essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 37
302.
Preis für daö Quartal in BreSlau 2 Thlr., bei den
preuß. Psstanstalten 2 Thlr. 15 Sgr. — Jnfertioiis-
geduhr: 2 Sgr. für die kleine Zeile oder deren Raum.
Ekpedrtwn in BreSlau Schweidnitzcrstraße 47.
Verlag von W. G. Korn« Mn^ert emunÄÄrrißlgster Jahrgang.
Breslau, nstag, 2. Juli.
Inserate nehmen an: in B er lr n GropiuS sche Buchh.,
Hamburg, Berlin, Leipzig. München,
Frankfurt a/M., Wien Haasenstein & Bögler,
Indols Aiofse, <S. L. Daube LCo.; PariS, YavaS.
1872.
% BreSlau. 1. Juli.
Abschluß des Vertrages zwischen Deutschland und
Tran kr ei ch über bte Restzahlung der Kriegsentschädigung und die
occuprrten französtschen Departements ist — laut telegra-
Phlfcher Meldung ans Versailles — am Sonnabend Abend erfolgt, und
Herr ^.lners kann fein zuversichtliches Versprechen, der Nationalversamm
lung )chon cheut über den Verlauf der Verhandlungen und den Inhalt
der Convention in amtlicher Weise Mittheilung zu machen, pünktlich
u6e * ble ' e Mittheilungen des Präsidenten der franzö-
stschen Republik durch den Telegraphen und die Post unterrichtet sein
werden — was vermuthlich im Laufe des morgenden Tages geschehen
“ff J e ^ lt uns an wirklich authentischen Angaben über die Ein-
zelnhetten der zwischen den beiden Regierungen vereinbarten Stipulationen,
und auch heut noch sind wir daher in Betreff der Details des Vertrages
auf die mehr oder minder zuverlässigen Informationen einzelner Bericht
erstatter auS Berlin und Versailles angewiesen. Die bereits früher be-
rannt gewordenen allgemeinen Grundzüge der Convention, die den nach vor-
gängiger Be.pcechung mit dem deutschen Botschafter seitens des HerrU
Thrers m Berlin gemachten Vorschlägen zur Basis gedient haben, recht-
fertigen fedoch daS Urtheil, daß jenes Uebereinkommen den wohlverstan-
denen^ntcreffen beider Staaten durchaus entspreche, und daß es als eine
neue Garantie eines dauernden Friedens hüben wie drüben freudige Zu
stimmung finden werde. Stellen wir das, was Frankreich den bisher zu
unserer Kenntniß gelangten Nachrichten zufolge geboten, und waS Deutsch-
land in bereitwilligem Entgegenkommen gewährt und angenommen hat,
Linander gegenüber, so sehen wir für die französische Nation die Mög-
uchkeit gegeben, die Effectivzahlung der letzten Milliarde erst ein --?ahr
nach dem ursprünglich dafür festgesetzten Termine auszuführen und dennoch die
Vortheile einer früher gestellten, dem Fortschreiten der Zahlungen entsprechen-
den Räumung ihrer östlichen Gebietktheile zu genießen, während Deutschland
die erste und zweite Milliarde der zweiten Hälfte der Kriegsentschädi
gung - deren Eingang man bis vor Kurzem so oft als mehr denn
Zweifelhaft bezeichnen zu müssen glaubte — früher erhält, als der
Frankfurter Friedensvertrag es bestimmte. Ein gleicher Gewinn
die beiden Contrahenten wird die Anbahnung
für
fried-
aller Nationen zum sichersten uwerksamsten Wächter des allgemeinen
Friedens.
Unter den in den'letzten T über die Einzelnheiten der Schluß
verhandlungen bekannt gewordeNittheilungen dürfte besonders die
Nachricht der aus Versailles meit informirten „Jndäpendance belge"
zu erwähnen sein, daß die zugute auf Grund der dem Grafen Arnim
am 27. Juni zugegangenen Jnßonen an dem Vertrage vorgenom
menen Aenderungen wenig belach waren. Während z. B. der ur
sprüngliche Vorschlag Frankreichs^ ging, die Departements der Ar-
kennen und Vogesen schon nach üng von drei halben Milliarden zu
räumen, werden dieselben erst r Abtragung der beiden ersten Mil-
liarden der zweiten Hälfte der Icontribution geräumt werde». In
zwei Punkten hat das Berliner Eet — wie die „Jnd6pendance belge"
gleichfalls wissen will — sich unham gezeigt. Belfort bleibt nämlich
bis zum letzten Augenblick besetzt^ die Zahl der Occupationstruppen
(50,000 Mann) wird in Folge dcrtlichen Verkleinerung des Occupa-
tionsgebietcs nicht vermindert, ihnterhalt fällt jedoch nach Räumung
der entsprechenden Departements den anderen, in denen sie concentrirt
werden, nicht ausschließlich Franth zur Last (vrrgl. jedoch die Times-
Depesche in heutiger Nummer); diänzliche Befreiung des Gebietes gegen
finanzielle Bürgschaften für die hlung des letzten Restes der Kriegs
entschädigungssumme bleibt auch uerhin noch eine offene Frage.
Diese Vorsichtsmaßregeln decherseits scheinen übrigens, bei allem
Vertrauen, welches Fürst Bismr und Kaiser Wilhelm auch in die
ThierSsche Regierung setzen mör, vollkommen berechtigt. Noch ist
Frankreich keineswegs so conlolid, daß man mit unbedingter Sicherheit
für mehrere Jahre auf den Bestar deSlderzeitigen Gouvernements rechnen
dürfte. Augenblicklich freilich U Herr Thiers mit der Majorität der
Nationalversammlung noch in ein Vernunftehe, noch besteht die „Re
publik ohne Republikaner", eine ftbegründete Situation ist durch das so
oft gekennzeichnete SchaukelsysteuucS Präsidenten der Republik nicht ge-
schaffen worden. So feindlich si auch zur Z it die conservativen Par-
leien der Kammer und Herr TlerS gegenüberstehen, so ist doch die
Existenz der Einen an die des Indern geknüpft. Fällt ThierS, so ist
auch die Kammer in ihrer jetzige Zusammensetzung fernerhin unmöglich
andererseits scheint es aber unglablich, daß der Präftdent der Republik
auf die Dauer mit einer MajoritAnach dem Herzen Gambettas regieren
Tbiers ist voll von ihnen. Eine seiner letzten war seine diplomatische
R;i!° A. ®«W* u°Sd-° IÄÄÄÄ»!' Sffi«
ÄtafBdftein <S»(M Resultat ton dieser WiP°» b°n-ui War
auch eine Illusion, auf eine friedliche Unterwer ung der bewaff.
Dm «- möcht- behaupten, d»b der
wH, Wiraen'* 'Nichts anderes «US eine
*8- S Ä Äusion ist seine Politik, die darin besteht, Mstbcn
dm Mei n daGIeich»7«icht hatte» ,u wolle». Unter »SSg
innen, während er dadurch
Und welche ungeheure Jllu--
fertigen VerhättutsseS und befriedigender«' ae-eniei^N^d. !° sügs^ de» »eralteten Doet.in-n deS greife»
fei«, »18 dies bei der bisherige» StLmZ [e CS b« ÄZ aWH mm «0**, »«. trotz alle- Sch«Me»-.«-
Elemente Frankreichs möglich war; die Friedensbürgichait ab« l Kammermehrheit. Wollt-,ThierS mit der eutsch.eden republt.
di.^' Abschluß vcv BttlragrS «„ru.w; 0 ...... r.. aasglcvigiE -vkaatze ge-- stU so "mühte er mit seiNt^deren Ersten ^'.tgenAe
währt, wird ganz Europa zu Gute kommen. Diese Bürgschaft liegt nicht! wandelung seiner Regierungsgrundsatze vollziehen, .... „„ ........
allein in dem mehr ethischen Moment, daß die starke deutsche Regierung j: ra mbeften8 nicht zu erwarten ist.^— Ein Mitglied der conservativen
durch ihr von Thiers selber zu wiederholten Malen rühmend und dankend? der ehemalige Gesandte Pageot, sprach in diesen Tagen in der
anerkanntes Entgegenkommen bei den jüngsten Verhandlungen einen neuen > legitimistischen „Union" offen die Befürchtung auS, daß Herr ThierS über
Beweis ihres oft und Mn ausgesprochenen Willens gegeben hat. den Bber tanß bag Staatsschiff auf ein Felsenriff steuern und heillose
allgemeinen Frieden Mch Kräften zu wahren, sondern vor allem in einer
Thatsache materieWLrer Natur. Die unmittelbare Folge des Vertrags
abschlusses ist Mmlich die Contrahirnng einer großen französischen An-
leihe, bei dxr die Börsen- und Finanzkreise Europas und Amerikas auf
das lcbhqfMe mftengagirt sind, und somit wird daS finanzielle Interesse
Verwirrung im Innern hervorrufen werde. Herr Pageot sagt n. A.:
„Frankreich möge sich erinnern, daß Herr Tbiers zum Sturze aller
Regierungen, unter denen er gelebt, sei es als Vertheidiger, sei cs als
Gegner, beigetragen hat. Dieses Mal wird er allein den Fall der scinigen ,
herbeiführen. Der Dünkel erzeugt Illusionen. Das Leben des Herrn!
suchte, so
die
nie
älS die, au hoffen, durch die Ueberführung der Ü
Bonavartisten für das neue Regime zu ße®tatie»,
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seltne 1840 ? Gerade das Gegentheil. Er bereitete Allianzen^gegelKuns
vor, indem er ein Unternehmen gegen alle Welt proiecttrte rc.
Mag man diesen WarnungSruf auch zum großen Theil auf Rech
nung der Parteirichtung des Schreibers setzen, der seinem Zorn über die
Abfertigung der conservativen Delegation Ausdruck zu geben
beweist doch diese keineswegs vereinzelte Kundgebung^ daß auch
Thierb'sche Regierung einem großen Theile der Nation biSher nicht lene»
Gefühl der Sicherheit hinsichtlich der inneren Lage Frankreichs zu ge-
wahren vermocht hat. welches ein wirklich starkes Gouvernement gemein
hin hervorzurufen geeignet ist. Man sagt sich eben, daß ein flto et
Fehler des Leiters der StaatSgeschafte hinreichen wurde, um daS ganze
Land in die Anarchie der Parteikämpfe zurückverfallen zu lassen.
Ueber den Gang des schiedsgerichtlichen Verfahrens rn
Genf äußert sich heute die „Times" folgendermaßen: „Ende gut. UlleS
gut, so ist die Aufrechthaltung der Genfer Arbttraston eine retrospectrve
Rechtfertigung des Vertrages von Washington selbst und der später von
Ihrer Majestät Regierung adoptirten. diplomatischen Politik. Man kann
und mit Wahrheit sagen, daß nichts als Zeit und gelegentlich
Laune durch die Differenzen verloren gegangen ist, während Vieles, waS
wirklich wichtig ist, durch die Differenzen, welche auf der Basis der Arbi-
^ ° - » - —ja etnem De
batte erreicht
tiation entstanden sind, gewonnen worden ist, da dieselben zu einem bc
friediaenderen Resultate geführt haben, als anderweitig
werde» können. Wären die indireeten Anfplüche Nicht in die »merika-
nische Darstellung aufgenommen worden, oder hatte die britische Regte
rung auf deren Zurückziehung in so peremtorischen Ausdrucken, am eine
entschiedene Weigerung zu provociren, bestanden, so wurde die Ansicht
europäischer Juristen niemals veranlaßt worden fein, sich Mit der Frage
zu befassen, daS amerikanische Volk sich niemals »m Unrecht ge
fühlt haben, Md das Princip der Arbitration discred,tut worden
I-..., «b»i* cUu Probe b-standen zu haben. (Ehe das
Schiedsgericht der britischen Regierung zu Hilfe . A""A^^versr
die „TimeS" ganz in entgegengesetztem Sinne auö. Sich war schon bei
dem bloßen Gedanken, daß die indireeten Ansprüche im Schiedsgericht
auch nur zur Sprache kommen könnten, Feuer und Flamme.) Und dann,
wären die Präliminarien der Arbitration glatt durch alle ihre Stadien
geführt und wäre keine Forderung an die richterliche Discretion der
Schiedsrichter gestellt worden» so hätten wir die Gelegenheit des Nach
weises verloren, wie leicht ein wenig gesunder Menschenverstand sie be-
fähigen würde, die Schwierigkeiten zu überwinden, welche beiden Regie.
Js
Herrnan Grimm,
daS Leben des Raphael von Urbino.
Theil I. Berlin, 1872. Ferd. Dümmler.
Der Verfasser der Biographie Michel Angelo's beginnt in diesem
Bande das Leben von Michel Angelo'S großem Zeitgenossen Raphael zu
schreiben, dessen Entwickelungsgeschichte uns vergönnt ist mit einer Ge-
«auigkeit verfolgen zu können, wie die keines anderen älteren Künstlers.
Daher hier, was Grimm in jenem früheren Werk nicht möglich war, der
Versuch gemacht werden durfte, in das Geheimniß von Raphaels künst-
lerischem Schaffen selber zu blicken. Wo der Biographie so möglich
wird, die Erforschung der Wechselwirkung eines großen Individuums
mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen als Problem zu stellen: da ist
fie an Bedeutung jeder anderen größten historischen Aufgabe gleich; da
arbeitet sie durch die Einzeldarstellung jedesmal au der fortschreitenden
Lösung einer der ersten und allgemeinsten Fragen der Geschichte: der
Stellung der productiven Individuen zu dem Volksgeiste, welchem sie an-
gehören, der Zeit, in der sie emporkommen, der vorausgegangenen Reihen-
folge von Geschlechtern und Leistungen, welche die Grundlage ihrer
Arbeit bilden.
Die Geschichte der italienischen Malerei in der Zeit der Renaissance
arbeitet sich auö denselben Schwierigkeiten durch dieselben Methoden zu
wissenschaftlicher Behandlung empor, als die meisten Theile der politischen
Geschichte. Die wissenschaftliche Behandlung beginnt, wo die vorhandenen
erzählenden Aufzeichnungen der Controle sder Urkunden selber unterwor-
fen werden, ihr Werth durch diese Untersuchung bestimmt und der Vor«
gang selber neu aufgebaut wird.
Lange hatten Vasaris Lebensgeschichten der Künstler eine unbestrit-
tene Autorität genossen. Hatte doch Vasari, als ein jüngerer Zeitgenosse
und Schüler Michel Angelo's, aus dem lebendigen Quell zeitgenössischer
Ueberlieferung schöpfen dürfen, und, als einer der feinsten Kunstkenner
aller Zetten, selber ein gewandter vielgeltender Künstler, die Mittel be-
feffen, diese Ueberlieferung zu sichten und zu verw:rthen.
Numohr in feinen herrlichen italienischen Forschungen, die seit 1827
hervortraten, unternahm, Vasari an dem urkundlichen Material selber zu
erproben und die italienische Kunstgeschichte in musterhaften Einzelunter-
suchungen auf urkundliche Forschung und örtliche Beobachtung zn begründen.
Ihm verdanken wir auch ein Leben Raphaels; in prägnanter Kürze sind hier auf
wenige Bogen die reichen Untersuchungen vieler Jahre zusammengedrängt;
in der gediegenen, gemessenen Kraft der Darstellung stehen diese Arbeiten
ans ihrem Gebiet einzig da, zu vergleichen etwa mit den historischen Ar
beiten von Clansewitz auf dem Gebiet der militärischen Geschichte. Nur
wenn der Geschichtsschreiber die Begebenheiten inhaltlich durchdringt und
beherrscht, wenn ein Soldat eine Kriegsgeschichte, ein Staatsmann poli-
tische Geschichte, Jemand, der sein Leben unter Gemälden verbracht hat,
Geschichte der Malerei schreibt, entsteht die ruhige Reife der Darstellung,
welche in der historischen Wissenschaft so selten ist. Von da ab ward
mit wechselndem Glück dieser Weg versolZt; die italienischen Archive
wurden nach Briefen, Vertragsurkunden und Notizen durchforscht, Hand-
zeichnungcn und Cartons wurden mit den vollendeten Arbeiten der großen
Künstler verglichen, und daS große Werk des Engländers Crowe und des
Italieners Cavalcaselle in englischer Sprache verspricht eine feste Grund-
läge unserer heutigen Kenntniß italienischer Malerei zu werden: gingen
doch die beiden Verfasser davon aus, Vasari, dessen unkritische Arbeit uns
nicht mehr genügen konnte, zu ersetzen, für den heutigen Standpunkt der
historischen Wissenschaften zu leisten, was für seine Zeitgenossen einst
Vasari geleistet hatte. Ihr Werk reicht bis auf Raphael Sanzio.
Hermann Grimm übernimmt eS so, den wichtigsten und glänzend-
sten Theil der Geschichte italienischer Malerei, die Arbeiten Raphael's,
gleichzeitig mit diesen beiden Forschern, man möchte sagen im Wett-
kämpf mit ihnen, zu untersuchen. Sein auch an anderen Zweigen der
Geschichte geübter culturhistorischer Blick, eine Fähigkeit ersten Ranges,
das Individuelle in Personen und Dingen aufzufassen, methodisch geschulter
Scharfsinn und seltener Glanz der Darstellung geben Grimm volles Recht,
mit seinem Werke neben den beiden hervorragenden Forschern herauszutreten.
Der Aufzeichnungen aus dem Leben Raphaels vo« solchen, welche ihm
der Zett nach nahe standen, sind wenige und wenig zuverlässige. Es ist
zunächst die kleine Biographie Giovio's, welcher schon an ihm heraushebt
„eine wunderbare geiind stch anschmiegende Kraft, aufzunehmen, verbunden
mit schöpferischer Begabung", eine nie versagende Liebenswürdigkeit» welche
ihn zum Genossen der Großen machte, daraus entspringend, daß
ihm nie die glänzendsten Gelegenheiten fehlten, seine Kunst zu
zeigen, in seinen Werken endlich Vornehmheit, Anmuth und lebendigster
Reiz. Alsdann ein Brief deS Celio Caccagnini; dieser schildert ihn, wie
er ohne allen Hochmuth auch im Gespräch nur zu lernen bestrebt sei; zu
lernen und zu lehren betrachte er als das höchste Gut des Daseins;
schönste Herzensgüte findet er an ihm eben so hervortretend als seinen
Künstlergenius. Man bemerkt, wie Vasari dasselbe an Raphael preist;
„mit ihm beschenkte die Natur die Welt» als sie, besiegt von der Kunst
durch die Hand Michel Angelo Buonarotti'S in Raphael von der Per
sönlichkeit des Künstlers vnd von der Kunst zugleich besiegt fein wollte."
So überwältigend muß der Eindruck der Verbindung von reinster Herzens-
güte, vornehmer Schönheit uud Grazie in der Erscheinung Raphael'S
gewesen sein. Das etwa ist. was wir von glaubwürdigen zeitgenössischen
Erzählungen besitzen. Kein Denkmal dieser hinreißenden Erscheinung
ist uns übrig geblieben, wie wir in dem Manufcript des Miniaturmalers
FranceSco d'Ollanda ein solches über Michel Angelo's Gespräch und sein
Verhältniß zu der edlen Vittoria Colonna besitzen. ES müßte uns denn
noch irgend ein glücklicher Fund vorbehalten sein.
Vasari schrieb beinahe 30 Jahre nach Raphaels Tode; er baute
aus dem genauen Verzeichniß aller ihm zugänglichen Werke Raphael?,
ihrer Zeiten und Standorte, und aus dem, was ihm Ueberlieferungen und
Anekdoten von Raphaels Werken gewährten, beinahe mit der Freiheit
des Novellisten) sein Leben Raphaels auf: seine Zeit» wie er selber,
forderten nicht genaue Wahrhaftigkeit, sondern Anschaulichkeit und lebendige
Wirkung auf die Künstler. Unter feinen Quellen erwähnt Vasari
„Schriften des Raphael von Urbino"; doch ist bisher rmauSgemittelt,
waS er darunter verstand.
Spärlich sind auch die schriftlichen Urkunden, die Raphaels Leben
beleuchten. Eine nicht große Anzahl von Briefen, die berühmten fünf
Sonette, welche auf Studienblättern zur DiSpura hingeworfen sind, und
einige Urkunden, welche Daten seines Lebens und seiner Arbeiten feststellen.
In desto herrlicherer Fülle fließen diejenigen Urkunden, welche sein
eigenstes Leben aussprechen und in das innerste Geheimniß feines
Schaffens blicken lassen: seine Handzeichnungen. Auch die größte»
Sammler von Handzeichnungen und Stichen im vorigen Jahrhundert,
wie Mariette, so emsige Reisende wie die Richardson konnten zu keinem
methodischen Studium gelangen. Erft die Photographie hat dem Kunst
historiker ermöglicht, daS gelammte Material für die Behandlung einer
Frage auf Einen Punkte zu concentriren, frei in demselben zu schatten.
ES war daö Verdienst des Prinz-Gemahls von England, in ganz Europa
Photographien der Blätter Raphaels hervorzurufen, zu sammeln, die
billige Verbreitung zu fördern. Und so ist ein Material nunmehr zu
gänglich, welches für Raphaels wichtigste Werke unS die ersten Entwürfe
und die ganze Reihenfolge ihrer Umgestaltungen, gewissermaßen die
Metamorphosen seiner schöpferischen Ideen constatiren läßt.
Solcher Natur ist das Material, mit welchem der neue Biograph
Raphaels arbeitet. Indem man seine Verwerthung überblickt, wünschte
man vielleicht die Kritik Vasarr's, d. h. die Untersuchung seiner Glaub-
Würdigkeit durch Analyse seiner Quellen, des Standpunktes, unter dem
und der Methode, mit welcher er sie benützte, 'genereller geführt oder
vielmehr — denn daß Grimms Uwficht ste so führte, bezweifeln wir nicht —
auch in diesem Umfang vorgelegt. Unter den Fragen, die wir in dieser
Beziehung an den Verfasser zn richten hätten, heben wir die folgende
heraus: giebt eine generelle Untersuchung von Vasari's Stellung zu
der kirchlichen Restauration nicht einen ErklärungSgrund für feine seltsame
Auslegung der Schule von Athen? Die merkwürdigen Aeußerungen
über Lionardo's Mangel an Christenthum, Pietro Perugino'S Atheismus
sollten dies vermuthen lassen. Andererseits hätten wir gewünscht, er
möchte die Form des CommentarS nicht gewählt haben. Seit Rumohr
ist Vasari als Quelle zur Seite geschoben und die Aufgabe eines von ihm
unabhängigen Aufbaues gestellt. Grimm nimmt diese hervorragende Auf
gabe auf, und er ist ganz der Mann, sie zu lösen. Hätte er sie nicht
einfacher und reiner in der Form gelöst, welche er seinem Leben Michel
Angelos so ghücklich gegeben hatte? Für die Darlegung deS urkundliche»
Materials, wie die Arbeiten Raphaels selber eS vor Allem bilden,
ist genaueste Vollständigkeit und Ueberstchtlichkeit die unnachläßlicke
Forderung, für die darauf gebaute Erzählung übersichtliche Folge. Die
Form eines CommentarS zu Vasari hindert, indem sie den folgerichtigen
Zusammenhang zerpflückt. Doch kann und darf hier nur ein vorläufiges
Bedenken geäußert! werden. Ein solcher Künstler der Darstellung wie
Grimm hat ficher einen tiesdnrchdachten Grund für diese Wahl, und