© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 36
A
aus
Telegraf, Graz, Nr.2 i6,1867,Spf.19» S. 1—2
Nach dee Schlacht bei Sadowa.
(„Muvidcrstchliche Mächte" von Hermann Grimm.)
Die deutsche'Literatur hat seit ihrem Wiedererwachen in Lessing's
Tagen einen zu nachhaltigen Einfluß auf das deutsche Leben ausge
übt , um nicht auch durch Ereignisse, wie die Schlacht bei Sadowa
wieder rückwirkend berührt zu werden. Von Lessing bis zu den Anfän-
. ger Göthe's begleitete die Literatur gewissermaßen das ttationale Leben,
das in der Kriegsepoche Friedrichs des Großen zu neuem Aufschwung
gelangt war. Die Abneigung des Monarchen gegen das deutsche Idiom
ließ die historischen und literarischen Elemente zu keiner völligen Durch-
dringung gelangen. Dagegen kann man offen und widerspruchslos den
Satz aufstellen, daß die Periode der großen Bedrängniß vom Basler
Frieden bis zum Ausgang der Befreiungskriege eigentlich durch die
Literatur getragen, der deutsche Geist durch die Macht der deutschen
Geistesproduktion wach und widerstandsfähig erhalten wurde. Bis zum
Abschluß der Wiener Verträge hatte Göthe, der Mittelpunkt jener
Epoche, fast alle seine großen Werke schon abgeschlossen und vollendet.
Nur der zweite Theil des Faust und die Annalen folgten im Wesent
lichen nebst dem west-östlichen Divan. — Eine romantische Epoche ver
tritt dann das reiche Ausblühen der in den Befreiungskriegen ange
regten Bewegung — eine zweite Sturm- und Drangperiode geht der
wieder erwachenden politischen Entwicklung voran! — Nach dem Iah re
1848 wird der deutsche Liedergarten bunter, reicher, duftiger als je.
Nie ist die deutsche Lyrik sorgsamer und erfolgreicher gepflegt worden,
als seit 1850, wo nebst dem Lied auch die poetische Erzählung sich
einer besonderen Sorgfalt erfreute. — Unmittelbar vor dem Ausbruch
der letzten Kriegsepoche, dem Untergehen des deutschen Bundes war es
wieder der Roman, in dem das Leben der Nation sich ideal geltend
machte, da für ein praktisches Ausbilden der inneren Kraft kein Raum
gegönnt war. Spielhagen's glänzende Erscheinung gab in den „Proble
matischen Naturen" derAera einen bestimmenden Namen, einen charak-
teristischen Ausdruck. „Auf der Höhe", Auerbach's reifstes, vollendetstes
Werk führte den Gegensatz des Hof- und Naturlebens zu den äußer-'
sten, letzten Gegensätzen. Freytag's „Verlorene Handschrift" wies auf
die Verirrung des nationalen Geistes in einseitig betriebener Wissen
schaftlichkeit. Der Roman hatte namentlich auf historischem Gebiet bald
die letzten Falten des deutschen Lebens ausgeforscht, wie Otto Müller's
Wildpfarrer, welcher in das Schicksal einer kleinen Gemeinde, in ihrer
seit dem 30jährigen Krieg nicht erloschene Tradition eindrang, es hin
länglich zeigte. — Nach der Schlacht bei Sadowa erschien Hermann
Grimm'sRoman: „Unwiderstehliche Mächte", in welchem wie vielleicht
in keinem früheren belletristischen Erzeugnisse, eine Reihe großer Wahr
heiten oder doch sinnvoller Lebensanschauungen niedergelegt sind.
Grimm's Ausgangspunkt, wenn auch nicht der erzählenden Ord-
nungnach, ist die Annahme, daß die Epoche Göthe's und der Göthege stalten
vorübergegangen sei, daß die Revolutionen von 1789 und 1848 andere
Schichten der Gesellschaft emporgehoben, an's Tageslicht gebracht haben.
! Die Generation von 1815 bis 1848 erscheint ihm als eine äußerst
bescheidene, ausschließend aus literarische Hilfsmittel zurückgreifende —
während jene seit 1848 emporgewachsene, welche theilweise, wie der
Held seines Romans, das Ja hr 1818 nur nach der Erzählung kennt,
I etwas Ursprüngliches , Gewaltsames, Unverträgliches hat, häusig mit
der früheren Generation in Konflikt geräth und bei nervöser Auf
regung weniger produktiv, in ihrer Geschmacksrichtung unbestimmt
j und schwankend geschildert wird. Es ist jedenfalls die Aufgabe des
Romanes, eben diese neu emporgewachsene Generation in ihrem Leiden,
Gebühren, Streben, in ihren letzten Anschauungen und Zwecken zu
schildern. Zunächst ist der Horizont ein viel weiterer, bedeutenderer
geworden. Freytag begnügt sich noch die Wiedergeburt der Gesell
schaft durch die Rückkehr zur Natur, zu ihrenr Pfleger, dem vierten
Stand zu bewirken. Grimm geht viel weiter. Er gehört jener weit
verbreiteten Schule an , welche, das industrielle Berlin im Auge, die
Spree zum Miffisfippi erheben, Norddeutschland mit den Nordstaaten
Amerika's in Verbindung und parallele Entwicklung setzen will.t
Diese, wenigstens verhüllt republikanischen Grundsätzen huldigende)
Schule, beabsichtigte die Herzogthümer als Republik mit Hamburg als
Hauptstadt zu cönstituiren und wurde namentlich von Preußen mit
aller Entschiedenheit bekämpft. Der Krieg von 1866, die Gründung
des norddeutschen Bundes sind die Mittel gewesen, dem Sieg dieser
Ideen ableitend zuvorzukommen. — Der Autor erkennt dies an,
indem er am Schluß einleitend dem Amerikaner die Mahnung an den
Helden des Romanes in den Mund legt, Deutschland so zu gestalten,
daß es die politische Aufgabe Amerika's auf europäischem Boden zu
lösen vermöge. Dieses Einladen ist charakteristisch genug und zeigt