690 Politische Corresponbenz.
Politische Corresponbenz.
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Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
boten ist, desto mehr wird die Erreichung des Zieles gesichert, desto größer wird
die Hoffnung, daß die gegenwärtige Periode der Stagnation schnell und glücklich
überwunden wird. Indem wir die Ansicht ansiprachen, daß jedem Preußen
ohne Unterschied seiner politischen Richtung die Durchsetzung der Februarforde
rungen eine Sache der Ehre sein muß, können wir leider nicht verschweigen, daß
diese Ansicht nicht von allen Seiten getheilt wird. Wir wollen wiederholt fest
stellen, daß innerhalb jeder Partei Meinungsverschiedenheiten obwalten und daß
namentlich auch einige der hervorragendsten Männer, die wir als die Führer
unserer Partei zu betrachten gewohnt sind, die schleswig-holsteinische Frage anders
ansehen, als wir.
Die Schwierigkeit der auswärtigen Lage hat weder das Ministerium rück
sichtsvoller gemacht in seinem Auftreten gegen die Volksvertretung, noch hat
es den Blick der letzteren geschärft für diejenigen realelt Bedürfnisse des Staats,
die auch unter dem gegenwärtigen Ministerium Befriedigung heischen. Die Mi
litärfrage hat eine Erledigung gefunden, welche die Extreme befriedigt, jeden
andern mit Sorge erfüllt. Jede der beiden extremen Parteien rühmt sich eines
Sieges, weil der Versuch der Vermittelung fehlgeschlagen. Eine von beiden
kann höchstens gesiegt haben. Welche? und ob überhaupt eine von beiden? —
wird erst die Zukunft lehren. Mit der Ablehnung des Amendements Bonin
ist nach menschlichem Ermessen für lange Zeit die Möglichkeit aufgehoben, auf
dem Wege eines Compromisses den Militärconflict zu erledigen. Das Wesent
liche des Amendements war Folgendes: In der Sache hielt es die Reorga
nisation in vollem Umfange fest und befriedigte so die Regierung; in der Form
erfüllte es die Anforderungen, welche die Majorität des Abgeordnetenhauses
an eine zu vereinbarende Militärnovelle stellt. Die Regierung, um es annehm
bar zu finden, hatte Nichts anderes nöthig, als das Vorurtheil aufzugeben, daß
es in einem Staate dauernde Einrichtungen geben kann, die nicht durch ein
Gesetz fixirt werden dürfen. Das Haus, um es annehmbar zu finden, hatte
nur nöthig, die Zahlen an Demselben um Etwas zu vermindern. Man lasse
bei dem Amendement Bonin die Zahlen offen und überlasse es jeder Partei,
jedem Individuum, dieselben nach ihrem Ermessen auszufüllen, und jede Partei,
jedes Individuum kann dasselbe acceptiren. Durch die Gestalt des von Herrn
von Bonin entworfenen Gesetzes war eine Grundlage geschaffen, auf welcher
die Regierung und das Haus über die Zahlen mit einander hätten verhandeln
können. Es wurde durch dasselbe das Princip festgestellt, daß die Friedens
stärke der Armee und manche andere Bestimmungen, über welche das Ministe
rium seit 1859 nach administrativem Ermessen geschaltet hat, der gesetzlichen
Normirung bedürfen. Es ist bekannt, daß die einzelnen Minister kein Beden
ken getragen haben würden, den Antrag zu acceptiren, und daß der Grund,
aus welchem das Ministerium als solch.s sich nicht für denselben ausgesprochen
hat, in Umständen lag, die es nicht zu überwinden vermochte. Ebenso ist nach
den Erklärungen, besonders welche die Abgeordneten Michaelis und Faucher ab
gegeben haben, nickt zu bezweifeln, daß die Majorität des Hauses den Antrag
vorbehaltlich einer Ermäßigung in den Zahlen angenommen haben würde, etwa
gegen die 30 Stimmen derer, welche mit Waldeck und Iacobh die Wehrkraft
des preußischen Staats von der Wiederherstellung der Bürgerwehr von 1848
erwarten — falls das Ministerium sich zuvor dafür erklärt hätte. Eine Eini
gung in dieser Session würde zwar nicht erreichbar gewesen sein, aber sie konnte
angebahnt werden. Unseres Dafürhaltens hätte daS Ministerium die Pflichr
gehabt, entweder die Hindernisse zu beseitigen, die sich einer Erklärung für das
Amendement entgegenstellten, oder sich selbst vor diesen Hindernissen zurückzu
ziehen. Die Majorität hätte die Pflicht gehabt, nach ihrem Ermessen zu han
deln, ohne Rücksicht auf die Stellung, welche das Ministerium einnahm. An
statt dessen erscholl von der einen Seite der Ruf: Keine Verhandlung über die
Militärfrage bevor das Ministerium zurückgetreten ist; von der anderen Seite:
Keine Concession bevor es uns gelungen ist, eine andere Majorität zusammen
zu bringen. Worauf hoffen nun die beiden Extreme, die sich so sehr bemüh
ten, den Versuch einer Vermittelung zum Scheitern zu bringen, und sich jetzt
der gelungenen Bemühung freuen? Die Reactionspartei kann bei Neuwahlen
darauf rechnen Stimmen zu gewinnen, allein eine imposante Majorität wird
sie nicht erhalten. Sie kann bei den gegebenen Verhältnissen nicht darauf rech
nen, die Erlaubniß zu einem Staatsstreiche zu erlangen. Allerdings hat sie
die Reorganisation factisch durchgesetzt und sieht mit einer gewissen Ruhe auf
das parlamentarische Treiben, das dagegen ankämpft; allein die Budgetlosigkeit,
die Dechargelosigkeit wird ihr dennoch beschwerlich. Die Fortschrittspartei kann
auf die Dauer es durchsetzen, daß der factisch bestehenden Reorganisation daS
gesetzliche Gewand vorenthalten bleibt, allein während sie dieses Sieges sich er
freut, wird das Communalleben, das Beamtenthum durch politische Parteibe
strebungen mehr und mehr zerrüttet. Worauf hoffen nun die beiden Extre
me? Niemand vermag es zu sagen. Beide Parteien haben ihre letzten Waffen
verbraucht. Nur unvorhergesehene Ereignisse können eine Aenderung in der Si
tuation herbeiführen. Das parlamentarische Leben in Preußen ist zum Spiele
des Zufalls geworden. Von der Behandlung der Militärfrage in den nächsten
Sessionen können wir uns kein anderes Bild machen, als daß das Ministerium
seinen bekannten Gesetzentwurf immer wieder von Neuem einbringt und das
Haus ihn ohne Debatte, en dloo ablehnt. Dabei werden wenigstens so unwür
dige Scenen vermieden werden, als sie in dieser Session durch unüberlegte An
griffe und plötzliche Rückzüge herbeigeführt wurden.
Der Antrag auf Ablehnung der Gebäudesteuer war ein in jeder Weise
unbegreiflicher Versuch. Praktischen Erfolg konnte er nicht haben. Da entschie
den vorauszusehen ist, daß das Budget wiederum nicht zu Stande kommt, daß
trotzdem die Regierung ohne Budget verwalten wird, so könnte ein einzelner
Budgetbeschluß nicht von Erfolg sein. Nur staatsrechtliche Gründe von unleug
barer Evidenz hätten solchen Beschluß rechtfertigen können, und solche sind doch
gewiß nicht vorgebracht worden.
Verlorene Worte würden wir sprechen, wollten wir für die Bewilligung
der Marineforderungen des Ministeriums an dieser Stelle eintreten. Die Schluß
folgerung: „Weil wir kein Budget haben, verdienen wir auch keine Flotte zu
haben," ist Vielen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie sich nicht
davon trennen können. Oder ein Grund, der vielleicht daS Sachverhältniß