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und deshalb schickt er seinen Helven nach Amerika, unter
dem Vorwände, daß dieser seiner Geliebten in ihr Vater
land folge, der verstoßenen Geliebten, die er nicht lassen
kann und die er aus Reue nicht anzureden wagt. Drüben
angekommen wird ihm das Ziel seiner Wünsche, Emmy,
aus den Augen gerückt. Er gcräth durch günstigen Zu
fall in das bewegte amerikanische Leben hinein, begeistert
sich für dasselbe, erkennt seine Irrthümer und scheint
völlig curirt, bis plötzlich ein unerwartetes Ereigniß ihm
und dem Leser klar macht, daß alles nur Täuschung war
und daß Graf Alexander immer noch der alte Junker ist.
Dieses unerwartete Ereigniß hängt innig zusammen
mit der eigentlichen Fabel des Romans, welche den großen
Fehler hat, daß sie weder ein Product der Charaktere ist,
noch einen bildenden Einfluß auf diese Charaktere, ja nicht
einmal einen wesentlichen Einfluß aus die Entwickelung
der Handlung hat, sondern neben der Geschichte herläuft
wie ein Stallpintscher neben den Pferden.
Der Roman selbst besteht vielmehr aus Schilderungen
von Charakteren und Zuständen und aus prächtigen Bil
dern. Mit dem allen hat die Fabel nichts zu thun. Sie
ist ein so werthloses, unwahrscheinliches, abgeschmacktes
Geschichtchen, wie nur je ein deutscher Romanschreiber
ausgesonnen hat. Schwäche an Erfindungskraft scheint
überhaupt ein Mangel des deutschen Geistes zu sein.
Wozu diese Geschichte überhaupt? Soll der Mangel
an Handlung im Romane damit gedeckt werden? Es geht
eigentlich trotz des vielen Hin- und Herreisens nichts vor,
es geht nicht vorwärts, man dreht sich wie Kinder auf
einem Carrousel immer um den festen Punkt, den un
klaren Charakter des Helden. Um Leben in den Roman
zu bringen, bedient sich der Autor nun dieses verwitterten
Geschichtchens.
Hr. Förster, dessen vortreffliche Eigenschaften uns
durch die Vortrefflichkeit seiner hinterlassenen Familie, eben
jener Emmy, der Geliebten Arthur's, und deren Mutter,
sowie durch seinen guten Leumund garantirt werden, ver
liebt sich in seiner noch unverehelichten Jugend in ein
schönes, vornehmes Mädchen, ohne jedoch weitere Absich
ten gegen dieselbe auszusprechen. Er nimmt naiverweise
die sehr natürliche Koketterie des jungen Wesens für ein
offenes Geständniß der Gegenliebe und ist sehr überrascht
und empört, als er eines Tags, zurückkehrend von einer
längern Reise, erfährt, seine Angebetete sei mit einem
Grafen verheirathet. Förster beschließt infolge dessen, nach
Amerika zu gehen. >
Was aber ereignet sich am Tage vor seiner Abreise?
Er trifft zufällig die ehemalige Geliebte; sie bestellt ihn
zu einem Rendezvous. Er kommt zu ihr. Sie gesteht,
daß sie unglücklich sei mit ihrem jetzigen Manne, den zu
nehmen sie sich nur entschlossen, weil man Förster bei ihr
durch eine gewisse Tante habe verleumden lassen. Man
vertieft sich so in Gespräche. Es wird spät, da hört
man Schritte. „Das ist dein Gatte!" ruft die eben er
wähnte giftige Tante hereinstürzend, packt den verblüfften
Förster am Arme und schiebt ihn ins dunkle Nebenzim
mer, welches nothwendigerwcise das Schlafgemach der Zofe
ist. Diese wacht von dem Geräusch der herumtappenden
Schritte auf, schreit, der Gemahl wird aufmerksam, tritt
mit einem Lichte in das verhängnißvolle Nebengemach.
Was geschieht? Statt einfach die Wahrheit zu sagen, wie
Pamina in der „Zauberflöte", deutet die Tante an, der
Herr habe wahrscheinlich ein zärtliches Tete-a-tete mit
der im Bett liegenden Kammerjungfer gehabt. Diese wagt
nicht zu widersprechen, ebenso wenig wie Hr. Förster und
die Gräfin. Der erzürnte Ehegatte, in dem natürlich
der schlimmste Verdacht aufsteigen konnte, ist so auf Ko
sten der Ehre des Kammermädchens beruhigt. Förster
schleicht beschämt von dannen, gelangt nach Amerika und
vermählt sich dort mit der nachherigen Mutter Emmy's,
nachdem er ihr die eben skizzirte Begebenheit des Breitern
mitgetheilt hat.
Diese Geschichte an und für sich ist wenig interessant,
hat auch auf den Lauf der Begebenheiten im Roman wei
ter keinen Einfluß. Denn obwol der Held desselben,
Arthur, der Sohn jener Gräfin ist und Emmy die Toch
ter des ehemaligen Anbeters derselben, obwol Emmy's
Mutter einen noch dazu sehr unmotivirten Haß auf die
sen wirft — weil er der Sohn der Frau ist, die ihren Mann
nicht geliebt, die diesen Mann gekränkt hat, obwol ohne
ihr Verschulden: so würde sich doch, wenigstens nach
Herman Grimm's Erzählung, das Schicksal der beiden
Verlobten, wenn das alles nicht vorhergegangen wäre,
ebenso gestaltet haben, wie es sich gestaltet. Das sieht
auch der Autor. Und um seiner pikanten Geschichte doch
einiges Recht der Existenz in diesem Roman zu sichern,
läßt er sie eine Folge haben, welche scheinbar bedeutend
in das Leben Arthur's eingreift. Scheinbar, sage ich,
wie man sogleich einsehen wird, sowie auch, daß sich der
Autor diese ganze mühselige Erfindung hätte sparen können.
Die arme Zofe geht aus dem Hause des Grafen, ist
sehr unglücklich, obwol sie es durchaus nicht nöthig hätte
bei ihrem reinen Gewissen, und endlich findet sie einen
Mann, der sie als Gattin nach Amerika führt, weil
Europa nicht groß genug ist, um die Schande eines
Kammermädchens zu verbergen.
Dieser gute Mann, der übrigens von der Unschuld
seiner Frau überzeugt ist, hieß wahrscheinlich früher
Schmidt, nennt aber in Amerika, als echter Deutscher,
sich und seine Nachkommen Smith. In Polen würde er
sich wahrscheinlich Schmidky genannt haben. Diese bei
den Eheleutchen Smith sind insofern von Belang für die
Entwickelung des Romans, als sie einen Sohn erzeugen,
der später mit Arthur bekannt wird und denselben in das
amerikanische Leben einführte. Nun, es gibt in Amerika
so viele Mr. Smith, daß es nicht dieses kunstreichen
Stammbaums bedurft hätte, um Arthur einen solchen in
den Weg zu pflanzen. Aber die Nemesis! die Nemesis!
die Würze des Romans! Mr. Smith hat ja nicht nur
die Aufgabe, uns den Amerikaner comme il saut, den
Gentleman zu präsentiren, sondern er soll eines Tags
dem Grafen Arthur, nachdem dieser schon ganz von seiner
Adelsidiosynkrasie hergestellt ist, das haarsträubende Ver
brechen erzählen, welches einst an seiner, Smith's Mutter,
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