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Die Nation.
Nr. 37.
n politischen Dingen über das persönliche Gefühl zu er
geben." In Anerkennung des Rechtes der Individualität
steuert Homer auf einen Abschluß der Schicksale im Sinne
menschlicher Freiheit zu, anerkennt, daß der Mensch auch
gegen das Schicksal handeln könnte.
Das Gedicht zerlegt Grimm in drei Theile zu je acht
Gesängen. Der erste hat die Aufgabe, uns mit den Schau
plätzen und Mitspielender! bekannt zu rnachen, das nach
vielen Seiten sich zersplitternde Interesse fest zusammen zu
halten, das Kommende anzudeuten. Wie dies geschieht,
führt Grimm in der Einzelbetrachtung der Gesänge aus.
Achill ist die Hauptperson; auch wo er nicht auftritt, werden
wir an ihn erinnert. Im ersten Theile wird er beleidigt,
im zweiten erstarrt er in Hochmuth, das ist die Schuld, für
die er im dritten sühnen muß. Ihn voller zu kennzeichnen,
hat Grimm den neunten Gesang noch zu diesem Bande
feiner Darstellung Horner's hinzugezogen. Mit gleicher
Liebe wie den Haupthelden hat Homer auch Hektar ge
schildert; aber er deutet uns doch an (wenn er uns auch
zum Beklagen seines Unterganges leitet), wie wir den Achill's
bedauern würden, daß die Troer in ihm unterliegen müssen:
er läßt Hektar selbst durch das Erschlagen des Patroklus den
Wiedereintritt seines einzigen überlegenen Gegners, Achill's,
veranlassen. Um diese Vorkämpfer herum stehen allerlei ab
gestufte Personen, Agamemnon der König, Diomedes der
Soldat, Paris der Kunstfreund u. s. w. Mit besonderer
Liebe zeichnet Grimm Helena und Andromache: jene von
ihrer Schuld gedrückt, doch gegen ihren Willen den Ver
hältnissen sügsani Unterthan, diese aktiv im öffentlichen und
privaten Leben, als Fürstentochter erfahren selbst in kriege
rischen Dingen, die Verkörperung des Ewig-Weiblichen. Für
diese Gestalten zieht Grimm auch die übrigen Gesänge zur
Ergänzung der Bilder heran.
All dies Heldenwesen ist idealisirt. Grimm macht dies
spüren, indem er die an Aesop und Morolf ihn erinnernde
Figur des Volksmannes Thersites daneben hält. Man muß
das im Einzelnen leien, wie stark oder wie fein Grimm die
zahlreichen Personen Homer's von einander abgehoben zeigt.
Besonderes Interesse hat noch seine Betrachtung der
Götterwelt.
So menschlich wahr uns trotz mancher Idealisirung
die Helden erscheinen, so fremdartig sind die Götter. Horner
erfand etwas, das völlig anders wirkte als _ das Verhalten
der Sterblichen. Im Verkehr mit den Menschen erscheinen
die Olympier märchenhaft großartig, übermenschlich, ma
jestätisch, unnahbar; unter sich aber benehmen sie sich in
Gedanken und Sprache kleinlich und würdelos, so daß sie
unter den Fürsten und Helden stehen: denn diese wahren
ihre Würde stets, jene halten ihren frivolen Leichtsinn nicht
zurück; ihre böse Laune erlaubt ihnen alles, ihre gute ver
pflichtet sie zu nichts. Homer könnten, meint Grimm, bei
diesen Göttern prähistorische asiatische Herrscher vorgeschwebt
haben, die nichts dagegen hatten, daß die unter ihr Szepter-
gebeugten Völker sieb bekriegten und so ihnen das Regieren
erleichterten, und daß ihre Söhne und Töchter manchmal zum
Vergnügen in diesen .Kriegen mitkänrpften. Oder es könnten
eigene Erfahrungen des Dichters bei der Zeichnung mitge
wirkt haben. Grimm fühlt sich durch das Verhältniß zwischen
den Göttern und Menschen Horner's an das zwischen Adel
und Bürgerthum des 18. Jahrhunderts bestehende gemahnt.
Er erinnert vergleichsweise an die Figuren in Schiller's
Kabale und Liebe: der Musikus Miller und seine Farnilie
stehen hoch über denr Hofmarschall, wie Hektar und seine
Farnilie sittlich hoch über den Göttern. Und doch sehen die
Helden der Ilias wie die Dnrchschnittsbürger des vorigen«
Jahrhunderts bewundernd auf das Treiben der höher ge->
borenen Klasse. Homer schwelgt in der Darstellung dieser!
vornehmen Gesellschaft, läßt die Götter sich wie in einem!
modernen Salon benehmen und den Untergang Ilions ver
handeln, „als ob von Hafen und 'Rebhühnern die Rede sei".
Ein andermal zeichnet er Zeus rvie den Präsidenten einer^
politischen Versammlung. Und über das ganze Ueberirdische^
breitet er einen märchenhaften Schimmer, der kühne Wider-.,
spräche nickt anstößig erscheine!, läßt.
An dieser Behandlung der Götterwelt sieht man am
deutlichsten, wie Grimm die homerischen Figuren und Ver
hältnisse denr kundigen Leser nahe bringen will. Diese Ab
sicht hat er nirgends außer Acht gelassen.' Den Schiffskatalog
z. B., dessen Langeweile uns alle angähnt, sucht er uns da
durch plausibel zu machen, daß er sagt: die griechischen
Stämnie würden darauf so gelauscht haben, wie die deutschen
Gaue auf die Erwähnung der heimischen Regimenter, wenn
ihnen eine Dichtung die Ereignisse der Jahre 1870/71 er
zählen würde.
Bis in die Uebertragung homerischer Verse dringt jene
Absicht moderner Darlegung ein. Ich meine nicht nur,
daß Grimm Hephästos aus'einer unerschöpflichen „Bowle"
schöpfen läßt u. dergl, ich meine vor allem seine Ansätze,
Homers lauge Verse und reichen Stil in kürzeren daktylischen
oder jambischen Reihen und mit Fortfall alles dessen, was
nicht durchaus nothwendig ist, wiederzugeben. „Die her
gebrachten, tönenden Adjektiva sind ausgelassen und breite
^ätze zusammengezogen rvorden." Der Versuch ist interessant.
Grimm empfindet richtig, daß die von ihm aufs höchste ge
priesene Vostische Uebersetzung, die wir heute alle in der
Hand haben, doch zurveilen zu gebildet klinge und die Dinge
dadurch von uns abrücke. Ich bezweifle überhauvt, ob der
von Opitz aufgestellte und bis Voß und A. W. Schlegel
immer mehr vervollkommnete Grundsatz, die Uebersetzung
müsse in allem Sprachlichen und allein Metrischen der
fremden Vorlage nachfolgen, der allemal richtige ist. Ver
schieden wie die Sprachen ist der Werth grammatischer und
stilistischer und metrischer Formen; was der einen Sprache
trotz des Superlatives oder der Häufung von Schmuck noch
einfach natürlich ist, roird in der andern vielleicht schwülstige
Uebertreibung; und das äquivalente Versmaß ist nicht immer
das gleiche, sondern das für den Stoff und die Dichtgattung
einheimische. Ich sträube nrich mit Herder, trotz der Voll
kommenheit. rvelche nach dessen Verurtheilrrng, in Voß'
Zeit, der deutsche Hexameter erlangt hat, gegen dies Metrurn,
und glaube, daß' Bürger nicht unrecht empfand, als er
Homer in deutfcherr Kurzzeilen übersetzen rvollte. Darum
begrüße ich Grinrrrr's Versuch aufs freudigste als eine Um
kehr, die um so bedeutender erscheint, als sie nicht nur dem
Metrurn, sondern auch der stilistischen Ausführung gilt. Bei
feinen Auszügen aus der Ilias „treterr die Charaktere irr
deutlicheren Linien heraus und verlieren das zuweilen fast
verschwommen Erscheinende, was sie durch den gemeinsamen
Besitz ornamental wirkender, oft wiederkehrender Schmuck-
worte bei Voß empfangen."
Endlich brirrgen auch Grirnm's häufige Verweise auf
neuere, uns zeitlich und denr Geschmack nach leichter ver
ständliche Künstler Horner's Personeir, Motive, Kunstgriffe
der Darstellung nnsererr Sinnen näher. Goethe und Shake
speare und Darrte, Walter Scott, Dickens, Victor Hugo
müssen neben Beethoven und Raphael und anderen uns
den alten Poeten und seine Werke vermitteln.
Auch damit fördert Grirnm seine Absicht: die Natur
seines eigenen Genusses an Horner deutlich zu beschreiben.
Bernhard Seuffert.
Berliner internationale Kunstausstellung.
ii.
Die Italiener.
Die Italiener üben eine ausgebildete Technik mit meist
heiterern Geschmack aus und führen uns sehr frisch und in
sehr bestecherrder Weise die Reize ihres Landes und Volks
lebens vor.
Der Neapolitaner Michetti, der besonders reich auf der
Ausstellung vertreten ist, verbindet sehr viel Natürlichkeit
und Temperament mit sehr viel Berechnung, kecke Derbheit
mit einschrneichelnder Gefälligkeit. Konimen rvir von Boecklin