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Magazin für die Literatur des Auslandes.
No. 51.
Epoche als die des Nationalitäts--Principes und der großen
Staat-Agglomeration bezeichnete. Indessen wenn der -Pariser-
ganz Frankreich unterwarf, dem Provenzalen die Poesie der
Troubadoure, dem Bretagner die schwermüthigen Gesänge seiner
Barden nahm, ja selbst dem armen Brüsseler, der seinen vlamischen
Ursprung durchaus vergessen wollte, nichts übrig ließ, als ihn
nachzuäffen — der Deutsche gönnt einem Jeden seine Beson
derheit.
Wir möchten die niederländische Geschichte nicht missen; denn
sie hilft uns über Jahre hinweg, die, wenn wir jene nicht auch
unser nennen dürften, gar zu trüb und trostlos wären. Wohl
hatte Deutschland die Reformation erstritten, aber die Glaubens
freiheit war noch nicht gewonnen. Cujus regio, ejus religio hieß
die tyrannische Maxime, nach der die Gewissen in Deutschland
regiert wurden. Die Glaubensfreiheit bestand darin, daß man
aus einem katholischen Lande in ein protestantisches flüchten
durste: wo Parität bestand, wurde doch keine weitere Sekte ge
duldet. Der spanischen Gewaltherrschaft gegenüber entwickelte
sich in den Niederlanden endlich das Princip einer allgemeinen
Toleranz. Es kostete harte Kämpfe, denn die befreiten Calvi-
nisten und Lutheraner hätten gar zu gern Inquisition mit In
quisition vergolten. Den großen -Prinzen von Oranien nannte
man einen Atheisten, weil seine starke Hand zugleich Katholiken
und Anabaptisten beschützte. Aber die gerechte Sache siegte: die
französische Aufklärung von Bayle bis zur Encyklopädie ließ fast
alle ihre Schriften in Holland drucken. Amsterdam lebte
Spinoza, der religionslose Denker. So sc- /eit die Niederlande
die Reformation fort, welche im eigentliche Deutschland zu leerem
tbeologischen Gezänk herabgesunken war. Sie allein waren es
weiter, die den ftanzösischen Eroberungs-Gelüsten einen Damm
entgegenwarfen: ein erster Wilhelm vereitelte die universalistischen
Gelüste des Habsburgers, ein zweiter ebenso großer, die des
Bourbonen. Aber schon kämpfen brandenburgische Truppen mit:
Hollands Macht stecht langsam hin. Als Deutschland den dreißig
jährigen Krieg überwunden und seine Glieder wieder bewegen
kann, als -Preußen erstanden, ist der Ruhm der Niederlande dahin.
Als der Gründer der niederländischen Freiheit, von den ver
gifteten Kugeln des fanatischen Gerard durchbohrt, sterbend zu
Boden sank, ries er aus: Dieu, ayez pitie de mon äme, ayez pitie
de ce pauvre peuple! Gott erhörte sein Gebet nur theilweise.
Ihm wäre es vielleicht gelungen, alle siebzehn Provinzen vom
spanischen Joche zu befreien, oder wenigstens, wenn die Wallonen
die Knechtschaft durchaus vorgezogen, alle diejenigen mit germa
nischer Bevölkerung. So wurden nur sieben -Provinzen ftei und
Parma durfte die vlamischen seinem Könige zurückerobern. Ant
werpen verblühte, der Katholicismus gründete eine seiner festesten
Zwingburgen. Im Königreiche Belgien ist das französische, wal
lonische Wesen obenauf; der spanische Geist ist nicht aus dem
Lande gewichen, trotz aller constitutionellen Freiheit—denn diese
hat bis jetzt nur den Klerikalen Vortheil gebracht: die Scheiter
haufen der Ketzer haben nicht umsonst dnrch's Land geleuchtet.
Allmählich — mit dem Erstarken des großen deutschen Mutter
landes — erholt sich der Vlaming wieder und macht seine ange
borenen Rechte geltend. Schon ist Antwerpen wieder ein blü
hender Handelsplatz geworden, Antwerpen, das man zu seiner
belgischen Freiheit mit Kanonen zwingen mußte. Je mehr es
der vlamischen Bevölkerung bewußt, daß nur im deutschen Geiste
ihre Kraft liegt, desto fester wird sie allen Entnationalisirungs-
Tendenzen entgegenarbeiten können.
Das innerste Leben eines Volkes spricht sich in seiner Lite
ratur und Kunst aus. Hier webt der Geist ftei und unbehindert,
hier ist am leichtesten zu erkennen, was zu einander gehört und
was nicht. Die Niederlande haben Großes geleistet in Musik
und Malerei. Die Malerei scheint sich immer weiter nach Norden
geflüchtet zu haben: als Albrecht Dürer begraben, als die Kölner-
Schule dahin, traten van Dyck, Rubens und Rembrandt auf.
Wie Italien und -Niederland analog sich entwickelten auf den
Handel: hier Antwerpen, dort Venedig; aus die Malerei, so auch
auf die Musik: beide erreichten hier das Höchste, als Deutschland
noch nicht viel von seiner ureigensten Kunst wußte, als Sebastian
Bach noch nicht geboren war.
Die mittelalterliche Literatur der Niederdeutschen ist ein inte-
grirender Bestandtheil der deutschen National-Literatur. Aber
auch die anderen Perioden halten mit den unsrigen Schritt. Trotz
alles mannhaften Kämpfens gegen den großen König Ludwig,
unterlagen die Holländer derselben Invasion des französischen
Geistes, der die Deutschen ein Opfer wurden. Was Freiheit
und Staatsleben sei, hätte ein Opitz lieber in Leyden lernen
sollen: er aber profitirte dort nur die hölzernen Regeln einer
unnatürlichen Poesie. Vondel, der bedeutendste holländische
Dichter, bewahrt in seinen Dramen allerdings gewisse Eigenthüm
lichkeiten, die im niederländischen Leben wurzeln: das ist aber
auch Alles. Neues Schaffen kommt in die holländische Literatur
erst, als auch die deutsche aus ihrem Schlummer erwacht. Eine
große, monumentale Persönlichkeit besitzt diese Literatur nicht:
denn trotz alles nationalen und staatlichen Selbstgefühls, ist sie
ein Dialekt: noch nie redete ein Genius im Dialekte, da er aus
der Tiefe des Dolksgeistes geboren wird, dessen Gewand die all
gemeine Sprache ist.
Wenn wir etwas an dem Buche des Herrn Wijnne auszu
setzen haben, so ist es, daß er die neuere Geschichte mit allzu
großer Ausführlichkeit behandelt. Der Freiheitskampf und die
Blüthezeit müßten den größten Raum einnehmen, denn da liegt
Hollands Ehre, da kann der Holländer sich erinnern, was es heißt
und kostet, eine Geschichte zu haben! — Die Geschichte der nieder
ländischen Literatur, welche auch die vlamischen Schriftsteller be
rücksichtigt, bringt tüchtige Charakteristiken und Biographieen
der einzelnen Autoren, sowie mit Geschick ausgewählte Proben und
ist zum Nachschlagen sehr empsehlenswerth. H. H.
Beim Anblicke der schönen Vautier'schen Illustrationen zum
„Oberhof" ist uns öfter die Frage entgegengetreten, warum wohl
die Erzählungen des besten schweizer Volksschriftsteüers noch so
wenig sich der künstlerischen Ausbeutung und Ausschmückung zu
erfteuen gehabt? Denn ein Erzähler, der wieJeremias Gott
helf (Albert Bitzins) aus der tiefsten Anschauung und aus dem
genauesten Verständniß von Land und Leuten heraus schildert,
der so wunderbar zu individualistren versteht, und so behaglich
bei idyllischen Bildern zu verweilen, dessen Sprache und Witz
so durchweg volksthümlich und herzlich wirken, er müsse, meine
ich, vor Andern einen Maler zu den lieblichsten Genre-Bildern
*) Sechs Erzählungen aus dem Emmenthal von Jeremias Gott
helf. Mit Illustrationen von G. Roux, Fr. Walthard und A. Anker.
Berlin, 1872. Julius Springer. (Bern, K. Sd)mid.) 286 S. in 4.
Schweiz.
Aus dem Bernerland.*)