Matter
für literarische Unterhaltung.
Erscheint wöchentlich. — Nr. 39. — 26. September 1867.
Inhalt: Ein Roman von Herinan Grimm. Von Hans Marbach. — Friedrich Thiersch. (Beschluß.) — Ein satirisch - philosophisches
Epos. Bon Rudolf Gottschall. — Ueber weibliche Erziehung. — Lruilleton. (Die Sprache der Bibel in Schillers „Räuber"; Fortleben
der Kudrunsage in Norddeutschland.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Ein Roman von Herman Grimm.
Unüberwindliche Mächte. Von Herman Grimm. Roman
in drei Bänden. Berlin, Hertz. 1867. 8. 5 Thlr.
Selbst das Beste, was ihr bildet, ist ein ewiger Versuch,
Nur wenn Kunst es adelt, bleibt es stereotyp im Zeitenbuch.
Plate n.
Die neueste Schöpfung Herman Grimm's, der Roman
„Unüberwindliche Mächte", beschäftigt lebhaft die Lesewelt.
Kein Wunder! In diesem Buche sind die Intereffen be
handelt, welche gegenwärtig alle Gemüther erfüllen. Die
gesellschaftlichen Klassenunterschiede, das Emporarbeiten
des Bürgerstandes, die charakteristischen Eigenthümlichkei
ten des socialen Lebens in der Alten und in der Neuen
Welt, der politische Umschwung des Jahres 1866 in
Deutschland durch den glorreichen preußischen Feldzug,
kurz lauter brennende Fragen, und zwar abgehandelt in
der so mühelos zu genießenden Form des Romans.
Wir wollen nicht mit dem Verfasser rechten, ob es
auch gut und den Menschen nützlich sei, dergleichen ernste
hochwichtige Dinge verzuckert mit einer sentimentalen Lie
besgeschichte hinunterzuschlucken, daß man ja nicht merke,
wie stark das Getränk ist; ob diese Dinge nicht vielmehr
dazu in der Welt sind, um den Leuten Kopfzerbrechen
und ehrliche Arbeit zu machen.
Wir fragen auch nicht, ob der Verfasser die Roman
form gewählt hat, um sich selbst leichtes Spiel zu machen,
um da, wo ein grämlicher Historiker und Philosoph etwa
noch ein wenig tiefer blicken möchte oder dem Autor mit
dem Secirmesser der Wissenschaft zu Leibe rückt, lachend
auf die Seite springen zu können und zu sagen: Ich habe
ja keine Geschichte schreiben wollen, sondern nur einen
Roman. Oder hat Herman Grimm vielleicht nur den
Zweck im Auge gehabt, durch die anziehende Behand
lung des schwierigen Stoffs als Erzählung ein um
so größeres Publikum heranzuziehen zum Borne der Er
kenntniß, und so zugleich einen weit glänzendern Erfolg
davonzutragen als der arme, im Dunkeln arbeitende Ge
lehrte, dessen Werk höchstens von dem Hohlspiegel seiner
Collegen beleuchtet wird?
Sei dem wie es wolle; wir nehmen an, wozu uns
1867. 3b.
der Titel berechtigt, daß wir es mit einem Kunstwerk zu
thun haben, und wir wollen nur den Dichter hier beur
theilen, von dem man, laut Emanuel Geibel, alles ver
langen kann, nur nicht, daß er ein Gelehrter sei. Aber
allerdings, wenn wir jetzt das Dichtwerk mit dem einzigen
Maßstabe messen, mit dem es gemessen werden darf, mit
dem ästhetischen, und wenn wir dann sehen, daß dieses
Stück Geistesarbeit ebenso wenig ein Kunstwerk ist als
ein wissenschaftliches Werk, dann freilich wird uns nichts
übrigbleiben, als bedauernd zu sagen: Schade um die kost
bare Zeit, welche der Biograph des Michel Angelo so
herrlich hätte anders verwerthen können! Schade um den
gewaltigen Aufwand von Verstand und Gemüth!
Um nicht melancholisch zu werden, wollen wir frisch
darauf los kritisircn. Herman Grimm setzt zwei Perso
nen in die Welt, ein Männlein und ein Fräulein, beide
jung, schön und geistreich. Sobald sich dieselben begeg
nen, lieben sie sich und heirathen— nein doch, sie heira-
then sich nicht, wo blieben denn da die drei Bände
Grimm's? Also, sie lieben sich und heirathen sich nicht.
Wir erfahren die Gründe dieses eigenthümlichen Verfah
rens in den besagten drei Bänden. Was die Dame be
trifft, so will sie. Nicht weil sie etwa keinen andern,
ihrer würdigen, gefunden hätte. Im Gegentheil, Grimm
sorgt dafür, daß sie von einer ganzen Schar Anbeter
umgeben ist, denn alles, was in ihre Nähe kommt, ver
liebt sich in sie, sogar die Greise, wie die weißhaarigen
Troer in Helena. Das ist natürlich, denn die Dame
ist hübsch. Ebenso natürlich ist, daß sie, statt von den
andern einen auszusuchen und ohne Umstände zu nehmen —
Mama hätte nichts dagegen—, sich gerade den erwählt,
den zu bekommen das Schicksal und Grimm ihr so sauer
machen werden. Die verbotene Frucht ist die lockendste.
Und außerdem, wo blieben sonst die drei Bünde des
Romans?
Nöthig freilich ist es gerade nicht, daß sie just diesen
erkieset. Die andern sind nicht minder hübsch und geist
reich; sie besitzen überdem einen viel gediegenern Charakter
als der Erwählte, und ein höheres Einkommen, und lie
ben zu dem allen die junge Dame, welche Emmy heißt
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