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4. April. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1896. Nr. 14.
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in wiederholter und bei der Schilderung von
Hektors Tod ganz ausführlicher Erörterung der
Ilias gegenüber gestellt; und schliesslich noch das
Verhältniss von Goethe’s Achilleis zu ihr eben
falls eingehend behandelt (vgl. »Goethe« 2.A. 396.
Scherer, Litteraturgeschichte 576). Unter den
modernen Übersetzungen wird besonders die
vossische auf ihre Vorzüge wie auf ihre Mängel
angesehen (vgl. bes. S. 146 ff.) —
Im Zusammenhang des überlieferten Textes
findet auch Herman Grimm von seinem Stand
punkt aus oft Lücken und dann wieder Inter
polationen, die sich natürlich nur iheilweise mit
dem decken, was die philologisch-kritische Analyse
konstatiren zu können glaubt. Uebereinstimmt
er mit dieser vor Allem über die weitgehende
Verwirrung der Gesänge in der Mitte des Ge
dichts. Um gleich zu erwähnen, was sonst Philo
logen und Kulturhistorikern anstössig sein muss:
er hält an der Tradition von der ersten kanoni
schen Redaktion der Gedichte unter Pisistratus
fest, und er rechnet mit der Möglichkeit einer
schriftlichen Konzeption des Dichters selber. Das
Zweite würde nun eigentlich noch eine besondere
Erklärung des ersten Vorganges verlangen; beides
aber ist für den Kern seiner Auffassung von der
Entstehung der Ilias nicht von wesentlicher Be
deutung (vgl. bes. I 242).
Noch ein Wort von seinen eignen metrischen
Übersetzungen. Bekanntlich hat er hier, von
einigen wenigen andersartigen Versuchen abge
sehen, die Hexameter des Originals um einen
Fuss gekürzt; und man fühlt bald, wie sehr viel
besser dieser kürzere, übrigens ganz frei be
handelte, daktylische Vers sich seiner künstleri
schen Absicht fügt als der Hexameter, der im
Deutschen den gemessen würdigen Gang nie ganz
verliert. Diese Absicht ist eine doppelte: ein
mal, nur die Hauptlinien der Darstellung des
Originals zu geben; als Beispiel, zugleich seiner
schon an der Paraphrase hervorgehobenen Kunst
der grössten Wirkung mit den einfachsten Mitteln,
diene die Uebertragung von 4 Versen der Odyssee
( 1 9» 3 1 34) :
Und sie trugen die Helme und Schilde hinweg,
Und die Lanzen; doch mit der goldenen Lampe
Vor ihnen gehend leuchtete Pallas Athene.
(S. 180.)
Zweitens aber verfährt er dann doch, trotz
dieser Vereinfachung, künstlerisch interpretirend
(wie er das auch sonst schon, besonders bei
Uebersetzungen aus Dante, gethan), sucht den
»aus dem blossen Inhalt der Reden heraus
klingenden familiären Accent der Sprache« (I, 166)
zu ahnen und wiederzugeben; denn wie wenig
Sicheres, Beweisbares über den künstlerischen
Werth homerischer Worte und Wendungen heute
zu ermitteln ist, kann einem solchen Kenner
moderner Sprachen und Litteraturen keinen
Augenblick zweifelhaft sein. Besonders in der
Uebertragung der Götterscenen tritt diese Seite
seiner Uebersetzung hervor. Sie ist natürlich
voreiligen Missdeutungen und dem Vorwurf der
Subjektivität am leichtesten ausgesetzt. Man
sollte doch bedenken, dass Subjektivität auch eine
und nicht die letzte Bedingung ist, um aesthetisch
tiefe und fruchtbare Anregung empfangen zu
können (Goethe, Sprüche in Prosa, Löp. Nr. 248).
Gr., obwohl er gelegentlich davon spricht, dass
»die Sprache Homers ihrer Zeit vielleicht eine
künstliche gewesen ist« (S. 146), sieht sie zu
gleich als ein Material an, mit dem der Dichter ur
sprünglich durchaus intime künstlerische Wirkungen
zu erzielen gesucht und auch erzielt habe. Er hält
die von der Philologie festgestellte Mischung aus
verschiedenen Dialekten, altem und neuem Sprach-
stoff offenbar für kein Hinderniss; und dafür
liessen sich wohl moderne Analogien anführen.
Von Gr.’s eigner sprachlicher Kunst zu reden,
wäre überflüssig, wenn sie nicht in diesem Buche
wieder ganz besonders reich und frei sich er
ginge. Vor Allem mit den malerischen und musi
kalischen Elementen sprachlicher Darstellung, der
feinen Perspektive und dem leisen Verklingen von
Vorstellungen und Gedanken arbeitet er mit einer
heutzutage von Keinem sonst geübten Meisterschaft,
während Treitschke unerreicht an plastischer
Rundung und Kraft und Wucht des Ausdrucks
und in der wundervollen Rhythmik des Perioden
baus an erster Stelle neben ihm steht: Gegen
satz und Ergänzung, wie sie sich auch sonst in
unserer Litteratur gleichzeitig in grossen Schrift
stellern verkörpert haben. Scherer hatte für
diese künstlerischen Qualitäten in Herman Grimms
Schriften die lebhafteste Empfindung. Auch
Anderen werden die Worte unvergesslich sein,
mit denen er in seinen Vorlesungen Grimms
Goethe-Buch einführte: »In hinreissender Sprache
geschrieben« nannte er es, einen grossen Hymnus
auf Goethe. Jetzt stellt Herman Grimm diesem
Goethe-Hymnus den auf Homer zur Seite, den zu
schreiben seit seiner Jugend sein immer wieder
kehrender Wunsch war (S. 385): wird er unter
den Homer-Philologen einen ebenso geist- und
temperamentvollen Anhänger finden, den, was
ihm im Einzelnen anstössig sein mag, nicht hindert,
die glänzenden Vorzüge des Ganzen laut und
freudig anzuerkennen? Der aesthetisch so viel
seitig angeregte Karl Lehrs, der sich mit Grimms
Auffassung oft überraschend eng berührt, der eben
falls Beethoven und Goethe’s Faust zu Hilfe nahm,
um sich die Ilias ganz nahe zu bringen (vgl. seine
»Homerischen Blätter« im Anhang von Kammer
»Die Einheit der Odyssee«), der wäre wohl am
ehesten der Mann dazu gewesen.
Charlottenburg. Max Cornicelius.
J. Klasen, De Aeschyli et Sophoclis ennuntia-
torum relativorum usu. (Capita Selecta.) Tübinger