etwas weiter hinunter. Es war eine alte sogenannte Bockmühle,
das Gebäude vielleicht noch malerischer, die Aussicht über die
Stadt, den Dom, das Schloß Gottorf, die Schlei und Haddebye
mit der ältesten Landeskirche ebenso schön wie jetzt. Dort wird
man das Denkmal setzen. Kein Wunder wenn hier ein großer
Landschafter geboren worden. —
Aber so klar sind nicht immer die Beziehungen zwischen Jugend
eindrücken und Entwicklung. Was Carstens dargestellt, das sind,
was er hier nicht, was er mit leiblichen Augen überhaupt nicht
sah, fast nur griechische Menschengestalten: Homer, Achill,
Odysseus, Alcibiades, Socrates, die griechische Unterwelt mit ihren
mythischen Figuren. Was hat er dazu zu Hause empfangen? —
Wer kann cs sagen? Vielleicht doch den Grundstoff zu allem:
Poesie, als Empfindung für Reinheit, Wahrheit und Tiefe. Denn
in seinen Arbeiten ist, wie Goethe sagt, das Verdienst, welches
seine Quelle in der Brust des Künstlers, in den schönen Eigen
schaften seines Geistes und Herzens hat. — Seine Mutter war
eine gebildete Frau, sie trieb unter andern etwas Blumenmalerei,
von ihr bekam er also wohl die erste Anregung zum Zeichnen
und zum Farbengebrauch. Welche Anregung konnte er auch
sonst bekommen in einem Lande, wo man nur Butter macht,
Ochsen gräs't oder Rappsaat und Weizen erzeugt, wo für die
Künste kein Boden, für Künstler keine Luft, wo man nicht
fingt — wie das ja alles längst geschrieben steht. Italien er
zeugte Bildhauer und Maler, der Geist wuchs in Frankreich wie
bei uns die Gerste, am Rhein der Wein und die Sänger. So
hat man uns gelehrt. Oder hätten wir's nicht glauben sollen?
Oder war vielleicht das unsere wahre Schuld, daß wir's geglaubt?
Asmus Carstens besuchte die'Domschule, oder vielmehr er
besuchte, den Dom, denn in der Schule hat er nichts gelernt
noch empfangen. In dessen weiten Hallen verzehrte er sein
Butterbrod, und dann sprach zu ihm ein hoher schleSwig-holstei-
nischer längst abgeschiedener verwandter Geist vom Altare her
unter, dem auch das Vaterland noch ein Denkmal in seinen
Herzen schuldig ist, denn das Monument hat er sich selber ge
setzt : Hans Brüggemann aus Husum, der Schnitzer des Altar-
blattes in der Schleswiger Domkirche. An ihm ist Carstens
zum großen Maler, zum Gründer geworden einer neuen Rich
tung der Kunst, die nach Raphael's und Michelangelo's Zeit mit
einem neuen Princip einsetzte und eben auf diesem fußend eine
frische Blüthe statt der absterbenden künstlichen Blumen möglich
gemacht, ja ihre höchste Entfaltung gewiß noch nicht erreicht hat.
— Doch darüber lasse ich besser nachdem Hermann Grimm als
Autorität sprechen. — Also eine heimische Wurzel! Und von
Schleswig-Holstein aus wäre der Anstoß gekommen zur neuen
Kunst, die dann in Rom Wurzel faßte, deren Zweige in Frank
reich, Belgien, England und Deutschland, auch in Dänemark
durch einen Thorwaldsen aufgeblüht? Und wir hätten kaum auch .
nur davon sagen hören? Wie wär es möglich/ Und doch ist es
einfache Thatsache. Gerade in der allerprosaischsten Marsch und
ihren Grenzen, um Husum, Bredstedt herum, nach Eiderstedt
und Ditmarfchen hinein muß sich im 13. und 16. Jahrhundert
wie in Holland eine Malerschule so hier eine Schule der
Bildschnitzerei entwickelt haben, von der Brüggemann
nur die Spitze war. Ein solches Genie kann niemals einsam
stehen, cs bedarf einer Unterlage an Heuern und Theilnehmern,
begeisterte Mitarbeiter und Abnehmer, mit einem Worte Schule
und Publikum, um so hoch zu ragen und doch zu stehen, so gut wie
ein Thurm einen Unterbau bedarf. Damals ist das halbe Volk
dort ein künstlerisches gewesen. Dies wird auch bestätigt durch
die Unzahl von Schnitzwerken, die leider feit 30 Jahren aus dem
Lande verkauft sind, verschleppt nach England und Frankreich,
bis nach Pau in den Pyrenäen. Manche Pariserin wiegt sich
üppig in einem Lehnstuhl, neu mit Seide gepolstert, den vielleicht
ein Bredstedter oder Ostenfelder Bauer für seine Braut oder
Tochter geschnitzt hat. — Brüggemann's Altarblatt aus Eichen
holz aber ist in seiner Weise so vollendet, wie nur (dem Mate
rial angemessen) die berühmten Thüren von Ghiberti an der
St. Johanniskirche in Florenz, wie sie in genauer Nachbildung
im Krystallpallast in London zu sehen sind, von denen Hermann
Grimm in seinem „Michelangelo" schreibt: „Am 19. April 14*24
wurden die beiden Thüren in ihre Angeln gehoben. Ghiberti's
Ruhm verbreitete sich jetzt in ganz Italien. Ghiberti nebst drei
anderen sind die Gründer einer neuen Kunst, die in Raphael
und Michelangelo zur Blüthe kam." — Ich scheue mich fast
hinzuzusetzen: Brüggemann und Carstens wurden vergessen.
(Schluß folgr.)