Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Unüberwindliche Mächte

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm N 
aus 
Beilage zu den Itzehoer Nachrichten, Nr. 54, 
1867,Mai 9 
1 
Unüberwindliche Mächte. 
Roman von Herman Grimm. 
, Wir machen die Lesewelt auf dieses schön geschrie 
bene Werk hierdurch aufmerksam. — ES gab eine Zeit, 
und sie tst noch nicht fern, wo man sich unter einem 
Roman mchtS Anderes denken konnte, als eine über 
spannte Liebesgeschichte, höchstens verbrämt mit etwas 
Rttter- oder Räuberthum. Mit Recht hielten ehrsame 
Hausmütter darauf, daß ihre Töchter solche Bücher 
nicht in die Hände bekämen, nur geeignet, ihnen die 
Köpfe zu verdrehen oder die Seele zu bestecken; Männer 
sahen diese leichte Waare gar nicht au. 
Gegenwärtig ist dem Roman, der Novelle, der er 
dichteten Erzählung nicht mehr auS dem Wege zu gehen; 
sie ist nicht mehr halb verpönt in Leihbibliotheken ver 
schlossen, wohin man in der Dämmerung schleicht, um 
verbotene Frucht zu naschen, sie dringt in jedes HaüS, 
iu Küche und Keller, keine Thür schließt dicht genug, 
sie auszuschließen, keine Mutter, kein Hausvater kaun 
noch die Lectüre der Familie überwachen, man muß eS 
gehen lasten wie bei Kinderkrankheiten, die allgemein 
geworden: wer stark ist, kommt wohl durch, hüten hilft 
doch nichts. 
Jede Zeitung theilt sich jetzt durch eiuen schwarzen 
Strich in zwei Abtheilungen; daS über dem Strich liest 
der Manu des Hauses, das darunter Frau, Töchter 
und Mädchen. Ein Kenner hat mir versichert, daß 
keine Zeitung ohne dies bestehen kaun, eS würde ihr 
au Abnehmern fehlen, sie muß auf beide Hälften der 
Menschheit speculiren: mit hem Nützlichen auf den 
Manu, mit dem Angenehmen auf die Frauenwelt, und 
dieses Angenehme besteht iu Romanen. 
Auch ist die Sache am Ende nicht so schlimm, 
als sie aussieht. Der alte Schwätzer Cornelius 
O' Dow d, der seine reichen Erfahrungen iu einem Eng 
lischen Magazin auskramt, behauptete, man lerne mehr 
aus Romanen, als aus GeschichtSwerkcn. Er habe 
mehr aus einem Roman von Balzac oder George 
Sand über Französische Zustände gelernt, als aus 
Bänden von Thiers oder Thierry. Ein paar Ro 
mane — gut oder schlecht — aus dem Deutschen Mittel- 
alter würden uuS die dunkle Zeit aufklären, mehr alS 
ticfe Forschungen unserer Gelehrten. Wer will eS 
läugueu, daß Walter Scott ebenso viel geschicht 
lichen Sinn verbreitet hat, als Macaulay, und 
Gerstäcker mehr geographische Anschauungen, als 
Cannabich oder Roou? 
Wenn aber der Romau die Form ist, iu der ein 
mal die Zeit einen großen Theil ihrer GeisteSnahrung 
verlangt, so muß man sich freuen, wenn Männer höch 
ster Bildung und reinster Sitte, wie Gustav Frei 
tag und Hermau Grimm, eö nicht für einen Raub 
halten, ihre Weltanschauung in diese Form zu gießen. 
Lessing klagte noch vor hundert Jahren, daß die 
ganze Deutsche Dichtung nur Arbeiten „junger Leute" 
darbiete. Er war der Erste, der volle ManneSkraft an 
diese Aufgabe setzte. Aber er hielt sich noch iu der 
Poesie nur an die gebundene Form der Rede. Erst 
Goethe lieferte in der breiten Prosa deS RomanS 
das, was er sein soll: den Spiegel der Zeit und sei 
ne« Herzen«. 
An diese Aufgabe hat sich mit reichen Kräften wie 
derum Her man Grimm gemacht. Ueber den Ver 
lauf der Handlung deS Werkes wollen wir hier nichts 
offenbaren, auch weder loben, noch tadeln, nur sagen, 
daß sie in allerneueste Zeit hineinspielt und die 
wichtigsten Fragen der Gegenwart berührt. — Aber 
Tiefe deS Geistes und Breite der Kenntniß, höchste 
sittliche Reinheit, Klarheit der Darstellung und eine 
Schönheit der Sprache zeichnen diesen Roman aus, daß 
mau ihn Männern empfehlen und einer Jungfrau ohne 
Scheu iu die Hand geben kann. 
Herman Grimm ist bekanntlich der Sohn deS 
Sprachforschers Wilhblm Grimm, Neffe Ja- 
cob'S, der Verfasser deS viel gerühmten Buches über 
Michelangelo und einer Reibe geistvoller Essays.
	        
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