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wußten Opposition erstehen werden. Es ist eine köstliche
Ironie des Schicksals, daß die schwäbischen Sendboten zum
Parteitag der Nationalliberalen ihren tiefen Orakelspruch,
daß „den Mitgliedern der Partei in wirthschaftlichen
Fragen freie Hand gelassen werden müsse", just in dem
Augenblicke verkünden, wo in ihrer Heimath die Erkenntniß
gereist ist, daß die rein politischen Differenzen von ehedem
hinfällig geworden sind.
Wie ein Komet am^arlamentarifchen Himmel, ganz
kurz zwar, aber für Jedermann sichtbar, ist jüngst eine Ein
gabe der Stadt Stuttgart vorübergezogen, welche endlich
einmal eine angemessene Vertretung der Hauptstadt des
Landes in der Kammer fordert. Es gibt gewisse Dinge, die
man nur zu nennen brauckt. um sie in ihrer ganzen Schön-
,34
&~,-feikel's Nacbricta-Boreaa „Ar 6 —
n, i’tUö Friedrichstraswe 38. Telephon V. 1227.
Loudon, New-York, Paris.
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Hermann Grimm's Homer.
Wenn Hermann Grinnn ein Buch über Homer schreibt,!
so darf man etwas Ungewöhnliches erwarten. Daß er
Subjektives bringen werde, vermuthet Jeder, der ihn kennt. f
Und in der That handelt es sich in dem Buche mit dem
Titel „Homer, Ilias. Erster bis neunter Gesang" (Berlin,
Hertz 1890) nicht eigentlich um Homer, sondern um Grimm's
Homer.
Der Verfasser selbst erklärt, daß er keinen Beitrag zur
Homersorschung liefern wolle. Seine Absicht hat er mehrfach
klar bezeichnet: die eigene Freude an Homer dankbar aus
zusprechen, ihre Gründe darzulegen, auch andern zu sagen,
worin der Genuß, den die Ilias bietet, für uns Moderne
besteht..
Niemand also braucht die zahllose Homerlitteratur
Au wälzen, wenn er Grimm's Buch verstehen will. Es ruht
in sich. Und doch steht es nicht seitab von der Entwicklung
der Homerischen Frage. Schon 1826 verzeichnet Goethe in
einer von Grimm angezogenen Stelle den Rückschlag gegen
die Homeridentheorie. Inzwischen ist die Liederhypöthese
weiter ausgesponnen worden, ohne die Forschung mit einem
reinlichen glatten Ergebnisse zu lohnen. Neuerlich überwiegt
die Auffassung, daß dem Werke eine ursprüngliche Einheit
zu Grunde liege, auch in der streng gelehrten Untersuchung;
nur ist sie genöthigt, an mannigfaltigen Umgestaltungen
festzuhalten. Hierzu taugt Grimm's Ansicht. ' Sie treibt
jene Aufstellung weiter bis zur Verherrlichung des einen
künstlerisch überlegt schaffenden persönlichen Homers. Ihr
Kriterium ist nicht Wort-, nicht Sach - Philologie, ryr
Kriterium ist die Aesthetik und Psychologie, welche der feiner
arbeitenden Philologie immer berathend zur Seite gehen
nrüssen.
Grimm's Buch ist nicht zersetzend, sondern gestaltend.
Aus echter Begeisterung geboren, wird es stumpferen Lesern
die Augen öffnen für die glänzende homerische Welt, wird
es auch feinfühligen den Blick schärfen. Ernste Gelehrsamkeit
mag sich dagegen sträuben. Ihr dient es nicht oder in
wenigem. Wer die Dinge nickt von dem einen Standpunkte
aus betrachten will, den sich Grinrm gewählt hat, wer von
verschiedenen Standpunkten aus Betrachtungen anstellt, um
sie kritisch gegen einander abzuwägen, wird vieles anders
sehen ali' der Verfasser. Aber das'schadet nicht: von der
eigenthümlichen Bedeutung dieses Buches nimmt der Wider
spruch kein Stückchen weg, feinen Zweck, zum Genusse der
Ilias anzuleiten, erfüllt es jedenfalls vollauf
Grimm stellt sich Homer, wie gesagt, persönlich vor.
Er betont. daß er nicht b^rvoifsn -&m«7 daß Homer ein
I Troer war, aber sein Gefühl sagt ihm: er war ein Troer
und spielte als Knabe auf den Trümmern Ilions, hörte die
Geschichte der Kümpfe, der Zerstörung der Stadt da erzählen.
Er lebte in einem Zeitalter, das nicht mehr das heroische
Gefüge hatte, welches die griechischen Lagerzustände AU
zeigen scheinen; er kannte erregte Volksversammlungen. Sein
Wissen war nicht auf Ilion beschränkt, er war auch mit
den Griechen und ihren Heimstätten vertraut.
Er hat überhaupt vielerlei Kenntnisse. Er spricht von
Verwundungen ausführlich wie ein Chirurg und nennt
keine Wunde wiederholt, was langjährige Erfahrung beweist.
Aber ein andermal scheint er Hirt oder Jäger oder Schiffer
oder alter Soldat gewesen zu fein. Er spricht über alles
Natürliche mit der Sicherheit Shakespeares. Was er sieht,
beobachtet er richtig wie Dante, Napoleon, Friedrich der
Große, Goethe. Er ist ein Menschenkenner; psychologisch
zergliedert er die Charaktere, seine Menschenbeobachtung
steigert sich in einzelnen Zügen zu unglaublicher Feinheit.
Er hat tiefes Gefühl, er muß geliebt haben. Er hat
sittliche Ideale.
Vor allem aber, Homer ist ein Künstler; ein dichte
rischer Geist an Tiefe und Umfang von keinem späteren
übertroffeu, nicht von Goethe noch von Shakespeare. Er ist
nicht Volkssänger, nicht Naturpoet; eine reiche litterarische
Bildung liegt ihm voraus, er muß von einer ungemeinen
litterarischen Kultur unigeben gewesen fein, sonst hätte er
nicht so viele Mittel der poetischen Darstellung gekannt.
Er weiß das Geheimniß des Dichters: vorbereiten, ahnen
lassen und doch spannen, indem er das Wie des Eintretens
der vom Leser erwarteten Dinge nicht vorzeitig verräth oder
überraschend führt. Die Kunst, die Wirkung einer That
dadurch zu erhöhen, daß der Augenblick sich hinauszieht, in
welchem sie sich vollendet, ist ihm eigen.
„Homer arbeitet wie ein Moderner". Licht und
Schatten, Tag und Nacht, Ruhe und Sturm, das Tempo
der Darstellung, epische und dramatische Diktion wechseln.
Die frohsinnigen Götter stehen entgegen dem trüben Schicksals-
gewirre der Sterblichen. Auf die gewaltsamen Thaten des
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fünften Gesanges folgt der milde versöhnende Ton des
sechsten, in welchem nur Worte und Meinungen gewogen
werden; auf die Versöhnungsseeire zwischen Diomedes und
Glaukos das Gebet der troifchen Weiber um Diomedes'
Untergang; auf das Zwiegespräch zwischeir Paris und Helena
das kontrastirende zwischen Hektar und Andromache u. s. rv.
Bald weilen wir mit dem Dichter im griechischen Lager, bald
vor oder in Ilion, bald bei den Sitzen der Unsterblichen
und sehen von da aus auf beide Gegner; jeden der drei
Schauplätze macht uns Homer zum wichtigsten, wenn er
uns gerade dahin geführt hat, urrd doch überwiegt keiner
den andern.
Nicht immer bringt er die wechselnden Ereignisse zu
einem vorläusigen Abschluß. Er endet sie natürlich mit dem
Tage oder er bricht sie ab oder er läßt sie irgendwie aus
klingen. Geschickt wie durch Kontraste wirkt er durch Ueber-
leitüngen. Um aus ruhiger Erzählung in eine dramatische
Aktion voll gegenwärtigen Lebens überzugehen, schiebt er
eine Wechselrede dazwischen ein: ein Kunststück, das den er
fahrnen Techniker zeigt. Architektonik im Großen und im
Kleinen also: Alles his ins Einzelne ist dichterische Absicht.
Den Abschluß seines Werkes läßt Homer nie aus den
Augen, jeder Gesang bringt uns um einige Schritte ihm
näher. Die Kunst' des allmählichen Entstehenlassens der
Gestalten im Zuhörer ist sein systematisches Verfahren. Auch
die Begebenheiten erzählt er nicht auf einmal, er trägt sie
fragmentarisch zusammen. Und das ist das für Homer Cha
rakteristische. Dariil erkelmt GrilNlll feine echte Kunstweise.
Homer wiederholt sich nicht, gibt nie Unnöthiges, trägt
nur immer Neues herbei, so daß die Figuren fortwährend
langsam wachsen. Er vergißt nie, was er gesagt hat, und
weiß, wanil das dem Hörer noch Unbekannte zu geben ist.
Nichts ist Episode, jedes ist nöthig beim Rückblick, wenn es
auch beim Einführen überrascht. Sorgsültig sind alle Er
eignisse vorbereitet, sorgfältig die Betrachtling und Be
gründung derselben aufs Durchschnittspublikum berechnet.
Reben der Erregung der großen heroischen Gefühle wird
doch auch für Befriedigung der gemeinen Erwartungen ge
sorgt, die dessen Verständniß entsprechen. So hebt der
Dichter z. B. die griechische Beutelust heraus. Um etwas
realistisch vor Augen zu stellen, beschreibt er ein kleines
Stück genau äußerlich; dadurch scheint das Uebrige ein
schließlich des Geistigen ebenso real. Oft, z. B. um die
Eintönigkeit der dauernden Wiederholung von Kampf, Nieder
lage, Beraubung der Leichen zu unterbrecheil, verwendet er
Vergleiche. Sie bereiten auf oas Kommende vor, erweitern
den Hintergrund oder leiten auf die nächste Scene über.
Sie sind so energisch ausgeführt, daß sie zu Hauptsachen
werden, sie haben ein gesondertes Leben in sich, Anfang, Ka
tastrophe, Folge, eigene Bewegung, sie sind nicht nur
Schmuck.
Dies vielseitige Wissen und diese ausgebildete Kunst
Homers bedenkend sagt Grimm: „Eine Welt von Erfahrungen
muß hinter ihm gelegen haben. Deren Ursprung unb Um
fang wir nicht kennen. Deren letzte Blüthe er vielleicht re-
prä'sentirt; wie Goethe bei uns, Voltaire bei den Franzo-en,
und Cicero und Virgi! beim italienischen Volke den Abschluß
von Epochen bezeichnen."
Der also ist Homer, wenn ich die völlig zerstreuten
Aeußerungen Grimm's recht verstehe, recht zusammellfüge.
Und von diesem kuildigen Künstler haben wir zwei
Werke, Ilias und Odyssee. Jene „ist das mächtigere, reichere,
blühendere Gedicht, das in höherem Grade mit versteckt
wirkenden Mitteln aufgebaute Werke, die Odyffee das leichter
zu übersehende Produkt bewußt angewandter Kunst." Nicht
auf einen Wurf entstanden sie. Einiges wohl brach mit Un
gestüm aus der Seele Homers, Anderes schrieb er mit Be
dacht hin, sowie es bleiben konnte. Aber im Ganzen sind
beide Werke ruckweise und ungleichnlüßig entstauben, haben
im langen Menschenleben des Dichters ihre letzte Gestalt
erreicht.' Zwar sind nicht zufällig einzelne Theile an einander
gestoßen, Homer hat nicht solche zusammenredigiert. Aber
an seinem Entwürfe nahm er nachträgliche Verände
rungen vor, besserte, schnitt hinweg, setzte zu. Das können
wir zwar nicht beweisen, sagt Grimm, aber die Erfahrung
lehrt, daß fo große Dichtungen nicht Theil auf Theil in eine
von Anfang an fertig vorausbestimmte Form hineinwachsen,
nicht aus der Seele eines Menschen gleichmäßig vorströmen.
Er vergleicht mit der Entstehung von Goethes Faust. Ich
weiß nicht, ob der Satz und der Vergleich haltbar sind.
Goethe's Faust ist eine Konfession; Grimm nimmt auch
Homer's Werke dafür; sind sie es überhaupt, so sind sie es
jedenfalls in viel geringerem Grade als Faust, schon des
Stoffes wegen.
Grimm setzt also verschiedene Vorstufen der Dichtung
an. Bei der Besprechung des fünften Gesanges der Ilias
hebt er hervor, daß in der früheren einfacheren Form des
Homerischen Entwurfes Pandaros und Paris, Hektor und
Aeneas nur einzige Personen waren, erst später sich in
Doppelfiguren spalteten. Er hält für möglich, daß ver
schiedene ' eigene Redaktionen Homers vorhanden waren —
wie von Goethe's Götz von Berlichingen —, die dann von
Späteren durcheinander geworfen wurden — wie Goethe's
Götz Theaterbearbeitnngen erfuhr. Also auch Grimm kann
so wenig wie andere Homerforscher die Ueberlieferung der
Ilias für eine einheitliche und durchaus echte halten. Zu
weilen zweifelt er, ob ein störendes Versehen Homer zuzu
trauen lei, weil der Dichter etwa nur die Hauptsachen im
Auge gehabt habe, oder ob Homer's Originaltext harmonischer
gewesen war, die Inkonsequenz nur der Ueberlieferung zur
Last falle. Bestimmter verwirft er die meisten Theile oes
siebenten Gesanges: ihnen fehle der Stempel Homer's; die
Erwartungen, die der sechste Gesang errege, erfülle der
siebente nicht, er bringe wenig Charakterzüge, die nicht ent
behrlich wären, fördere den Fortschritt der Handlung nicht;
die Erzählung sei schleppend, die Reden ohne Gedanken, die
Vergleiche unausgeführt, die Situationen ohne Erfindung;
ein rhetorisch begabter Homerkundiger habe das einzelne er
haltene Ursprüngliche in zweifelhafter Anordnung und mono
toner Erzählung zusammengefügt. Auch im achten Gesang
ist nach Grimm's Ansicht eine Folge von etwa 120 Versen
bei der Redaktion der Gesänge an die fal'che Stelle gekommen.
Und im zweiten fühlt er eine Lücke.
Wie schwierig ist's, bei solchen Einsichten den Glauben
an den einen wunderbar befähigten, wunderbar gebildeten
Dichter zu erhalten, von dem wir eben nichts Verlässiges
wissen, nichts kennen, als diese so unverlässig überlieferten
Werke! Die ganze Schwere der homerischen Frage, das ganze
Wirrsal ungelöster Räthsel drückt a ff uns und steht vor
uns, wenn wir gerade einen so begeisterten Propheten
Homer's wie Grimm vor derselben Notywendigkeit, auszu
scheiden, zuzusetzen, Verderbnisse anzunehmen, halten sehen
wie den kühlsten Kritiker. Hier ist die wunde Stelle der
gesammten Ausführungen Grimm's. Wir können glauben
und fühlen wie er, aber wir müssen's nicht.
Doch, geben wir die Person des Dichters und die
Echtheit des einheitlichen Werkes preis oder nicht, es bleibt
die durch lange Jahrhunderte der Anerkennung und Be
wunderung verbriefte, ewig neue und ewig junge Schönheit
der Dichtung bestehen. Und sie feinsinnig empftnden zu
lehren, hat Grimm so viel gethan, daß alle Hypothesen
feines Buches nebensächlich dagegen erscheinen. Den ein
zelnen Ausdruck wie die ganze Dichtung lehrt er verstehen,
bestaunen, lieben, wenn seine Erklärung auch nicht in jedem
Falle überzeugerrd wirkt.
Ziel der Jlras ist nach Grimm die Idee der inneren
Läuterung, an Achill, der Hauptfigur, geoffenbart: die Ver
söhnung des moralischen Wahnsinns des Achill durch seine
Selbstüberwindung dem Vater Hektor's gegenüber. Achill's
< Emporsteigen zum reinsten menschlichen Gefühle ist von
höherer Bedeutung als der Untergang Hektars. Achill ist
inehr als feine Person. In ihm ist „der schicksalbildende
| Seift des griechischen Volkes" verkörpert. „Alles was Großes
; rnd was Unheilvolles in Achill liegt, finden wir in den
< Schicksalen der Griechen als die Quellen ihrer Erfolge und
hres Unterganges. Sie unterliegen der Unmöglichkeit, sick