© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 36
Literarische Revue.
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ganz zu lösen, muß der zeitgenössische Autor sich versagen. Andere Rücksichten gebieten
ihm, den Träger der Krone und die Nächststehenden aus dem Nahmen seiner Dichtung
fortzulassen. Und doch — was ist die neueste Geschichte Oesterreichs, eines im wesent
lichen immer noch absolutistischen Staates, wenn Franz Joseph, wenn die Erzherzogin
Sophie in derselben fehlen? Wir befinden uns dann gleichsam nicht an der Stelle, wo
die Steine der Politik ins Wasser geworfen werden, sondern nur in der Mitte der ent-
ferntern Kreise, die einem solchen Wurfe folgen.
Da der Dichter nicht die höchsten Instanzen der maßgebenden politischen Entschei
dungen uns vorführen darf, so sucht er wenigstens ihnen nachzukommen, indem er Re
präsentanten der höchsten Aristokratie und Diplomatie, Staatsmänner von Bedeutung
darstellt. Fürst Kronenburg und Graf Thieboldisegg vertreten zwei um den höchsten Einfluß
in Oesterreich streitende Richtungen: der erstere ein düsterer Concordatsmann, in welchem
etwas vom Blut der Alba und anderer Propagandisten der Habsburgischen Hausmacht
lebt, schroff und hochmüthig, einer der Exclusivsten, nach Iesuitenweisheit nicht wählerisch
in seinen Mitteln, der andere ein Staatsmann der Gentz-Metternich'schcn Schule, nicht
ohne Liebenswürdigkeit und Ritterlichkeit, dem unmuthigen Lebensgenuß zugethan, durch
die wachsende Reaction fast in das liberale Lager hinübergedrängt. Die Romanfäden
zwischen beiden werden durch eine beabsichtigte Verbindung zwischen dem Sohn des
Fürsten und der Tochter des Grafen geschlungen, welche von dem alten Fürsten in
brüsker Weise gelöst wird. Es ist ein feiner Zug, daß diese neue Staatsweisheit über
die Vertreter der frühern sogar politische Verfolgungen verhängt.
Nicht minder ironisch ist in dem zweiten Roman „Babel" die Darstellung der mili
tärischen Gerechtigkeitspflege. Wir befinden uns hier in der Epoche nach dem italieni
schen Kriege, in welcher Untersuchungen wegen Uuterschleifs an der Tagesordnung waren.
Ein Offizier, Oberst Rosen, und sein Adjutant, Lieutenant Wallberg, haben sich des
selben schuldig gemacht und als unerbittlicher Rhadamanth erscheint der Nachfolger des
Obersten, Ritter von Chibolitz, mit vernichtendem Zorn, mit dem langen Haynauschnurr-
bart, und donnert „die Fälscher" zu Boden. Einer liebenswürdigen Dame, der emancipirten
Salonheldin des Romans, Leonie, gelingt es auch nicht, durch ihre Fürbitte für Wall
berg die unnachsichtige Gerechtigkcitsliebe des Ritters zu besänftigen, bis sie einen Brief
herauszieht, das Schreiben eines befreundeten Lieferanten, durch welches der Eifer des
militärischen Aristides auf einmal entwaffnet wird. Derselbe hat sich früher ganz ähn
liche Unterschleifc zu Schulden kommen lasten wie diejenigen, die er jetzt so eifrig ver
folgt, und die Enthüllungen, mit denen ihm gedroht wird, stimmen ihn zur Nachsicht.
Ueberhanpt ist eö ein Abgrund von Corruption, der sich vor unsern Augen austhut.
Die journalistische Corruption ist in dem Redacteur Schmey und seiner Umgebung ge
schildert; die kaufmännische in dem Schwindelunternehmen des Kaufmannes Arnold Stropp,
der raßnitzer Kohlen- und Eisenindustriegesellschaft und in den langen Abhandlungen
und zahllosen Zeitungsreclamen, die diesen Schwindel stützten. Was aber das wiener
high-life betrifft, so ist jene Leonie, die Frau des Generals von Greifsenstein, deren
Liebesabenteuer mit den beiden Brüdern Haldenried, mit Offizieren und Cardinälen zu
den pikantesten Schilderungen des Romans Veranlassung geben, eine unzweideutige Ver
treterin des Salontons, eine schöne, liebenswürdige, geistreiche Dame aus den Kreisen
der vornehmen Welt, oder vielmehr aus jenen Grenzdistricten derselben, wo die ganze
Welt in die halbe übergeht.
Gegenüber diesen Repräsentanten der siegreichen Staatsprincipien stehen nun die
jenigen der unterliegenden Feiheitsidee, die Verfolgten und Verbannten. Bruno Hal
denried, der Held des ganzen Romans, spiegelt in seinem eigenen Schicksal das Geschick
dieser Partei. Er erscheint als politischer Flüchtling zunächst in den Verstecken des
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Chronik der Gegenwart,
die sich durch Glätte und Feinsinnigkcit nicht ersetzen lassen. Auch die Sprache ist nicht
frei von Manier, so sehr sie nach zierlichen und bedeutenden Wendungen sucht, so sehr
sie im ganzen den Stempel sorgfältiger Feile trägt, die wir, gegenüber der verwahr
losten Prosa auch der beliebtern Leihbibliothekenromane, gern anerkennen. Namentlich
gibt die Art, das Adverbium oder minder bedeutende Wort an eine hervortretende Stelle
an den Schluß des Satzes zu setzen, der Wortfügung ein durchaus manierirtes Gepräge.
In dem Grimm'schen Roman fehlen die schroffen Gegensätze, welche andere neuere
Adclromane von Spielhagen, Holtei u. a. charakterisiren; und nur der Gegensatz zwischen
dem „derangirtcn Adel" und dem soliden Bürgcrthum, den Freytag in „Soll und Haben"
behandelt, spielt mit in die Handlung herein. Im Contrast zu dem Helden Arthur
steht ein anderer Aristokrat, Erwin, der seinen Adel und Grafcntitel abgelegt hat, um
sich einer bürgerlichen Lebensstellung, der ärztlichen Praxis zu widmen. Es ist dies
eine immerhin abnorme Thatsache, zu entschuldigen mit dem Eifer des Autors, dem be
schränkten Vorurtheil, das überall auf Hindernisse stößt, die größte Vorurtheilslosigkeit
gegenüberzustellen, die sich ihren Weg durch das Leben bahnt.
Neben diese socialen Romane tritt der politische Roman, der gerade einen bestimm
ten Staat mit seinen Einrichtungen und Schicksalen zum Träger der Handlung macht
und diese nicht in die punktirten, farblosen Grenzen eines Phantasiercichs hineinzeichnet.
Der Hauptvertreter dieser Richtung ist Alfred Meißner in seinem Doppelroman:
,,Schwarzgelb" (Volksausgabe in Einem Bande, Berlin, Otto Ianke, 1866) und „Babel"
(4 Bde., ebendaselbst 1867). Dieser Roman, der die Landesfarben Oesterreichs an der
Stirn trägt, zeigt uns den Kampf der Parteien und die Conflicte der Stände ganz auf
demselben bestimmten Boden. Dadurch gewinnt das Colorit an Energie der Färbung
und die Zeichnung an Bestimmtheit. Auch den Charakteren kommt dies zugute. Ein
moderner bärbeißiger General in abstracto mag ein trefflicher Charaktcrtypus sein,
wird es aber nie zu jener Fülle individuellen Lebens bringen können, wie Meißner's
General Greiffcnstein, der so trefflich „östcrreichert", auch in der Färbung des Dialekts,
und desicn Schnauzbart, unter dem Prisma des Dichters, sichtlich mit den Spitzen ins
Schwarz-Gelbe schillert. Ein Polizist wird überall eine feine Spürnase und ein Wohl
gefallen an criminalistischen Verwickelungen zur Schau tragen; doch ein Beamter, wie
der Bezirkshauptmann von Rack, den der Dichter in beiden Romanen mit der Leitung
seiner oft schwierigen Untersuchungen betraut, zeigt den österreichischen Bcamtentypus und
-Habitus in solcher Vollendung, daß man auch hier wieder die großen Vortheile erkennt,
die dem Dichter daraus erwachsen, wenn er in seinen Romanen „Farbe bekennt". Es
gibt überall in Europa Aventuriers der Presse; fabelhafte Bekehrungen verwandeln die
Saulus in Paulus, und man weiß oft nicht, von wo das Licht aus Damaskus kommt;
doch ein journalistisches Exemplar, wie der Redacteur Schmey, der im Solde der Re
gierung gegen dieselbe Opposition macht und einer der einflußreichsten Vertreter der
Preffe wird, ist doch nur in schwarz-gelber Beleuchtung möglich. Anderwärts würde er
es kaum über die Stellung des bekannten Localreferenten Schmock in Freytag's „Soll
und Haben" hinausbringen.
Es ist eine schwierige Ausgabe für den Dichter, die Chronik der Zeitgeschichte in
Romanform niederzulegen. Bilder lebender Zeitgenosien im photographischen Kasten
aufzufangen, erfordert viel Delicatesse und weise Beschränkung. Hier ist nur die Skizze
möglich. So schildert Meißner den Kaiser Napoleon HI., den andere zum Helden
mehrbändiger Romane gemacht haben, nur in einer einzigen Situation, in einem Gegen
über mit einem italienischen Revolutionär, in mysteriöser Beleuchtung. Es ist ein
Sphinxantlitz, das in dieser Nachtscene uns halbentschlciert entgcgenblickt. Das Räthsel