© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 39
aus : Das Magazin für Literatur, 1890,^.6
Litterarische Neuigkeiten.
Hermann Grimms Homer. (Berlin, W. Hertz 1890.) Wer
wissen will, aus welcher stolzen Höhe die vielgescholtene
Philologie unserer Universitäten zur Zeit ihr Ideal der Sagen- und
Litteraturgeschichte sucht, der lese Ulrichs v. Wilamowitz Einleitung
in den euripideischen Herakles. Wer unbekümmert um die Kritik
der Wolf und Lachmann ästhetischen Homergenuß begehrt, kann
keinen freieren Geleitsmann finden als Grimm, der vorerst Ilias
Buch 1—9 wie ein mitdenkender und mitdichtender Leser entrollt und
an das Resumö oder eine in kürzeren Versen gegebene Uebertragung
mit dem beliebten „Bemerken wir", wie int Kreise gleichgestimmter
Homerfreunde, seine Betrachtung anknüpft. Der ironisch bescheidene
Hinweis auf jenen schweizerischen Leineweber und Shakespeare-
schwärmer Ulrich Vräcker, d. h. die Erklärung, es gelte hier einem
Zeugnis nicht der zünftigen „Methode", sondern der auferbauenden
Liebe, hat, so viel ich sehe, manche Beurteiler nicht von falschen Maß
stäben und Forderungen abgehalten. Grimiu erlaubt sich Wider
sprüche, wie sie dem Liebhaber im Verlaufe langjähriger Betrachtung
begegnen: so ist ihm Homer einmal ein Grieche, dann wieder ein
Trojaner, und was eigentlich seine Meinung über die Redaktion der
Ilias sei, tritt nicht klar zu Tage. Um so klarer und mit all
gemeiner Bedeutung das Streben, im Bau der Handlung nnd in
der Anlage der Gestalten, eine bewußte Erfüllung künstlerischer Ge
setze, die zu Goethe und Dickens stimmen, darzutun oder durch ein
höchst unbefangenes Gemälde des homerischen Olymps den Wahn
vom naiven, urvolksmäßigcn Alter dieser Götterwelt zu beseitigen.
Und es zeigte sich, daß zu derselben Zeit die historisch-philosophische
Wissenschaft aus ähnliche Ziele lossteuerte; auch die beherzte Zer
legung in Einzellieder scheint immer mehr von der Tagesordnung
zu schwinden. Die Frage, ob in einem aus trennbaren Einzelliedcrn
zusammengeschweißten Epos, ohne einen sinnenden Werkmeister, son
dern kraft der Sageneinhcit der Rhapsoden, ein solches Wachstum
der Charaktere und eine so überaus feine Berechnung der Motive
möglich wäre, wie sie Grimm nachweist, ist von der höheren Kritik,
sei es des Homer, sei es der Nibelungen, sei es des finnischen Epos,
noch nie nachdrücklich und weitsichtig genug gestellt worden. Mögen
Wunderlichkeiten gleich der Lobpreisung des sogenannten Schiffs
kataloges, überfeine Filiatiouen, kühne Rekonstruktionen, die übrigens
als Phantasien bezeichnet sind, unterlaufen, so haben wir doch
nirgend eine so künstlerische Analyse, wie die hier für die Exposition
der Ilias gebotene. Dieselben großen Ausblicke begleiten die Helena
vom Berge zum Berge, von Homer zu Goethe, den Achill, die
wunderbar koutrastirten Brüder Hektar und Paris (die Prägung
„Pech-Paris" tadeln wir nicht als unerlaubt vulgär, sondern
als philologisch anfechtbare Wiedergabe des griechischen Scheltnamens).
Die dichterischen Stufen des Verhältnisses von Hcktor zu Helena, von
Hektar und Andromache—auch in Hinsicht auf bildende Kunst— sind nie
mals so empfunden und in heller Interpretation ausgeschöpft worden.
Wie ist Thersites als der keineswegs ohnmächtige Raisonneur an-
geschautl Wie dient dem greisen Nestor der Vergleich mit der
Beredsamkeit eines Polonius oder eines Alterspräsidenten! Die
Folge dieser Analyse und Vergegenwärtigung läßt hoffentlich nicht
lange auf sich warten, und vielleicht ist Grimm geneigt, später auch
ein burgnndisch-hunnisches Revier abzuschreiten.
Erich Schmidt.