© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
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Magazin für die Literatur des Auslandes.
Erscheint jeden Sonnabend. Herausgegeben von Joseph Lehmann. Preis vierteljährlich 1 Thlr.
40. Iahrg-1 Berlin, den 23. Dezember 1871. [N°- 51
Inhalt.
Deutschland und das Ausland. Herman Grimm s ausgewählte Essays
über moderne Kunst. 727.— Die Notenschrift des Mittelalters. 729.
— Jahrbuch des deutschen Protestanten-Vereins. 729. — Eine
neue Schiller-Ausgabe. 730.— Schriften über den Krieg. 730.
Frankreich. Tagebuch eines Offiziers der französischen Rhein-Armee. 731.
Holland. Niederländische Geschichte und Literatur. 733.
Schweiz. Aus dem Bernerland. 734.
Dänemark. H. I. Ewald, der dänische Novellist. 735.
Italien. Marianna Florenzi-Waddington. 735. — Der archäologische
Congreß in Bologna. 736.
England. Zwei irländische Volksparteien und Ordens Bündnisse. 737.
Nord-Amerika. Die deutsch-amerikanischen Friedensfeste. 737.
Kleine literarische Revue. Deutsche Bibliographie von 1801—1868.
739. — Meyer's Handlexikon des allgemeinen Wissens. 739. —
Kompaß für Auswanderer. 739. — Zur Erinnerung an Henrich
Steffens. 739. — Eine Dorfgeschichte von Katharina Diez. 739. —
„Herr Klappenborg." 740. — Ein antiliberales Lebensbild. 740. —
Schweizerklänge. 740. — Brockhaus' Ausgaben spanischer und italiä
nischer Autoren. 740. — Neue Uebersetzungen alter Schriften. 740.
Literarischer Sprechsaal. Die Tollhäusler der Pariser Commune. 741.
— Geistesleben der Kinder. 741. — Religiöse Bewegung in Indien.
741. — Salomonisches Urtel eines amerikanischen Rabbiners. 741.
Benachrichtigung.
Die Erneuerung des Abonnements wird hiermit den geehrten
Abonnenten in geneigte Erinnerung gebracht.
Die Verlagsbuchhandlung.
Deutschland und das Ausland.
Herman Grimm's ausgewählte Essays über moderne Kunst.*)
Die junge Kaiserstadt Berlin besitzt einen artistischen Denker,
von dem man sagen kann, er habe Goethe's knnstphilosophische
Erbschaft übernommen; es ist Herman Grimm, dessen Vater und
Vatersbruder, Wilhelm und Jacob Grimm, die Leuchten der ger
manistischen Sprachforschung, die Erwecker einer tieferen wissen
schaftlichen Erforschung unserer Muttersprache gewesen sind. Aber,
wenn Herman Grimm den deutschen Redefluß leicht und un
muthig, mit sicherer Meisterschaft entwickelt und eine große Ge
schmeidigkeit der stlistischen Formen offenbart, ist er doch selbst
in formaler Hinsicht ein echter Sprößling des Goethe'schen Kunst-
Idealismus; er ist im engsten Sinne ein Geistesverwandter der
Pfleger des Goethekultus, dessen Ueberlieferungen er zum Heilig
thum seines Hauses erkoren hat. Freilich geht ein Mann der
modernen Zeit nicht in Ueberlieferungen auf. Wer diesen geist
reichen und anregsamen Kunstphilosophcn nur nach den Ein
gebungen, die aus dem Kreise Arnim-Brentano nachweisbar
wären, oder als einen Ausläufer der Romantik beurtheilen wollte,
würde seiner Eigenthüntlichkeit nicht Genüge thun. Herman
Grimm steht, so weit es in Kunst und Wissenschaft überhaupt
möglich, auf eigenen Füßen; er hat als Aesthetiker viel zu tief
in den innersten Schooß des Schönheitsbereiches geschaut, viel
zu mannigfaltige Eindrücke verarbeitet, um lediglich von den
Verhältnissen, unter denen er zu wirken begann, bestimmt zu
werden. Dieser liebenswürdige Geist hat sein festes Maaß in
*) Zehn ausgewählte Essays zur Einführung in das Studium der
vtodernen Kunst, von Herman Grimm. Berlin, Ferd. Dümmler's Ver
lagsbuchhandlung, 1871. (VI. u. 356 S. Mitteloctav.)
sich; er ist deutscher und nationaler, als er dem oberflächlichen
Betrachter erscheinen dürfte; er ist ein Kind und ein Bürger
unserer Epoche und weil er das ist, hat er den natürlichen Beruf
der Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Gegenwart und
den künstlerischen Errungenschaften der neudeutschen Klassicität.
Sein jüngstes Werk: „Zehn ausgewählte Essays zur Ein
führung in das Studium der modernen Kunst" bietet uits nicht
nur eine reichhaltige Quelle von Anregungen zu selbständiger
Forschung, sondern auch ein farbensattes Bild seiner ästhetischen
Anschauungsweise und sogar seines persönlichen Charakters. Her
man Grimm's Kunsturtheile sind Herman Grimm durch und
durch; in jedem Satze fast spiegelt sich die Persönlichkeit des
Autors wieder. Er schildert nicht sowohl die artistischen Objecte,
sondern dasjenige, was die Gegenstände ihm zu denken und zu
empfinden gaben, und am liebsten und besten schildert er deshalb
die Kunstwerke aus der Lebensgeschichte ihrer Meister heraus.
Der feinfühlige Denker, der „über Künstler und Kunstwerke" so
trefflich zu schreiben wußte, hat von vornherein darin den Kern-
j Punkt dieser Probleme getroffen, daß er den seelischen Zu
sammenhang von Künstler und Kunstwerk, von Meister und
Schöpfung, in den Vordergrund schiebt. Es ist dies nach unserer,
von keiner Parteimeinung dictirten Ansicht ein hohes ästhetisches
Verdienst. Der nur kann einen Künstler begreifen, der ihn in
seinen schöpferischen Momenten gleichsam vor Augen sah und der
allein empfängt von einem Bilde oder Denkmal eine lichtvolle,
des Kunstideals würdige Vorstellung, der aus dem Werke auf
die schöpferischen Momente des Meisters zu schließen vermag.
Das Essay: „Raphael und Michelangelo" ist in dieser
Beziehung typisch zu nennen. Bei aller Fülle des Stoffs, der
die Abhandlung besonders auszeichnet, waltet eine durchsichtige
Klarheit in der Charakteristik beider Kunstheroen Italiens. Man
! merkt es den Wendungen des Autors an, daß seine innerste
! Sympathie der Schöpfungsart Michel Angelo's folgt; denn das
Wirken des Letzteren verkörpert recht eigentlich den Titanenkampf
des Genius, der in jeder Natur wie in jedem Gemälde, wie
selbst in seinen Sonetten aus die anbetend verehrte Vittoria Co-
lonna, Marquise von Pescara, das geheimste Triebrad der Werk
statt seines Strebens enthüllt. Was Michel Angelo geschaffen,
giebt Kunde von dem dämonischen Drange nach Gestaltung, der
seine Seele rastlos angestachelt hat. Es weist jenseits der un
mittelbaren Erscheinung aus deren sieghaften Urheber hin; es
nimmt nicht völlig gefangen, wie Raphael's Madonnen-Köpfe,
welche den Maler über das Bild vergessen machen und den Be
trachter eintauchen in ein Meer von Schönheit und erhabenster
Vollendung; es läßt dem Beschauer seine ästhetische Freiheit, weil
es selbst aus der Freiheit geboren und durch den Freiheitsdrang
des Meisters, der die Materie groß und gewaltig bezwungen hat,
Persönlich geadelt worden ist. Mit Recht vergleicht Herman Grimm
Raphael mit Mozart, Michel Angelo aber mitBeethoven. Die Erste
ren zeigen, was sie geschaffen haben als ein Abgeschlossenes, in
sich unverrückbar Fertiges, die Letzteren, wie sie geschaffen haben
und worauf ihr unerschöpfliches Ziel ging. Keine von beiden
Gestaltungsarten entbehrt der ureigenen Größe, die Raphael's
und Mozart's entspricht mehr dem romanischen, die Michel An
gelo's und Beethovens mehr dem germanischen Genius.