Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Homer

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Deutsche Rundschau. 
anerkannt erscheint. Er arbeitet an den meisten Stellen den speciell ethischen 
Gedankenwerth und Handlungswerth gar nicht einmal ganz in Worten heraus, und 
doch leuchtet er aus seiner Umschreibung und Analyse mit einer Deutlichkeit, die 
nichts zu wünschen übrig läßt. Das enge, unlösbare Band von Ethik und Aesthetik 
wird hier praktisch wieder klar. So würde eine vollkommene ästhetische Analyse des 
Faust auch die ethischen Kerngedanken der Dichtung von selbst ins hellste Licht 
setzen. Erschütternd tritt in Grimm's klarer Beleuchtung die surchtbare Tragik der 
Homerischen Weltanschauung hervor. Wie leichtsinnig hat man es oft ausgesprochen: 
die Homerische Welt wandle noch in der reinen Lebensfreude und Lebenshingabe, 
nicht angekränkelt von den trüben Schicksalsfragen und Resignationen späterer Zeit. 
In Wahrheit bezeichnet die Ilias einen der Punkte im geistigen Emporgang der 
Menschheit, wo gerade die ganz hoffnungslose Tragik auf dem Punkte stand, am 
meisten über den Menschengeist Herr zu werden. Hinter der Welt ein unfaßbares, 
unerbittliches Schicksal. Vor dem Vorhang die Götter, mit einer gewissen Macht 
vollkommenheit über Glück und Leid des Moments, aber im Grunde launisch und 
werthlos in ihrem Thun, beinahe nur eine Symbolisirung dessen, was wir heute 
etwa neckischen Zufall nennen würden, der die Würfel des Lebens wild durch 
einander rüttelt, aber letzten Endes doch nicht hindern kann, daß gewisse große 
Schicksalsnothwendigkeiten sich vollziehen. Und als Spielball von beiden der 
Mensch, dessen eigene ethische Entwicklung schon weit genug gediehen ist, um gewisse 
Forderungen zu stellen, gewisse Ideale von Recht und Sieg des Rechten auszu 
denken, und der sich doch dem Unbegreiflichen und der Willkür erliegen sieht. Von 
dem „Wer immer strebend sich bemüht . . noch keine Spur. Aber doch schon ein 
Keim zu dem Wege, der dahin führen sollte. Man beachte das große, ethische 
Schlußsacit der Ilias in der herrlichen Priamus-Scene des vierundzwanzigsten 
Gesanges. Nach dreiundzwanzig Gesängen voll Waffenlärm jetzt endlich unter der 
Wucht all' dieses hoffnungslosen Dahintobens die Erkenntniß, daß es in der 
allgemeinen Unglückslage des Menschen besser wäre, das Schwert hinzulegen und 
sich mit Mitleid zu begegnen — Priamus und Achill vor der Leiche Hektor's, die 
sich beide als Opfer des Schicksals erkennen und — verzeihen. Wie ein letzter, 
vager Lichtschein taucht diese Idee des Mitleids mit dem Menschen, weil er 
„Mensch" ist, in dem absoluten Bankerott, in der tiefsten Nacht Homerischer Welt 
tragik auf. Und doch war dieses vage Flämmchen die Fackel, mit der der Mensch 
Jahrhunderte später versuchen sollte, noch einen Schritt weiter in das Welt 
geheimniß hinein zu leuchten, und in deren Schein er sich wirklich aus lange Zeit 
hinaus in ein neues, glücklicheres Verhältniß zu dem Innersten der Welt zu setzen 
verstand: der Stern, der von der Ilias hinüber glimmt zum Evangelium. 
Möchte das schöne Buch, das uns Grimm geschenkt, überall mit der Wärme 
und dem Ernst aufgenommen werden, mit denen es geschrieben ist. Ein solches 
Geschenk wird uns nicht oft und zu beliebiger Stunde zu Theil werden. Es lag 
eine Nothwendigkeit darin, daß es heute kam. Und so ist es in eminentem Sinne 
ein „zeitgemäßes Buch". 
Wilhelm Bölsche.
	        
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