© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm N
A
aus : Staats-und Gelehrte Zeitung des h am burgischen
unpartheiischen Corresondenten,Nr.259,166?,0ht.Z1
e. Unüberwindliche Mächte.
Roman von Hermann Grimm.
(3 Theile. Berlin. Verlag von Wilhelm Hertz lBesser'sche
Buchhandlung) >867.
Eine so umfangreiche Arbeit, wie ein dreibändiger
RorNan, von einem Verfasser wie Hermann Gnmm,
der als Dichter, Novellist, Kunsthistoriker und Kunst
kritiker einen wenn auch manchen Angriffen ausgesetzten,
doch immer hervorragenden Platz unter den Schrift»
stellern der Gegenwart einnimmt, ist eine literarische
Erscheinung, der Publicum und Kritik von vornherein
t nteresse und Spannung entgegentragcn. Dazu der
itel des Werks: Unüberwindliche Mächte! Vor unserm
Geiste steht ein Buch, in welchem eine Feder, die von
schöner poetischer Lebensauffassung geführt wird, die
dem Menschenthum als Aufgabe beschiedenen Kämpfe,
das Unterliegen vielleicht der Tugend. deS RechtS, der
Wahrheit im Aeußeren. aber ihren Triumph im Geistige«
verzeichnet, und so durch Verherrlichung dessen. waS
allein auf Erden unsterblich und wahrhaft unüberwind
lich ist. also des Wahren, Guten und Schönen, ein Werk
schafft. daS unS in der Betrachtung des wundersam ver.
worrenen, sch oerbegreiflichen Weltganges zur tröstlichen
Leuchte, zur dankenSwerthen Stütze zu dienen vermag.
Unstr Dichter hat etwas Anderes gewollt. Die "un
überwindlichen Mächte", deren Wesen und Einfluß er
uns schildern will. flnd die Vorurtbeile, die thörichten
Gewohnheiten und Empfindungen, mit denen aristokra
tische Geburt und Erziehung einen selbst tüchtig be
gabten Geist verdunkeln und verderben können. Man
wirb fich vielfach verwundern, daß in unserer Zeit, der
Zeit der Aufklärung, der Gleichstellung aller Stände,
ein Schriftsteller, der auf der Höhe seiner Zeit zu stehen
scheint, es der Müde für werth gehalten, einer derartigen
Aufgabe seine Kraft zu widmen; aber wenn er fich zum
Ziele gesetzt hat, daS Leben in seiner Wirklichkeit zu
schildern, nicht in der seichten und oberflächlichen Aus
malung, welche die gesellschaftlichen Mängel und Con
flicte ignorirt und das Reich der Freiheit. Gleichheit
und Brüderlichkeit alS längst gekommen annimmt, hat
er vielleicht gerade vollen Grund zur Ergreifung und
Gestaltung eines derartigen Thema's. Es fragt fich
dann nur. ob rS dem Dichter gelungen ist, uns für die
geschilderten Kämpfe und namentlich für Diejenigen,
denen er sie auf die Schultern gelegt bat, zu inter.
esflren, ob er Sonne und Wind zwischen den Kämpfen-
ausgleichenden Mittheilung finden! Er kehrt nach
Deutschland zurück, die Wunde um Emmy im Herzen.
Neue, aristokratischen Zdeenkressen angebörige Nichtig,
ketten beschäftigen ibn auks ernstlichste. Er wähnt un
trügliche Anzeichen dafür gefunden zu haben, daß er
nicht der Sohn seines gräflichen Varers, sondern der
eines Unbekannten, wahrscheinlich eines Bürgerlichen sei,
so ist er denn kein Graf, so kann er die bürgerliche Emmy
beiratben, ohne sich und seinen Ahnen etwas zu vergeben!
Ein Brief Arthur'S an Emmy unter dem Emdruck
geschrieben, den der auf diesem Wege in ihm bewirkte
"Umschwung" hervorgebracht hat, ruft diese nach
Europa zurück: ihre Mutter begleitet sie aus andern
Gründen. Diese, von jeder der Verbindung Arthur'S
mit ihrer Tochter feindlich, da sie in ibm keinen der-
selben würdigen Mann erkennt, aber dem energischen
Herzen ihrer Tochter freien Raum lassend, befindet fich
in der Lage, Arthur über den Wahn aufzuklären, dem
er fich hinsichtlich seines Ursprungs hingegeben. Der
Unbekannte nämlich, den Arthur sich als Geliebten
seiner Mutter und als seinen Vater denkt, ist der Gatte
von Emwy's Mutter und der Vater Emmy's gewesen.
Seine Wittwe hat untrügliche Beweise in Händen, drß
Arthur und Emmy keine Geschwister find, daß Arthur'S
Vater in der That der Graf gewesen, alS dessen Sohn
er bisher gegolten. Arthur bar inzwischen eine Episode
durchlebt, die uns von dem Verfasser mehr auS äußer
lichen Gründen, als auS künstlerischen herbeigezogen
erscheint, den österreichisch-preußischen Krieg von 1866
nämlich, findet danach Emmy wieder und es wird AlleS
zur Vermählung der beiden, so lange auf nicht gerade
natürliche Weise fern von einander gehaltenen Liebenden
geebnet. Da rückt Emmy's Mutter gegen Arthur mit
den Beweisen heraus, die sie über seine gräfliche Aecht-
hcit besitzt, und bewirkt dadurch einen Aufruhr in ihm,
der uns um den letzten Rest von Sympathie, mit dem
wir ibn etwa noch bis hierher begleitet haben, bringt.
Arthur'- erster Gedanke nach der Enthüllung ist der, daß
er nun doch einer gewissen gräflichen Zosephine, deren
Hand ihm in seiner Kriegsepisode angeboten worden,
die er aber im Bewußtsein feiner bürgerlichen Makel.
Hastigkeit abgelehnt hat, ebenbürtig sei! Daraus
folgt — und cS ist am Vorabend seiner Vermählung
mit Emmy! — ein Benehmen, ein Umherfahren Ar
thur'S, daß unS bange wird, der Dichter wolle ihn
durch die "unüberwindlichen Mächte", die sein Leben
zu einem so unbegreiflichen und wenig anziehenden ge»
den so gleich zu vertheilen gewußt hat, daß jede Partei zur
unbehinderten Entfaltung ihrer Kräfte gelangen und so
das Ganze den Cbarakrer eineS natürlichen und berech
tigten Prozesses innerhalb der menschlichen Entwicklung
annehmen kann. Zn dieser Beziehung aber müssen wir
leider bekennen, daß uns die Hauptfigur des Grimm'-
schen Romans, der gräfliche Arthur, in hohem Grade
unbefriedigt gelassen hat. Nicht, daß wir sagen woll
ten, solche Menschen gebe cS nicht; im Gegentheil, die
Erscheinung Artbur'S steht rund und ganz und mit fich
selber übereinstimmend, also lebenswahr genug vor uns,
aber sie ist eine, an der wir im Leben trotz ihrer Bil
dung, gesellschaftlichen Liebenswürdigkeit und Talente
mit Achselzucken vorübergehen würden, und die unS im
Roman au- einem unerquicklichen Eindruck in den
andern verletzt. Wenn wir den Grafen Arthur eine
problematische Natur nennen, insofern man seiner und
seiner Handlungsweise in keinem Augenblick sicher ist,
stets gleicherweise Vernünftiges und Thörichtes von
ihm gewärtigen kann, werden wir ihn nicht unrichtig
bezeichnet haben. Daneben ckarakterifiren ihn unmänn
liche Schwäche und Abhängigkeit von den trivialsten
Aeußerlichkciten. Wir gewahren ihn unter dem Drucke
eines gräflichen NamenS, dem daS Einzige fehlt, wa-
ihn zu Etwas machen könnte, ein entsprechender Besitz
nämlich, unfähig oder vielmehr unlustig, sich eine den
Verhältnissen entsprechende Stellung zu schaffen. Er
liebt Emmy, eine junge reiche Amerikanerin, die ihn
mit einer durch Artdur's Charakter Eigenschaften keines»
wegs erklärten Energie wieder liebt. Ihre Bürgerlich
keit und lbr Reichthum, welcher letztere ihn in den Augen
der klatschsüchtigen Welt vielleicht als Glücksjägcr erschei
nen lassen könnte, verhindern die natürlicheEntwicklung dcS
Verhältnisse-, und gar der Gedanke an die Möglichkeit,
eS könne wahr sein, was boshafte Klatscherei hinge
worfen, daß nämlich jüdisches Blut in Emmy'S
Adern fließe, bringt Arthur zu einer beleidigenden Ver
leugnung der Geliebten, die, von ihr vernommen, daS
Verhältniß gänzlich zu zerstören droht. Emmy kehrt
mit ihrer Mutter nach Amerika zurück; Arthur folgt
ihnen, wieder zur Besinnung und zum Bewußtsein
seiner Liebe gekommen, auf demselben Dampfer, ohne
daß er so viel Kraft und Geschicklichkeit zeigte, eine
Gelegenheit herbeizuführen, sich der Geliebten gegenüber
reuig aussprechen zu können; er weilt in Amerika in
ihrer Nähe. er trifft mit ihr zusammen und kann auch
hier seltsamerweise keine Worte, keinen Weg einer alle-
staltet haben, schließlich gar in GeisteSverstörung stürzen.
Aber Arthur kämpft fich durch all den Unsinn, — wir
können es nicht anders bezeichnen, — der sein naheS,
mit Handen zu greifendes, natürliches Glück bedroht,
hindurch; er trifft mit Emmy wieder zusammen und
Alle- scheint einem befriedigenden Abschlüsse, einem
Triumphe gesunder Vernunft und natürlicher Gefühle
über verschrobene Anschauungen von Menschenwerth
zuzustreben. So find die "unüberwindlichen Mächte"
doch überwunden? Wir erfahren cs nicht, denn un
mittelbar nach dem Erwachen Arthur'- zu Natur und
Vernunft läßt ihn der Dichter durch Meuchelmord von
der Hgnd eines Wahnfinnigcn, der sich für den rechten
Sohn des Grafen, Arthur aber kür einen Bastard hält,
fallen, unterbricht also seine Weiterentwicklung durch
einen Zufall. Für die arme, bedauernswerlheEmmy
bleibt danach nichts Anderes übrig. alS am gebrochenen
Herzen in Montreux am Genfersee zu sterben.
Wir glauben, daß aus dieser Skizzirung de- wesent
lichen Verlaufe- des Romans das Eine mit großer
Deutlichkeit hervorgehe, daß derselbe an einem Haupt-
gebrechen leide, dem nämlich, daß man seinem Haupt,
Helden keine Sympathie, kein Interesse, ja kaum Ach
tung erweisen kann. Wir wollen Arthur nicht einmal
von höherem, rein menschlichem Standpunkte aus be
urtheilen, vor dem es von keinerlei Bedeutung ist, ob
man Graf oder Bürgerlicher, sondern wir wollen den
Standesunterschieden willig Rechnung tragen: er bleibt
auch so nur eine weibische Sensitive in einem männli
chen Körper. Za, wenn er handelte, um dem An.
spruche seines gräflichen NamenS Genüge zu leisten!
Aber er empfindelt nur in krankhafter Weise, und wenn
er etwaS thut, so find eS wunderliche Thorheiten.
Zhm gegenüber gewinnt die Amerikanerin Emmy
fast ausschließlich das Interesse des Lesers, vielleicht
davon abgesehen, daß ihre wiederholte, allzu bereite
Rückkehr zu Artbur. ihr Aussuchen desselben, ihre selbst
ständigen Einwirkungsversuche auf ihn der herrschenden
und sicherlich nicht unberechtigten Vorstellung von dem
Bereiche der Weiblichkeit befremdlich erscheinen müssen.
Die übrigen Personen deS Romans gelangen über eine
schattenhafte Gestaltung kaum hinaus. Selbst Erwin,
das Gegenbild Arthur'-, der auf seinen Grafenstand
mit Bewußtsein verzichtet und in demjenigen eine-
Arztes sich Ansehen und Sicherheit der Lebensstellung
gewonnen hat, um zum Schluffe, wie angedeutet wird,
doch wieder in aristokratische Regionen zurückzukehren,