Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Homer

Heruran Grimm über Homer. 
Zu den unverlierbarsten Schätzen, die uns das Alterthum 
hinterlassen hat, gehören die Dichtungen Homers, die Ilias 
und die Odyssee. Vielleicht sind sie das einzige Literaturwerk 
der Griechen und der Römer, das auch in der Folge der Zeiten 
noch bestimmt ist, eine lebendige, die Menschen erhebende und 
erfreuende Wirkung auszuüben. Denn noch mehr als die 
Werthschätznng und die Kenntniß der antiken Literatur ist die 
gemüthliche Theilnahme, die Ergötzung der Phantasie daran in 
einem unaufhaltsamen Rückgang begriffen. Nicht, wie uns die 
Philologen glauben machen wollen/aus einem besonderen Hasse, 
ans einem bilderzerstörenden Eifer heraus, der eine der Grund 
lagen der bisherigen Kultur zerstören möchte, sondern nach einem 
Naturgesetz, ans dem Umschwung und der Wandlung der An 
schauungen und Interessen, der veränderten Stellung des 
Menschen zur Welt. Mehr und mehr verdichtet sich der In 
halt des Alterthums, nicht für die Gelehrten, aber für die 
Durchschnittsmasse des Publikums, in den Homerischen Dich 
tungen. In der Thaufrische und dem Glanz ihrer Ursprüng 
lichkeit und Naivetät leuchtet uns die Jugend der 
Welt am herrlichsten entgegen. Nur gewisse Theile der 
Bibel lassen sich an überquellender Bilderfülle, an 
Tiefe und Wahrheit der Empfindung mit ihnen vergleichen. 
Diese Theilnahme, die uns allen, ob wir griechische Studien 
getrieben haben oder nicht, Homer einflößt, kommt von vorn 
herein Herman Grimms Buch über den Dichter entgegen. 
Der Stoff zieht in gleicher Weife an, wie derjenige, der ihn 
behandelt. Und diese Anziehungskraft wird sich jetzt vielleicht 
noch stärker erweisen, wo das Werk abgeschlossen vorliegt. Dem 
ersten Bande, der im Jahre 1890 erschien, ist vor einiger Zeit 
der zweite gefolgt: Homer Ilias. Zehnter bis letzter Ge 
sang. Von Herman Grimm (Berlin, Verlag von 
Wilhelm Hertz, 1895). 
Für eine kritische Anzeige freilich hat der erste Band alles 
Wichtige vorweg genommen. Wie Grimm sich zu Homer und 
der Homerischen Forschung stellt, wie er die Mythologie der 
Ilias auffaßt, wie er sich das Verhältniß des Dichters zu 
seinem Stoffe und seinem Publikum denkt — das mußte bei 
der Betrachtung des ersten Bandes erörtert werden. Ich habe 
damals an dieser Stelle dem Leser darüber eingehend Rechen 
schaft zu geben versucht. Es bleibt mir jetzt nur eine Nach 
lese übrig. „Ein Buch zu schreiben, worin ich die Ilias nur 
wie Voß sie darbietet als Werk schaffender Phantasie 
behandelte, war seit meiner Jugend mein immer wieder 
kehrender Wunsch", schreibt Grimm im „Abschiede". 
„Ich wollte darlegen, daß Horners beide großen Gedichte in ihrer 
heute vorliegenden deutschen Gestalt wie eine moderne Dichtung 
beurtheilt werden könnten. Oeffentlich darzulegen, daß Ilias 
und Odyffee in sich gegliederte Kunstwerke seien, erschien nüv 
gegenstehende Meinungen zu bekämpfen. Erst dann wurde ich 
hoffnungsvoller, als mir aufging, man könne sich aussprechen 
ohne das von Anderen über die Art der Entstehung von Ilias 
und Odyssee Gesagte anzurühren. In diesem Sinne habe ich 
mich lange Jahre mit Homer beschäftigt." Aus diesen Studien 
und Arbeiten ist das Werk, das uns jetzt vorliegt, entstanden. 
Durchaus ist es der Ausdruck einer eigenartigen Persönlichkeit. 
SubjektiveStimmungeu,AnschauungenuudMeinungen kommen in 
allem Wesentlichen darin allein zum Wort. Von der philo 
logischen und historischen Forschung, von Wolf und Lachmann 
wird ebenso wie von Schliemaun abgesehen. Die Ausgrabungen 
von Hissarlik und Mykenä sind für Grimm so gleichgiltig, wie 
die kritischen Untersuchungen des Textes der Jliade. Er thut, 
als kennte er sie gar nicht. Man denke sich einen naiven, leicht 
empfänglichen und phantasievollen Zuschauer, der zum ersten 
Male Shakespeares „Hamlet" auf der Bühne hat aufführen 
sehen. Er hat das Trauerspiel bis dahin weder gelesen noch 
von ihm gehört. Er steht ihm ohne jede Voraussetzung, ohne 
jede literarische Kenntniß gegenüber. Hingerissen von der 
Vorstellung kommt er nun in den Kreis seiner Freunde 
und erzählt ihnen, noch ganz unter dem Eindruck des 
Geschauten und Gehörte!:, den Inhalt der Dichtung, 
Akt für Akt, Scene für Scene. Es ist ihm, als 
hätte er eine große Entdeckung gemacht, eine Bereicherung 
seines Lebens erfahren. Die Freude an der Sacbe, die Be 
wunderung für den Dichter drängen ihn, sie auch Andern mit 
zutheilen und sie in dieselbe Stimmung zu versetzen. So er 
zählt uns Grimm die Ilias. Jedem der viernndzwanzig Ge 
sänge ist ein besonderes Kapitel gewidmet.. Auf neue und alte 
Literatur, auf Malerei und Skulptur wird hinübergegriffen, um 
uns Homers Technik, seine hohe Knust, den innigen Zu 
sammenhang der einzelnen Lieder, die geistvolle Charakteristik, 
die Lebenswahrheit der Figuren zu veranschaulichen. Alles 
nicht in systematischer oder auch nur streng logischer 
Weise, sondern aus dem unmittelbaren Eindruck des gerade 
Erzählten heraus. AIs Gefühlsergnß, wie sich etwa ein Virtuose 
an das Klavier setzt, um über ein Beethovensches Thema zu 
phantasiren. So daß es denn auch an Wiederholungen und 
Widersprüchen, wenn Grimm Homer bald für einen Trojaner, 
bald für einen Griechen anspricht, die Götterwelt hier für eine 
Erfindung Homers ausgiebt und dann an einer andern Stelle 
schreibt: „Die Intriguen einer älteren depossedirten Götterlinie 
einer jüngeren aktuell regierenden gegenüber (etwa wie Bour 
bons und Orleans) waren das die Seele des Dichters zumeist 
Erregende." Als ob die alten und die neuen Götter nun doch 
von Homer unabhängige Wesen wären, deren Leidenschaften nicht 
von ihm erfunden wurden, sondern im Gegentheil sein Dichten 
beeinflußt hätten. Freilich, ohne daß „Homers religiöse Ueber 
zeugungen damit etwas zu thun hatten". Aber sollte Homer 
nicht an seine Götter geglaubt haben? Oft im zweiten 
mit der einfachen Berichterstattung, lange Stellen giebt er uns 
in einer eigenthümlichen, rhythmischen Form, die zwischen einer 
wörtlichen 'Uebcrsetzuug und einer freien, zusammenziehenden 
Bearbeitung schwankt, manchmal von einem bezaubernden 
Klange. Vorherrschend ist das Gefühl der Bewunderung, 
das Bestreben, den Leser aus jede Schönheit der Dichtung 
aufmerksam zu machen, ihre Hauptgestalte» und Höhepunkte 
uns näher zu rücken, den menschlich ergreifenden und rührenden 
Gehalt der einzelnen Scenen und des Ganzen aus der philo 
logischen und archäologischen Kritik und Betrachtung rein und 
blank herauszuschälen. AIs handelte cs sich um ein Kunstwerk 
der Gegenwart, nicht um ein Werk, das für uns am Anfange 
aller Kunstentwickelung steht. Selten sind die Ilias und 
die Odyssee, denn ungezwungen ergeben sich Grimm in der 
Analyse der ersten die vielfachsten Beziehungen und Vergleiche 
zu der zweiten, tiefer und feiner auf ihren poetischen Werth hin 
erfaßt und erläutert, ihre Stellung in der Weltliteratur gedanken 
voller und bedeutsamer hervorgehoben worden. 
Grimms Liebliugsbehanp'tuug, auf die er beständig zurück 
kommt, der Punkt, von dem er ausgeht, ist die künstlerische Ein 
heit der Ilias, die Persönlichkeit Homers. Ein einziger Dichter 
von einer unvergleichlich schöpferischen Phantasie, von einem 
höchsten Kunstverstande hat nach ihm das Werk geschaffen, 
geordnet uud beschlossen. Trotz der Fülle der Einzelheiten stets 
das Ganze im Auge behalteud, jeden Charakter in seiner Eigen 
art langsam und stetig vor uns entwickelnd, das Treiben der 
Götter wie der Menschen gleich lebendig schildernd, als 
wäre er Augenzeuge jedes Vorfalls gewesen, im Kriege wie 
im Frieden wohl erfahren, mit dem Fürsten wie mit 
dem Bettler vertraut. Wo sich in dem Gedicht Härten, 
Lücken, schwächere Stellen uud langathmige Wieder 
holungen finden, die auch er nicht leugnen kann, schiebt Grimm 
die Schuld auf die letzte Redaktion. „Es scheint", heißt es ein 
mal, bei der Betrachtung des zweiuudzwanzigsten Gesanges, 
„als bestände, was wir bis hierher" — zu dein Zusammen 
stoßen Achills uud Hektors — „vor uns haben, nur aus Frag 
menten der ursprünglichen Dichtung, die man bei der Samm 
lung der Texte aneinander reihte." Auch mir ist die Vor 
stellung eines Homers sympathischer als die Ansicht, Ilias 
und Odyssee beständen aus mehr oder minder kunstvoll 
verbundenen Volksliedern. Ein Dichter, der den Zorn 
des Achilleus und die Irrfahrten und die Heimkehr des 
Odysseus besang, schwebt auch mir vor: eine Persönlichkeit, die 
wegen der unendlichen Ferne zwischen uns und ihr viel schatten 
hafter und unbestimmter ist, als die Firdusis oder Dantes, die uns 
aber trotzdem in den beiden Gedichten den Eindruck einer 
vollen uud starken Individualität hinterlassen hat. Den ganzen 
Inhalt der Ilias und der Odyffee indessen auf sie zurückzuführen, 
überall ihren Knnstvechaud und ihre künstlerische Absicht und 
Hand zu gewahren, wie Grimm, vermag ich nicht. Die Grund- 
k 1895. — 48. aafrraani.
	        
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