Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Goethe

aus : Kölnische Zeitung,Nr. 6 
1877, Jan.6, Bl.2 
Literatur. 
Goethe. Vorlesungen, gehalten an der Königl. Universität  zu Berlin 
von Hermann Grimm. Berlin, Hertz, 1876. Zwei Bände. 
Wenn begeiserter Schwung, Gedankenreichthum und Glanz der Sprache 
latcrn^e« Beifall sichern, nitt baS üon Grimm's Darstellung der Entwicklung 
Goethe's, die schon bei den Zuhörern, vor welchen Vorlesungen in den Jahren 
1874 und 1875 gehalten wurden, warm aitfgenommen wurde. Wir freuen 
uns dieser glänzenden Erscheinung, die nicht wenig dazu beitragen dürfte, 
»m falten ’©tutnpjßnit eine« fef)i großen «reifes entgegenjnwirfen, ber ltocß 
;inmer ben tSitfjter.. beS JJiauß“ für. abgetan unb uberwitnben ljält. 3n 
großen 3iige*t entwirft ; m "geißveidje, gebantemiefe unb feinfüßlenbe Äunft- 
jfvitifer ejn ©ilb üon ©oetße’S ©ntwidfung au, ber #anb feiner Jpauptmerfe, 
wobei bie Mens%3ge, fofern fte fließt Sfnotenßuncte ferner menftfjfit$en unb 
fünßlertfcpn ©ntfaftung geworben, übergangen ober nur turj baitßrt werben, 
©rtmm iß bön ber Ueöerjettgung burdjbrungett, baß ©oetße’s 2)id)tungen, 
ttttßerblidj tebenb, immerfort bas §erj erfreuen werben. 3ebe fotgenbe .Beit 
Werbe glauben, fte erft Ijabe ben redjtett ©tanbpuuet entbeeft, üon bem biefer 
[tdj gang unbefangen Jieobadjten laffe; bie Slnfidjten über tint würben immer 
wedjfeln, er rrad)* ber”ü$evfcf)iebeii^eit ber Beden bem beutfdjcn SBolfe uäljer 
ober ferner 31t ßeßeit fcßeinen, nie aber werbe er gattj geftiirjt werben ober 
fid) felbft auflöfen. ©djeine mau and) heute fidj wieber leife üott ©oetße 
entfernen 31t wollen, fo fei bodj baSjertige, waS uns fremb an iljut 31t werben 
angefangen, nidjt er felbft, nur baS ©ilb, wetdjeS bie letjte ©enevation fid) 
üon ißin geformt, bie neue jeßt begonnene Beit, bie ©oetlje üoranSfeßeub 
geahnt, niiiffe ftd) eben fein ©Ub wieber Don grifeßem fdjaffen; gerabe tjeute 
werbe es wicfjtig, fid) mit ißm wieber 3U Befcßäftigen, nur mitffe ein anbever 
©tanbpuuet genommen werben. Stad) Dielen Baßcßuttberten werbe cine Bed 
fommen, ttt weldjer ©oettje’8 ivbifefje ©djicffale ftd) für mtjere ©liefe jufammen* 
gießen, man fte mit immer eiufacßemt Sorten abt()un werbe; jetjt aber, too 
wir eines foldjeu UebcrßuffeS 0011Sebensnnrijvidjten bcS ©idjterS uns freuten, 
müßten wir ein ©ilb oou ißm ju gewinnen fließen, baS mW am meißelt 
förbere, bem wir am meiften oertrauteu. 
fDtan fiefjt, baß ©rirnrn bie meufdjltdj fittlidje (Sntwitflintg ©oetße’s bei 
Seilern nidjt fo ßodj [teilt, wie feine fiinßlerifdje, ja, er beutet meßrfad) au, 
baß es bei einem Sinter auf fein fittlidjeS ©erhalten nidjt anfomtite, unb 
er jeigt fuß baritt feßv läßlich. Uns bagegen fdjeint gerabe ©oetlje'S fittlidje 
SCüdjtigfeit unb reiche ntenfdjlidje ©ntwialung nicht mittber ßerüorrageub als 
feine fünftlerifdje. 3iie f)at es einen 2Reitf<ßen gegeben, bem es 11m feine 
einheitliche Sntraidlung uon ©eift unb §evj heiligerer ©ruß gewefen wäre, als 
beit eben feiner ©itttidjfeit wegen fo Diel gefdjmäßten ©oethe. 2)iefe ©trenge 
gegen fid) felbft, biefeS ftraffe galten auf feine ©[licht, biefe ntädjtige ©egierbe, 
„bie Ißtjramibe feines SDafeitiS fo hoch als möglich ttt bie Suft ju fpßsen unb 
es baritt, in nidjtS größerem, bem größten URenfdjeit gleidj 311 ttjun“, biefe 
ßttlidje §öße, ohne bie ber beutfeße ©idjter bei allem ©lange feines Talentes 
jutüdfallen würbe, biefe wirb unoergänglidj neben feinen ÜDieißerwerfen leben, 
©ben ber größte beutfdje SMdjter, in bem beutfdjes Sefen fieß uoll auSlebt, 
muß audj ein Ijod) fittlidjer, fein §er : ; eben fo rein wie fein ©eift h^l unb 
flar fein; bemt baS §et3 iß, wie ©oetße felbß fagt, 3itr Shat wie 3m - Sunß 
unentbehrlich unb burdj ©ernunft uießt 31t erfe^en. Unb fo wirb andj bas 
großartige ©ilb oott ©oetlje’s tnenfchlidjer ©ntwidlung beit 2>entfd)en nie 
oerloreu gehen, auf baß aud) bie fpäteßen ©efdjledjtcr au ihm fidj ßärfen 
unb erheben. 
Sir haben hiermit einen Weitreidjeuben ©egenfaß gegen ©rimm’S SCuffaffitng 
bejeießnet. ©iu iweiter bezieht fieß auf bie ©vuublage feiner Sarßelliutg. 
2>ie gcfcßtdßlidje Slnfdjauuug ßängt nteßr, als mau gewößttlid) meint, üon 
bev Dollen itenntniß bes Giujeliteit ab. Sir finb Weit entfernt üon bem 
©tauben, jebe ©iuselßeit fei bebeutfam: maudje finb oßne ©elattg, aubere 
beßätigett mir baS tängß ©ewußte, bagegen gibt es Diele, welcße baS fdjwanfenbe 
©ilb beßimmen, tüiUlürltdje Büge, wel^e wir nteßr ober weniger waßrfd)etu* 
tii) ßinetngetragett, beridjtigeit ober wie ein fvijdj eiufallenber i'idjtßraßl bte 
Büge beleben. ©0 würbe, um nur ein ©eifpiet 311 nennen, bie fcßavfe 
Sarftellmtg, wetdje ©rimnt üon Berber’s ©erßatten gegen ©oetße liefert, an 
©itterfeit fefjv üerlorett ßabeit, wäre uidjt übergangen, baß Berber in ©traß» 
bürg nteßr als einmal ©oetße uov ©ßafespeare's „heiligem“ ©ilöe umarmt 
habe, tote biefer felbß im Saßve 1773 am ©cßluffe feines SCuffaßeS über 
ben bvitifcßeit ©id)ter beridjtet, wo er 3ugteid) üor aller Seit beS Traumes 
feines jungen ^eunbeS erwähnt, ©ßafeSpeave'S ©eitfmal aus unfern SRitter* 
Seiten, iu uuferer ©praeße unferm fo weit abgearteten ©atertanbe ßer3ußeüeu. 
„3cß beueibe bic ben Sraura unb bein ebteS beutfdßeS Sivfen", feßt er ßiusu; 
„laß nicht nad), bis.ber Ärauj oben ßängt.“ SJiefevBug buvfte nidjt fehlen, 
©riittm beßerrfeßt eben ben weitüerbreiteten geiualtigen ©toff nidjt fo, baß 
ißm jebestnal bie jur fadjgemäßen 2>arßettmtg geßöcenbfn Bilge ju ©ebote 
ßänben. Slud) üermiffen wir in ber ©ettußmig bie gehörige Sorgfalt, ©eßr 
häufig ßnbeu fieß fleitte fylttcßtigfeiteii, bie beit Äenuer unangenehm berühren, 
unb wenn fie and) feinen wefentücßen ©ittßuß auf bie S)arßellung üben, bodj 
bet ber wetten ©erbreitung, bie ©rimm’S ©orlefuitgen ßnben »üevbeit, ftdj 
feidjt fortpßanjeit. Sine jtueite Stuflage ßätte ßier gar SRandjeS gu beffevu. 
©djlimmer iß es, wenn auf irrige ©eßauptungen ©eßlilffe gebaut werben. 
Slitd) bie Baßt biefer ©erfeßen iß nidjt fleitt. ©0 iß es gaus imbegrünbet, 
baß in „Saßvßeit unb S)icßtung" ©oetße’S evßer 9iitt jum ©farrer ©rioit 
iit ben 2Jiai 1771 gefegt werbe, ©ine eigentliche Bedbeßimmuttg fiubet fidj 
gar uid)t, nur wirb ber erße ©efndj 3U ©efeußeint in bie Bed uon Berber’s 
Sluwefenßeit gefeßt, bie bis 3am Slpril 1771 bauert. 3)aß 2Jiattcßes in ber 
©arftettnng bes ©erßättniffeS 3« gttebevifen üerfdjoben fei, iß löngß anerlaimt,
	        
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