© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm N
aus: Hamburger Nachrichten,1900,Jun*20
Kleine Mittheilungen.
..r.» Die unübersehbare Homerische Literatur hat
Vor Kurzem einen außerordentlichen interessanten
Zuwachs durch ein Werk Herman Grimms er
halten, welches unter dem Titel Homor. AttaS.
Erster bis neunter Gesang rm Verlage von
Wilhelm Hertz in Berlin erschienen ist. Seinen
Standpunkt spricht der Verfasser auf S. 171 in den
Worten auSr »Möglich wäre, daß ich auS Homer-
Versen zu viel heraushöre. Verleiten durfte mich
aber dazu, daß uns, je weiter wir in den Gesängen
der JliaS vorschreiten, von immer mehr Seiten di»
i Beweise dafür zukommen, der Dichter habe die un
geheure Anordnung der JliaS in allen Nuancen, etwa j
wie bei einer colossalen Oper der Componist sämmt
liche Orchesterstimmen, einzeln gleichmäßig in der
Stirn getragen. Gewisse Motive kündigen sich erst
ganz leise an, bis sie dominiren."
Diese Worte, in welchen sich Grimm als Ver
theidiger deS Glaubens an einen Homer bekennt,
stehen am Ende einer längeren Besprechung des fünften
Gesanges der Jliade und sind insofern charak
teristisch für die Auffassung, welche diesen Be-
trachtungen zu Grunde liegt, als der berühmte,
Paphlagonierkönig Pylaemenes nicht erwähnt wird,
den Menelaos im fünften Buche erschlägt und der im
dreizehuten Buche weinend hinter der Leiche seines
SohneS hergeht — eine Vergeßlichkeit, die man!
einem Dichter wie der eine Homer wäre, niemals
zuirauen kann und die nur ein Engländer (ober *
genauer Schotte) mit dem Hinweis auf den viel-,
schreibenden Walter Scott entschuldigen konnte, der,
allerdings in der Eile einmal die Sonne an ber;
Westküste Schottlands untergehen läßt. Indeß ^
braucht man den Standpunkt des Verfassers nicht zu
theilen und kann trotzdem seinen Ausführungen mit
lebhaftem Interesse folgen, da dieselben im Wesent-,
lichen die einzelnen Scenen erläutern, die tieferen .
Beweggründe der Handelnden erforschen, einen
ursächlichen Zusammenhang da nachweisen, wo sich
der Dichter theils auf kurze objective Darlegung de-
Thatsächlichen beschränkt, theil- seine Helden einfach '
handeln läßt, ohne ihre Motive zu entwickeln.
Freilich wird man manchmal nicht der Ansicht des,
Verfassers sein. So heißt es in Bezug auf die Scene
zwischen Achill und Agamemnon, vor welcher die,
Zlia- ihren Ausgang nimmt, S.6: „Nicht die beiden,
Söhne des AtreuS, für die der Krieg vor Troja doch
geführt wird, sondern Achill jammert eS, die-
„Sterben" (in Folge der von Apollon gesandten Pest),
mit ansehen zu müssen, das neun Tage nun schon
dauert. ZeuS Gemahlin, die lilienarmige Here, hat
Achill das Herz erweicht. Er, inmitten der von ihm
berufenen Versammlung, tritt auf Agamemnon zu
und letzt ihn zur Rede. . . . Al- der König
schweigt, fordert Achill KalchaS . . . auf, auszu
sprechen, wodurch der Zorn der Götter erregt worden
sei. Wiederum hat Agamemnon nichts zu sagen und
auf Achill's Geheiß erhebt sich KalchaS.
Der Conflict ist da. KalchaS bekennt, er halte
sich für hinreichend geschätzt vor Agamemnon,
wenn nur Achill für ihn eintrete . . . KalchaS ent»
büllt die Ursache der Pest. Er fordert den König
auf, die Chryseis herauszugeben. Agamrmnon'S Her,
kocht über. schwarze Galle erfüllt ihn (wörtlich: er stano
betrübt auf) und es schießt ihm wie Blitze auS den
Augen (wörtlich: feine Augen glichen flammendem
Feuer)". Hier läßt der Dichter, wie so häufig, den
Hintergrund der Begebenheiten nur errathen. Aga
memnon ärgert sich natürlich darüber, daß er sein
Beutestück herausgeben soll, aber noch sehr viel mehr
ärgert eS ihn, daß es ihm Achilles nach. vorheriger
Verabredung mit KalchaS abverlangt. Der Vater des
Mädchens hatte die versammelten Achäerfürsten ange
fleht, ihm die Tochter wiederzugeben und mit dem
Zorne deS GotteS, dem er als Priester diente, des
Apollon, gedroht. Alle hatten gerathen, das Mädchen
herauszugeben, nur Agamemnon hatte sich geweigert,
und den fürstlichen Priester mit harten Worten
fortgejagt. Der Priesterköuig ging vor den Augen
der Griechen an den Meeresstrand und flehte zum
Apollon um Bestrafung der Griechen. Nun befällt
die Pest, deren Gott Apollon ist, da- Griechenlager:
eS weiß also jeder Grieche, daß die Weigerung dem
Chryses gegenüber Ursache des Unglücks ist. Aber
Keiner wagt dem Agamemnon ein Wort zu sagen,
nur Achill beruft die Versammlung, verspricht dem
Seher seinen Schutz und befragt ihn. ES ist also
von vornherein klar, daß Agamemnon schon beleidigk
ist, ehe Achill oder KalchaS auch nur den Mund a«f4
thun, und daß er ganz genau weiß, waS von ihm
verlangt wird und verlangt werden muß.
Der Druck des in jeder Beziehung glänzend anS
gestatteten Buches ist außerordentlich correct; nu
S. 7 steht KlyH/mnestra statt KlhLaemnestra
S. 244 coelo statt caelo und S. 245 Forreste sta
Foreste.