Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Essays

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Magazin für die Literatur des Auslandes. 
No. 51. 
Ausrüstungs-Gegenstände, Munition, Lebensmittel u. s. w. ver 
langt; er vermag nichts, als nach allen Winden mit einem „Helft 
euch selbst!" zu antworten. So einschneidend treten schon bei 
den ersten Märschen Nahrungssorgen und Bekleidungsmangel zu 
Tage, daß Verfasser es mehrmals wie ein Glück betrachtet, daß 
die französische Armee sich nicht vorweg in Feindesland gewagt, 
denn sie würde mit dem: Helft euch selbst! nicht weit gekommen 
und bald isolirt worden sein. Nach diesem nicht sehr tröstlichen 
Bilde wendet sich Fay zu den Feldzugsplänen, die doch nicht so 
feststehend gewesen sein müssen, als der Kaiser nachträglich hat 
glauben machen wollen, denn sonst würde man die Armee nicht 
aus die ganze Gränze vertheilt haben. Auch die an Einem Tage 
zehnmal wechselnden Marschbefehle sprechen nicht dafür, daß 
man genau gewußt, was man wollte. 
„Die Nacht vergeht damit", so schreibt Fay am 4. August 
in sein Tagebuch, „Befehle und Gegenbefehle zu expediren; ich 
will nur ein Beispiel anführen, damit man von der Unsicherheit 
aller unserer Bewegungen in diesen ersten entscheidenden Tagen 
des Feldzugs einen Begriff bekomme. Bei der ersten Nachricht 
von jenem Uebergange preußischer Truppen bei Trier, erhielt 
die Garde Befehl, aus Metz auszurücken, dann ihre Bivouaks 
nicht zu verlassen, endlich ist sie an diesem Morgen aus Wolme- 
range dirigirt worden; einige Stunden später erhielt sie den 
Befehl, nach Metz zurückzukehren; aber dieser Ordre folgte un 
mittelbar eine neue Instruction, welche die frühere aufhob, und 
diesem Corps für den folgenden Tag die Stellung Courcelles- 
Chaussy zuwies. Das ist der Hauptcharakter aller Pläne und 
Ideen beim Beginne des Krieges: Befehle und Gegenbefehle 
folgen und kreuzen sich ohne Ende, so daß die Armee-Corps sich 
in zwecklosen Märschen abnützen, ermüden und desorganisiren, 
bevor sie nur an den Feind gekommen sind. Eine Oberleitung 
ist wegen ihrer Vielfältigkeit so gut wie gar nicht vorhanden." 
Von den Stellungen und der Zahl der gegenüberstehenden 
deutschen Truppen hatte man niemals eine Idee; während diese 
ihre Kavallerie ebensowohl zur Auskundschaftung der französischen 
Stellungen, wie zu ihrer eigenen Verhüllung auszunützen wuß 
ten, hat die französische Heerführung, wie Fay klagt, während 
des ganzen Feldzugs nicht gewußt, wozu sie überhaupt Reiter 
und Pferde füttert. Sehr interessant sind die dem Tagebuche 
anvertrauten Eindrücke und Bettachtungcn, welche sich an die 
Nachrichten von den Niederlagen bei Weihenburg, Spichern und 
Wörth knüpfen. Ueber den fluchtartigen Rückmarsch von Wörth 
giebt ein im Anhange mitgetheilter Auszug aus dem Tagebuche 
eines bei Sedan gefallenen Offiziers ein überaus lebendiges, 
wenn auch tief düsteres Bild. 
Von dem beabsichtigten Rückzüge der Rhein - Armee auf 
Chalons sprechend, schiebt der Verfasser die Hauptschuld der 
Verzögerung, in Folge deren sie auf Metz zurückgeworfen wurde, 
der unendlichen Bagage von oft sehr entbehrlichen Dingen zu, 
die man mit sich führte: „Bazaine hatte Unrecht, die Bagagen, 
unsere wunde Stelle bis zum letzten Tage, nicht schonungslos 
vermindern zu lassen; dieselben halten am 14. und 15. unsern 
Marsch auf, der gerade sehr schnell hätte sein müssen, und geben 
uns nach einem Ausspruche der auf Aller Lippen ist, das Aus 
sehen der Armee des Darms." Nachdem Fay an den bereits 
klanglosen Abschied des Kaisers von der Armee (am 14. August 
in Metz) einige Bemerkungen über die Wandlungen menschlicher 
Größe und Hoffnungen geknüpft, folgt die Schilderung der drei 
blutigen Schlachttage bei Metz, die den Mittelpunkt unseres 
Interesses für das Buch einnehmen, welche aber keines Auszugs 
fähig ist. Man bettachtete den ersten Zusammenstoß als einen 
entschiedenen Sieg; zum erstenmal war Jubel in der Armee, und 
der Kaiser begrüßte am Abend Bazaine, der nach Moulins zu 
ihm kam, mit dem Zuruf: „Nun Marschall, Sie haben also den 
Zauber gebrochen?" Auch die Schlacht bei Nezonville zählt der 
Verfasser zu den Erfolgen der französischen Waffen und meint, 
daß es ein großer Fehler gewesen sein würde, die Rhein-Armee 
auf Metz zurückzudrängen — „wenn" dieses genügenden Proviant 
gehabt hätte. Die blutige Schlacht von Gravelotte hat in Fay's 
Darstellung eine Beimischung von furchtbarer Komik; Bazaine 
kehrt im frohen Bewußtsein, sie gewonnen zu haben, nach seinem 
Hauptquartier Plappeville zurück, ohne Ahnung, daß beim ein 
brechenden Abend, sechs Kilometer (J Meilen) davon, bei Saint- 
Privat erst die Entscheidung stattfindet. „Es läßt sich in der 
That für sein Wegbleiben von einem Schlachtfelde, auf welchem 
sich der König, der General v. Moltke und zwei preußische Ar 
meen befanden, kein anderer Grund denken, als daß man einfach 
sagt, er habe keine Ahnung von der Wichtigkeit der Schlacht ge 
habt." Unterdessen war die Umgehung der französischen Armee 
gelungen. Es wird Manchem unglaublich erscheinen, daß Bazaine 
in Plappeville nicht den Kanonendonner von St. Privat ver- 
nommen hat, während man später in Metz die Beschießungen 
von Monmedy, Toul und Verdun aus resp. 72, 52 und 60 Kilo 
meter Entfernung vernommen hat. Allein Windrichtungen und 
Terrain-Verhältniffe haben den wunderbarsten Einfluß auf die 
Schaüfortpflanzung, wozu Referent aus eigener Erinnerung hin 
zufügen kann, daß man an einzelnen Tagen den furchtbaren 
Kanonendonner der Batterieen von Meudon und Chatillon in 
dem kaum eine halbe Meile davon entfernten Dörfchen Chaville 
absolut nicht vernahm. 
Die Armee war nunmehr um Metz eingeschlossen, hatte aber 
nichtsdestoweniger mit Mac-Mahon Depeschen gewechselt, in der 
Absicht einander womöglich zu Hülfe zu kommen und gemeinsam 
weiter zu handeln. Leider fehlte cs bei der Rheinarmee bereits 
an Munition. Da wurden in den Eisenbahn-Magazinen Vier- 
Millionen Kartuschen entdeckt, deren Existenz Niemand „ahnte!" 
Man konnte also in der That ein Paar Versuche machen, nach 
Sedan durchzubrechen, doch geschah der zweite Versuch erst zur 
Zeit der Schlacht bei Sedan, und wenn er gelungen wäre, wür 
den die „Sieger" gerade den mit der Armee Mac-Mahon's fer 
tigen Deutschen „zur Fortsetzung" in die Arme gelaufen sein. — 
Man sah nachher den unabsehbaren Zug der Gefangenen von 
Sedan, unweit Metz vorüberziehen, und hielt die Bewegung 
anfangs für eine großartige Dislokation der deutschen Truppen. 
Die inzwischen in die Festung gelangten Gerüchte von den un 
geheuren Ereignissen und Umwälzungen, die sich in Folge der 
Schlacht und Capitulation von Sedan vollzogen, die Gefangen 
nahme des Kaisers und die Erklärung der Republik fanden 
natürlich nur sehr geringen Glauben, und erst als Prinz Friedrich 
Carl in einer Anwandlung rauhen Kriegshumors, ihnen zur 
Auswechselung einige Hundert Sedan-Gefangene nach Metz hinein 
sandte, gewöhnte man sich allmählich an die furchtbare Wahrheit. 
Im hohen Grade anziehend ist der tageweise Bericht über 
die nach und nach sich einstellenden Proviant-Sorgen. Zunächst 
mangelte Futter für Pferde. Man nährt sie zum Theil mit welken 
Blättern und mit den jungen Aesten der Weinrebe. Aber trotz 
dem daß man bereits am vierten September mit der Verthei- 
lung von Pferdefleisch begann, also täglich Hunderte zur Schlacht 
bank geführt werden, verfallen Viele dem Hungertode. Es wäre 
ein bedeutender Vortheil gewesen, wenn man sogleich eine größere 
Anzahl hätte schlachten und das Fleisch einsalzen können, aber 
gerade an Salz herrschte der empfindlichste Mangel. Glücklicher 
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weise fand sich im Bereiche des Einschließungs-Ringes eine schwache 
Salzquelle, aus welcher man zwar nicht mit Erfolg Salz ge 
winnen, aber doch das Wasser zur Suppen- und Speisen-Berei- 
tung, sowie zum Brodbacken entnehmen konnte. Die meisten 
Ausfälle, welche gemacht wurden, hatten den Zweck, Getraide- 
und Stroh-Vorräthe aus den nahen Ortschaften wegzunehmen. 
Ein großer Durchbruchs-Versuch, wie ihn der Verfasser für zwei 
fellos ausführbar ansah, wurde nicht wiederholt, und verlor mit 
der Zeit immer mehr an Wahrscheinlichkeit des Gelingens. Die 
Noth steigt täglich höher, und der „Regen regnet jeglichen Tag", 
Trübsinn und Krankheiten in Menge erzeugend. Man beginnt, 
sich bis an die feindlichen Vorposten zu wagen, um dort auf den 
nicht abgeärndteten Feldern Kartoffeln zu sammeln. Der Verfasser 
kann nicht umhin, das Mitgefühl des Feindes zu loben, welcher 
die armen Leute nicht nur nicht belästigt, sondern ihnen hier und 
da die eigene Ration des kostbaren Salzes zu den Kartoffeln 
geschenkt habe. Marschall Canrobert sah sich genöthigt, durch 
Tagesbefehl diesen Verkehr mit den feindlichen Vorposten zu 
verbieten, während auch die deutschen Truppen Befehl erhielten, 
auf die Kartoffelsammler zu schießen, was übrigens jene durch 
die Noth gegen die Lebensgefahr gleichgiltig gewordenen Leute 
kaum hinderte, ihre Arbeit fortzusetzen. 
Der Verkehr mit der Außenwelt wurde zwar von den Ein 
schließenden erleichtert, allein bei dem begreiflichen Mißtrauen 
der Eingeschlossenen zog man cs meistens vor, seine Briefe kleinen 
Ballons anzuvertrauen, welche ein Apotheker in Metz zu expe 
diren verstand. Oberstlieutenant Fay kann sich nicht enthalten, 
dem einen derselben, der auch von ihm Briefe trägt, den Gruß 
an die „nach Frankreich" ziehenden „Segler der Lüfte" nachzu 
rufen, welchen Schiller der Maria Stuart in den Mund legte: 
„Ich bin gefangen, ich bin in Banden — Ach, ich hab' keinen 
andern Gesandten! — Frei in Lüften ist eure Bahn." u. s. w. 
Der Verfasser gehört nicht zu den blinden Preußen-Hassern; er 
sammelt mit einer gewissen Vorliebe edelmüthige Züge vom 
Feinde, und theilt voller Mitgefühl Stellen aus einzelnen Briefen 
mit, die er bei verschiedenen, auf dem Schlachtfelde verschiedenen 
deutschen Soldaten gefunden, besonders, wenn sie vom baldigen 
frohen Wiedersehen in der Heimat sprechen! 
Inzwischen werden die zum Theil wunderlichen diploma 
tischen Sendungen besprochen, die des Bourbaki nach Chislehurst, 
des General Boyer nach Versailles und England. Die Noth 
erreicht den höchsten Grad, denn auch das Pferdefleisch droht 
endlich auszugehen; die armen Thiere nagen die Baumrinden 
ab und fressen einander gegenseitig die Schwänze ab; man führt 
die zusammenbrechendLn Thiere möglichst bei Lebzeiten nach dem 
Schindanger, da man den überlebenden jede unnütze Anstrengung 
ersparen muß. Das Schreckensgespenst der Capitulation kommt 
immer näher heran. Der Gedanke an einen Durchbruchs- 
Versuch, welcher den Verfasser drängte, seinen General mit 
stillen Vorwürfen zu überhäufen, erscheint ihm nunmehr selbst 
hoffnungslos; aber daß diese mehr als Hunderttausend Mann, 
ohne einen letzten Schwertstreich die Waffen strecken sollen, 
ist ihm auch ein sittchterlicher Gedanke. Freilich, wer sollte 
von dem zusammentretenden Kriegsrath wohl noch „männ 
liche Entschließungen" verlangen, „wo seit vielen Jahren schon 
ein entnervendes System Offiziere und Soldaten, sogar Bürger 
von den Gedanken an Opfer für das Vaterland entwöhnt hat?" 
wie soll man da ein „Moriamur“ erwarten, das Männer erfor 
dert! Das Tagebuch endigt mit schrecklichen Bildern aus den 
Tagen der Capitulation: „Ein kleiner Regimentswagen hat 
auf einer Brücke umgeworfen, die Leute haben sich nicht die 
Mühe genommen, ihn wieder aufzurichten; das arme gefallene 
Pferd aber war sofort zwischen seinen Gabeldeichseln zerstückt 
worden, und war noch folgenden Tages als blutiges Skelet da 
selbst angespannt zu erblicken." 
Das Buch wird überall durch sein gesundes Urtheil, und 
durch die verständige leidenschaftslose Sprache ansprechen. Jeder 
wird es mit Theilnahme und Nutzen lesen, und nicht am wenigsten 
bei dem alten Soldaten durch die vielfachen Zeichen eines leb 
haften Mitgefühls für das Unglück Anderer erfreut werden. Die 
Schilderung der Operationen ist klar und die Darstellungsweise 
überall anmuthend. Ernst Krause. 
Holland. 
Niederländische Geschichte und Literatur?-) 
Schlagbäume und Gränzlinicn können ein Volk nicht ab 
schließen — sein Geist reicht überall hin, wo er Fleisch von seinem 
Fleische und Bein von seinem Beine findet. Seit Jahrhunderten 
nun schon führen die Niederlande eine von Deutschland gesonderte 
politische Existenz, und selbst damals, als sie noch dem heiligen 
römischen Reiche angehörten, hatten sie sich doch bereits in 
ihrer vollen Eigenthümlichkeit entwickelt, unterschieden sich ihre 
Bewohner so scharMvon den übrigen Bewohnern der deutschen 
Tiefebene, daß sie au^. eine eigene Individualität unter den euro 
päischen Nationen gelten durften. Trotzdem sind es Söhne des 
deutschen Stammes, die diese fruchtbaren Marken dem Meere 
abgerungen haben; trotzdem hat die äußerliche Abschließung gegen 
das große Mutterland Niederland innerlich nie ganz von Deutsch 
land losreißen können. Nie wird dieses etwaige Rechte recla- 
miren und im Stile des ersten Napoleon decretiren, Holland sei 
nur eine Alluvion deutscher Ströme und die Holländer vergeß 
liche Auswanderer aus deutschen Gauen. Gewiß sind wir über 
zeugt, daß die Zukunft das fast ganz zerrissene Band zwischen 
den germanischen -Niederländern — seien es Vlamingen oder 
Holländer — wieder herstellen und fester und fester verknüpfen wird; 
aber Deutschland wird ihre Selbständigkeit, ihre große Vergangen 
heit achten und ehren, denn Deutschland ist nicht Frankreich. 
Aber die Niederlande selbst werden einsehen, daß sie ihre Kraft nur 
in der erwachten Treue gegen die alte Heimat finden können, daß 
von dort her, wo die Ströme entspringen, in denen ihr Ldben 
pulstrt, auch die geistigen Ströme fließen, welche sie vor schwäch 
lichem Alter schützen und ihnen die Jugend zurückgeben. Nur in 
fester Freundschaft mit Deutschland, nur in rückhaltloser An 
lehnung an das neue Reich liegt die Gewähr, daß die Nieder 
lande auch noch ferner eine Geschichte haben und den glorreichen 
Tagen der Vorfahren etwas mehr hinzuzufügen sein wird, als 
statistische Notizen, Regenten- und Ministerien-Wechsel. Wie viel 
hat das nordische Phönicien eingebüßt! Jener fünfte Erdtheil, 
den seine kühnen Seeleute im fernen Oceane entdeckten, seine 
Niederlassungen am südlichen Ende Afrikas, seine amerikanischen 
Colonieen, Alles ward ihm genommen! Einst die erste Macht 
Europas, ist es jetzt ohne Stimme im Rathe der europäischen 
Nationen. Wohl hatte Napoleon IH. Recht, wenn er unsere 
*) Nederlandsche Letterkunde door D. de Groot, L. Leopold en 
R. R. Rijkens. Te Groningen, bij J. B. Wouters, 1871. 
sieschiedenis van het Yaderland door Dr. J. A. Wijnne. Derde 
Druk. Ibid.
	        

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