevollste Versfprache entzückte.
Es ließe sich darüber reden, ob es nicht rathsam gewesen wäre, den ganzen
Text in dieser anziehenden Umschreibung zu geben. So wie die Dinge jetzt liegen,
ist allerdings wieder etwas Besonderes erreicht worden, das auch feinen Reiz hat.
Die Ilias erscheint nämlich auf engem Raum in ihrem höchsten Glanze, indem eine
Auswahl durchweg hochbcdeutender Stellen durch die wörtliche Uebertragung hervor
gehoben und aneinander gereiht sind; in ihnen selbst ist eine Menge belanglosen
Rankenwerks beseitigt, so daß der Glanz des Echten und Bleibenden verstärkt
leuchtet; die Längen des Gesammttextes aber und die bisweilen unverkennbar hervor
tretenden Beschädigungen und F-lickwerkeinfätze sind zwar im Commentar gebührend
behandelt, treten aber, da die Citate sie meist nicht geben, ganz anders in den
Hintergrund als bei der Lectüre einer vollständigen Textüberfetzung. Es liegt zum
Theil hier, zum Theil allerdings auch in der ungemein geschickten Art, wie der
Eommentar die Handlungsfüden krystallklar sondert und durchsichtig macht, der
Grund für eine Erfahrung, die wohl Jeder bei Grimm's Buch machen wird:
die Ilias, deren Inhalt doch uns allen mehr oder minder genau vertrautes
Material enthalten sollte, liest sich hier so fesselnd wie eine geradezu raffinirte
Romanhandlung. Darüber ist schlechterdings kein Zweifel, daß wir so geschlossene,
in prächtiger Steigerung vor uns aufwachsende Charaktergestalten, wie sie Grimm
uns hier aus Homer heraus krystallisirt, bisher in der gesammten Homer-Literatur
auch nicht annähernd besessen haben. Gewisse Charakterbilder gibt ja die Ilias
Jedem mit, der sie auch nur einmal und flüchtig im Leben gelesen hat. Wer von
uns trägt nicht den Umriß etwa der Andromache und, scharf davon gesondert, den
der Helena in sich? Aber man erstaunt doch wie vor etwas Neuem, wenn man
die Menge kleiner Züge sieht, die in der Dichtung aufs Sorgfältigste nach einander
vorgebracht werden, um schließlich als Gesammtresultat jenes Allgemeinbild entstehen
zu lassen, das selbst in dem eiligen Beschauer mit so zähen, unveränderlichen Linien
haftet. Und ein Theil der Bewunderung geht dabei über auf den Mann der feinen
Analyse, der uns dieses ganze Geheimnetz des Dichters, mit dem wir gefangen
wurden, ohne die Maschen eigentlich zu sehen, so folgesicher Masche für Masche
aufdeckt. Hier ist nicht nur etwas Hochbedeutsames für die einzelne Ilias gethan,
sondern die Leistung greift weit hinaus in das große Gebiet dichterischen Schaffens
überhaupt. Das kündigt sich auch äußerlich im Text an durch die Fülle der
Excurse, der treffenden Bemerkungen über andere Dichter und Dichtungen bis in