Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 39
Herman Grimm über Homer.
II.
Wie hoch man auch die dichterische Kraft Homer's schätzen,
>wie unabhängig man sie auch von allen Voraussetzungen, durch
fMe sie der griechische Volksgeist und die allgemeinen Zustände
r einschränkten, betrachten mag: in der Götterwelt der Ilias und
I der Odyssee hat man, nach meinem Gefühl, den greifbaren
l Beweis ihres Zusammenhanges mit den Vorstellungen und Au-
schaumigen, die sich in Jahrhunderten irr der Seele der Hellenen
j gebildet hatten. Diese Götter und die Burg des Olympos waren
-> nicht das Eigenthum Homer's, sie gehörten einem Gesammtbcwußt-
sein an. gerade wie die christliche Mythenbildung aus dem Gemüth
* und der Phantasie der christlichen Gemeinden entsprang und
nicht das Werk des Matthäus, Marcus und Lukas ist. Der
moderne Leser steht diesen Dingen, dem ewig heiteren, leicht
sinnigen spielerischen Treiben der Unsterblichen, ihrer Unwür
digkett auf der einen und ihrer Erhabenheit auf der anderen
Seite etwa in der Stimmung Grimm's gegenüber. Aber für
die Griechen mußte in dem allen ein anderer Sinn liegen. In
Lucian's „Göttergesprächen" tritt das ironische, parodistischc
Element, das wir jetzt auf dem Grunde der Homerischen
Schilderung zu gewahren wähnen, unverhüllt', mit bewußter Ab
sicht gegen den Volksglauben, seine Thorheit und Ungereimtheit
hervor. Allein tausend Jahre vorjenemSophisteuumgabdenOlymp
eine heilige Wolke, ein Schauer strömte von ihm aus, der uns
nicht mehr über das Herz läuft. Mit Staunen, vielleicht mit
Schrecken würde Homer den Eindruck bemerken, den seine
Götter auf uns machen. Daß wir in ihnen nichts als eine
künstliche Maschine sehen, das Unberechenbare und Unbewußte
.in den Handlungen der Menschen, das Wunderliche in den Ver
wicklungen des Zufalls gleichsam leibhaftig darzustellen.
Was uns an diesen Göttermärchen ergötzt und entzückt, ist
im Einzelnen die bewunderungswürdige Anschaulichkeit, mit der
uns die Gestalten und Vorfälle entgegentreten, und im Ganzen
die ungetrübte Heiterkeit, der Sonnenglauz, der über Allem
schwebt. In ihm erscheinen selbst die'tragischen Geschicke der
Menschen wie goldumsäuinte, purpurne Abendwolken. „In der
Ilias", sagt Herman Grimm, „mildert die bunte, reuelose un
sterbliche Götterwirthschaft, -was unten Trübes, Reuevolles und
Todbringendes sich ereignet. Diese Göttermärchen lassen
uns nie das Gefühl verlieren, doch nur mit dem Werke
eines Dichters zu thun zu haben, der sich über die
Schwere der irdischen Schicksale zu heben sncht." Er findet
hierin die „tiefgehende Verschiedenheit, die die Ilias von den
Nibelungen trennt". Ueber den griechischen Helden wölbt sich
ein sonniger freundlicher Himmel, während in unserm Helden-
mnTovtfi-fc»
gedicht „unbewohntes trübes Gewölk den Helden und ihren
Frauen fast bis auf den Scheitel herabhängt und Nebel und
winterliche Einsamkeit die Luft erfüllt, die sie athmen." Nur
daß dieser Gegensatz nicht aus der verschiedenartigen Indivi
dualität der Dichter der Ilias und der Nibelungen, sondern aus
dem Gegensatz des griechischen und des deutschen Himmels, aus
dem Gegensatz der beiden Volkscharaktere entspringt. Das lebendige
Ehr- und Pflichtgefühl der deutschen Helden, das die Nibelungen
als Axe bewegt, fehlt den Griechen wie ihren Göttern. Helena
entpfindet wohl stoßweise eine Sehnsucht nach ihren Verwandten,
nach ihrem ersten Gatten, nach ihrem Hause in Sparta, aber
keine Reue über ihren Ehebruch und ihre Flucht. Ein Rache
gefühl über erlittene Kränkung wie in Bruuhild, ein tödtlicher
Haß wie in Chrieinhild gegen Günther und Hagen, die ihr
Siegfried erschlagen haben, steigt weder in Helena's noch in
Audromache's Brust empor. Daß er seine Pflicht gegen die
Gesammtheit in schmählichster Weise verletzt, wenn er sich thatlos
vom Kampfe fernhält und nur seines Grolles und des ihin zu
fügten Schimpfes gedenkt, bewegt die Seele des Achilles nicht.
Wir sind es, die ihm daraus die tragische Schuld herleiten. In
der Ilias ist sein früher Tod Vorherbestimmung. Nicht eine
Folge seiner Verschuldung und seines Uebermnths, sondern
ein Beschluß des Schicksals. Darum treibt ihn zuletzt
auch nicht die allgemeine Noth und der drohende Unter
gang der Griechen in die Schlacht zurück. Der Fall
seines Freundes ruft ihn zur Rache auf. Ein wahrhaftes,
ernstes Pflichtgefühl kennt von allen Helden der Ilias Hektor
allein. Die Vertheidigung Troja's ist sein Amt und seine
! Sorge. Er weiß, daß er im Kampfe fallen, daß die Stadt
! untergehen wird, aber diese Ueberzeugung, sich umsonst zu
l opfern, wie sehr sie, wenn er aus sein Weib und seinen
'unmündigen Sobn blickt, seinen Sinn umdüstern mag, entzieht
! ihn nicht einen Augenblick seiner Ausgabe. Hier suche ich einen
per Gründe, warum uns Modernen die Trojaner um so viel
näher stehen als die Griechen. Ueber der Treue der Androinache
als Gattin und als Mutter, über Hektor's männlicher Pflicht
erfüllung, die wie der kategorische Imperativ über ihn mächtig
ist, vergessen wir Paris' Leichtsinn und Verbrechen. Der Raub
Helena's wird durch diese Tugenden, denen die Griechen nichts
Gleichartiges entgegenzusetzen haben, in unseren Augen ausgewogen.
Ebenso feinfühlig wie geschickt versteht es Grimm in der
Darstellung der ersten neun Gesänge der Ilias das hervorzu
heben, was uns in ihnen menschlich und wahlverwandt berührt,
und das zu übergehen, was uns in diesen Schilderungen immer
fremd bleiben wird. Von dem menschlich Schönen und Er
greifenden ist. nach meiner Ansicht, nur die Begegnung zwischen
Diomedes und Glaukos im Anfang des sechsten Gesanges bei
Grimm ein wenig zu kurz gekommen. 'Diese Erzählung unterbricht
ich I bi- p,' vor uns ausbreitet, wendet er unsere Phantasie auf den
die Mord- uttd Kampfscenen' so "anlMhend, sie hat einen so
ritterlichen Klaitg, daß sie mir immer neben deut Abschied st"
Hektor's von Andromache als eine der schönsten Offettbarungen us
edler Menschlichkeit in der Ilias erschienen ist. Und hier ist
der Punkt, wo ich meine Ketzerei offen bekennen will. Ein ffe
guter Theil der Ilias ist den Massenmorden gewidmet. Namen uitd st.
noch einmal Namen werden genannt. Wunden über Wunden, die 'er
eine gräßlicher als die andere, werden beschrieben. Grimm hebt as
beinahe rühmend hervor, daß keine derselben der andern gleiche, en
aber wenn dies für Homer's chirurgische und anatomische ist
Kenntnisse zeugt, spricht es doch auch für die Grausamkeit derer, uf
die diese Gelänge zuerst vernahmen, für ihre Freude am Blut- ist
vergießen. Wie die Wikinger sich in Wirklichkeit und in ihren es
Liedern in Blut badeten, so die griechischen Helden. Homer 8
kaun sich nicht im Morden, Dattte nicht im Strafen gettttg
thun. Vergeblich sucht man diese Seiten ihrer Gedichte, das )*,
Gladiatorenmäßige hier, das Henkerhafte dort, zu verschleiern, es
Viele Kampfbeschreibungen der Ilias rufen mir kein anderes na
.Bild als das einer Schlachtbank hervor. Die Umständlichkeit, !e-
tnit der die Verwundnugen geschildert werden, erhöht noch den en
Eindruck des Gräßlichen und Widerlichen. Ariosto erschlägt 'N,
mindestens eben so viele Heldeit, wie Honter, aber er macht sich ich
über diese Märchenschlachten zwischen Christen uttd Mohatne-
danern lustig, er bläst Puppen um, während Homer sein Geschäft en,
ernsthaft betreibt. Möglich, daß der eine und der andere Leser ug
daran sein Gefallen findet, ntich stößt es ab. Es widerspricht zu
sehr unsern Sitten und Empfindungen, die furchtbare Noth- lge
Wendigkeit des Krieges in einen Sport blnttrunkeuer Fechter ns.
verwattdelt zu sehen. Homer freilich und Dante sonnten nicht 'ier
anders, als aus dem Geist und Sinn ihrer Zeitgenossen heraus der
dichten und schaffen. So viele grausame Folterungen und ul-
Hinrichtungen hatte der Florentiner mit angesehen, daß er den der
Ort der höchsten Qual mit ihnen ausfüllen mußte; Honter en,
seinerseits lebte in einem kriegerischen Zeitalter, in der Halle ind
der Fürsten, die eben von einem Seeränberzuge, von einer .3*
verbrannten Stadt an der kleiüasiatischeu Küste heimkehrten. )ie
wurden seine Lieder beim Siegesfeste gesungen. Womit ms,
hätte er diese Männer unterhalten sollen, als mit de
Mord- und Brand - Geschichten ? Wie anders ist unsere
Gesinnung, unser bürgerlicher und gesellschaftlicher Zu
stand! Sehr wahrscheinlich ist Grimin's Behauptung, daß
die ersten Hörer des sogenannten Schiffskatalogs, der Auf
zählung der hellenischen Streitmacht, die vor Troja lagert, ain
Ausgang beö zweiten Buches der Jliade, dieselbe Freude
empfanden, wie sie unsere Soldaten und die Männer, die an
den Schlachten von Wörth und Sedan theilgenommen, empfinden,
wenn in den Geschichten des Feldzuges die Nummer ihres Re
giments genannt wird. Aber diese Beschreibung war uuaus-