© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
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geartet daß der Denkproccß der thätige» Menge, oder der Menge die thätig sein
kann, sich bei ihm nur rascher reproducirt oder von ihm vorausgenommen wird.
Herman Grimm geht nun von dem intellectuellen Enthusiasmus aus,
er hat keinen praktischen Zweck; wenn ein Zweck gelegentlich hervortritt, auch Wohl
mit Heftigkeit, so geschieht es immer nur im intellectuellen Jntcresie: Anlegung
von Museen, Kunstschule in Rom u. s. w.; der augenblicklicheZweck ist nur Mittel
zu Höherem. Bei Treitschke ist der Zweck das Höchste. Darum wird es Herman
Grimm viel schwerer Fühlung mit der Menge zu behalten: nicht bloß weil er eine
wahre Scheu vor jeder Trivialität hat, und jedes Wort verschmäht das ihm nicht
ganz eigen angehört, sondern auch weil die Menge viel leichter sich von demjenigen
ergreifen läßt der ihr sagt: »gehe dahin und thue das," als von dem der sie auf
fordert im Genuß zu denken.
Die Mehrzahl der heutigen Menschen will im Genuß ruhen, ihre Arbeit, ihr
eigentliches Leben ist anderswo; Herman Grimm will den Genuß zur Arbeit, zu
fcer heiligsten Angelegenheit des Menschen machen. Er wird erst da wahrhaft
Mensch wo er sich interesielos und doch enthusiastisch dem Edelsten hingibt. Sonst
forderte nur die Kunst den Enthusiasmus heraus, er soll sich jetzt über die ganze
intellectuelle Existenz ausdehnen.
Indem ich Herman Grimm charakterisire, zeichne ich damit zugleich eine sehr-
merkliche Richtung der neuestenZeit, gegen die er freilich oft genug im leidenschaft
lichen Gegensatz zu stehen scheint. Es wäre überhaupt thöricht den Geist einer
Zeit aus ihrer Durchschnittsphysiognomie studieren zu wollen: nur das Eigenartige
ist symbolisch für das Allgemeine.
„Unsere Zeit," sagt Herman Grimm in der Abhandlung über Dürer, „ist
die der gelehrten Forschung. Jedermann, der heut irgend im Stande war sich aus
dem thierischen Zustand interesseloser Unwissenheit empor zu arbeiten, sucht Theil-
Nehmer zu werden, der ungeheuren unsere Generation beherrschenden Verbindung
geweiht, der wisienschaftlichen Untersuchung alles Vorhandenen. Der diesen Ar
beiten entströmende Reiz ist allmächtig heute."
„Fühlen wir nicht ein gränzenloses Verlangen zu wiffen von allem Großen
und Schönen was geschieht und was geschaffen wird, und je geschah und geschaffen
ward, um betheiligt zu sein daran? Wir möchten es erjagen, athemlos, und es an
uns reißen. Wir möchten zugleich mitten im Wirbel des Pariser und Londoner
und amerikanischen Lebens rc. im einsamen Schiffe sein, wo an menschenleeren
nördlichen Buchten ein Forscher sanft den Boden des Meeres in die Höhe windet
und seine Formen untersucht u. s. w."
Als Kant einmal sämmtliche Verhältnisse des Kreises untersuchte, wurde er
von der überraschenden Uebereinstimmung so gerührt, daß er, wenn ich mich recht
erinnere, sogar von Thränen sprach. Nun klingt es wunderlich genug an einen
mathematischen Lehrsatz gemüthliche Regungen zu knüpfen, aber die Sache ist rich
tig: der intellectuelleEnthusiasmus beruht aus der Bewunderung darüber daß die
Welt der Erscheinung in ihrer ungeheuren Mannichfaltigkeit, in ihrer Fülle und
ihren Widersprüchen der Ausdruck von Gesetzen ist, und daß alle Gesetze der Welt
ein System bllden; er beruht auf der Freude daß sich das Einzelne als das Allge
meine erweist.
Das Mitgefühl dieser Freude bewirkt daß wir den minutiösesten wiffen-
fchaftlichen Untersuchungen Jacob Grimms mit innerer Erregung des Gemüths
folgen. Ich erwähne gerade ihn mit besonderer Freude, weil sich aus seiner Art
der Arbeit, die doch dem Neffen ein heiliges Vorbild war, manche von den Eigen
thümlichkeiten desselben erklärt.
Bei einer früheren Gelegenheit habe sich gesagt: Herman Grimms kleine
Kunstwerke litten an dem Fehler daß die Thür öfters zu groß sei für das Haus.
Der Ausdruck ist richtig, und ich bleibe dabei stehen. Es kommt noch dazu daß die
Thür öfters im andern Styl angelegt ist als das Haus. Z. B. die Einleitung zu
Albrecht Dürer über das wiffenschaftliche Treiben der Gegenwart wird zwar sehr
geistreich mit dem was folgt in Zusammenhang gebracht, aber das hebt doch den
Acbelstand nicht auf daß sie etwas mehr enthält als das Verständniß und der
logische Zusammenhang erfordert. Allein es handelt sich hier nicht um etwas zu
fälliges, sondern um eine bleibende Eigenschaft, die in der innersten Natur des
Schriftstellers begründet ist, und in einem solchen Fall darf man einem bedeutew
den Menschen gegenüber kaum mehr den Ausdruck „Fehler" gebrauchen.
In den kleinen Schriften Jacob Grimms findet sich dieselbe Eigenthümlich
reit wieder. Nur tritt sie nicht so stark hervor, weil die Gegenstände des älteren
Gelehrten einen kleineren Raum einnehmen: es handelt sich bei ihiren immer nur
Am Sprache und Sitten der deutschen Vergangenheit: was sonst vorkommt ist
Nebensache, und so ist zwischen der Einleitung und der eigentlichen Abhandlung
Angesucht überall ein sachlicherZusammeirhang. Die Eigenthümlichkeit desjüngern
aber liegt darin daß er mit seinen Gedanken und Empfindungen sich gleichzeitig m
so vielen und entlegenen Gebieten des Wissens bewegt, daß man zuwellen durch
den Uebergang von einem Gedanken zum andern geradezu überrascht wird.
Was ferner bei Jacob Grimm in seinem engeren Gebiet bestimmtes Wissen
war, ist bei dem jüngeren oft nur Ahnung, inneres Bedürfniß des Geistes; es ist
ihm' eine subjective Nothwendigkeit den einzelnen Fall im Licht einer Idee zu er
blicken, und umgekehrt. Nicht immer bricht das Allgemeine durch das Individuelle
mit Naturkraft durch: dann sucht er es, zuweilen mit Unruhe. Oft trifft er es so
glücklich daß man förmlich erschrickt, so schön ist der Ausdruck: ein andermal wic-
ber weicht das gesuchte Bild zurück, und er greift nach einem neuen; um das rich
tige Gesetz zu finden, wechselt er die Gesichtspunkte unaufhörlich: er sieht nach dem
Gegenstand von allen Seiten, er beleuchtet ihn in allen Verhältnissen und Verkür
zungen, nicht sowohl um den Gegenstand selbst in seiner ganzen concreten Fülle an
schaulich zu machen, als um alle Gesetze ans Licht zu bringen die sich in ihm ver
zweigen.
Ich sagte: „Die Beziehung des Einzelnen zum Allgemeinen ist bei ihm oft
mehr Ahnung als Wissen." Es gilt das aberhiicht von ihm allein. Nach meinem
Gefühl vollkommen richtig schildert er das Tasten der eigentlichen, der erfindenden,
der productiven Wissenschaft. Einzelnes festzustellen ist durch geschulte Arbeit
möglich; aber was ihr die Hauptsache sein muß, die gesetzliche Combination des-
elbcn, das ist eine Function die nicht nach wissenschaftlicher Methode erfolgt. Je
nach dem subjectivcn Gefühl, je nach den Voraussetzungen die man mitbringt, sieht
man Zusammenhang wo vielleicht keiner ist, und umgekehrt. „Unmöglich, die volle
Wahrheit zu ergründen; dennoch ruht unsere Neugier nicht, nicht unser Trieb die
Ereigniffe und Charaktere zu rcconstruiren." (Abhandlung über Raffael.)
„Wahrhaft wissenschaftliche Forschung geht aus von Ideen, deren Herkunft
wir nickt kennen. Ein geheimer Zusammenhang des Mannes und der Dinge auf
die er sich richtet, scheint von Anfang an nothwendig. Der echte Geschichtschreiber
hat etwas von einem glücklichen Spieler, dem ein Dämon immer die Augen und
die Hand auf die Zahlen zu leiten scheint welche Treffer sind." (Abhandlung über
Voltaire.)
„Wer die Dinge dadurch kennen lernen will daß er sie zerlegt, die Gedanken
dadurch daß er sie entwirrt und im einzelnen verfolgt, die Geschicke der Menschen
und Völker dadurch daß er sie theilt, diese Theile zum zweitenmal und drittenmal
theilt, und immer vom Kleineren zum Kleineren fortschreitet — der nimmt eine
unendliche Arbeit vor, zu der ihn die menschliche Unvollkommcicheit nicht geschickt
genug macht."
„Was wir an großen Gelehrten bewundern, ist nicht der ungeheure Vorrach
ihrer Kenntniffe, sondern der dunkle Trieb durch den geleitet sie zu sammeln be
gannen, und der sie in ihrem Geiste zu Resultaten der Erkenntniß ordnete; das
Wunder das geschah, indem die Betrachtung der Dinge den Menschengeist zu einem
schöpferischen Theil der Welt gestaltete. Die Ahnung des Ganzen, die ihm inns-
wohnt, bildet den Gegensatz zu der ungeheuren Zersplitterung in einzelne Symptome,
in die sich alles Leben auflöst sobald wir es in den kleinsten Momenten betrachten
wollen. Sie läßt uns die Welt, die in Staub zu zerfließen droht wdnn wir mit
den Händen nach ihr greifen, so fest dennoch erfaffen, daß nicht ein Atom ihrer Un
endlichkeit verloren geht. Unsere Neugier nach rückwärts und vorwärts ist keine
Spielerei ohne Zweck und Ziel: tragen wir ein Gefühl der Dinge in uns, so lernen
wir sie kennen, und alles nirmnt Gestalt an und wird wahrhaft." (Abhandlung
über Macaulay.)
Ich weiß nicht ob der Verfaffer in dieser letzten Stelle unmittelbar Jacob
Grimm vor Augen gehabt hat: sie paßt aber auf ihn auf das genaueste, und er
klärt das wunderbare Phänomen wie ein Mann so häufig die gemeinen Regeln
der wisienschaftlichen Forschung übertreten und dennoch den ungeheuersten Fort
schritt machen konnte, den unser Jahrhundert, ja man kann wohl sagen, den in
dieser bestimmten Wiffenschaft irgendein Jahrhundert gemacht hat.
Das Eigene bei Herman Grimm ist nun daß sein Enthusiasmus ihm selbst
Gegenstand wird. Er ist Dichter und Kritiker, beides toächst nicht völlig zusammen,
zuweilen tritt der eine, zuweilen der andere Pol seiner Natur ausschließlich hervor.
Das Einzelne ins Licht des Allgemeinen zu stellen ist der Dichter wie der Kritiker
geschäftig, und dabei wechseln beide oft ihren Standpunkt: natürlich ist dem Dich
terdas Bild, also das Einzelne, der Kritiker bringt durch Reflexion den allgemei
nen Gedanken hinzu; dann aber bemächtigt sich auch der Dichter durch Enthusias
mus des Allgemeinen, und der Kritiker hat durch Forschung die Anwendung aufs
Einzelne nachzutragen. Diesen Wechsel des Standpunktes muß man im Auge behal
ten um manche scheinbare Widersprüche zu verstehen.
Die intellectuelle Genußfähigkeit ist bei ihm in einer Weise gesteigert wie
es in frühern Jahrhunderten kaum möglich war, und er hat das tiefe Bedürfniß
diesen Genuß mitzutheilen, sich über ihn auszusprechen, nicht wie ein Redner, sondern
wie ein Lyriker. Daher die entschieden subjective Färbung seiner Abhandlungen.
Es könnte das mißverstanden werden, da das Vorurtheil noch immer sehr
verbreitet ist, jede streng wissenschaftliche Arbeit müffe trocken und langweilig sein,
und folglich, was nicht trocken und langweilig ist, sei unwiffenschaftlich. Herman
Grimm ist immer höchst anziehend, anregend und unterhaltend; eben deßwegen
zweifeln sogenannte Kenner an seiner Gründlichkeit. Sie verwechseln die Arbeit
mit dem Resultat der Arbeit. Herman Grimm weist die Arbeit nur selten vor,
er drängt künstlerisch das Resultat zusammen, dem oft gewiß eine recht trockene
und langwier ige Arbeit voran gegangen ist. Z.B. die philologisch gründliche Durch
arbeitung sämmtlicher Dramatiker des 16. und 17. Jahrhunderts: mancher
Gelehrte der nicht sehr unterhaltend, sondern sehr langweilig zu schreiben versieht,
wird doch einen gelinden Schreck darüber haben. So kann man sich auch in seinen
kunsthistorischen Schriften darauf verlassen daß er das, worüber er spricht, mit
eigenen Augen gesehen und gründlich geprüft .hat, gleichviel ob man mit seinen
Resultaten einverstanden ist, oder nicht. Ich glaube nicht daß man sich bei allen
Kunsthistorikern darauf verlaffen kann.
Die subjective Färbung liegt nicht in der wisienschaftlichen, sondern in der
künstlerischen Methode. Als Künstler sucht er oft die Dinge uns gegenständlich zu
machen, nicht indem er sie selber zeichnet, sondern indern er seine Empfindungen
ihnen gegenüber ausmalt. Ich wähle meine Beispiele aus dem „Michel Angelo."
Gleich zu Anfang. Er will uns Florenz und Athen vergegenwärtigen; wie
macht er das? — Er steht zuerst ganz in der Ferne und beschreibt was er zu sehen
glaubt, dann tritt er näher, ganz nahe; der Eindruck ändert sich völlig. Er tritt
wieder auf den alten Standpunkt zurück, und das erste Bild ist wieder da. Indem
er sich nun über diesen Widerspruch Rechenschaft gibt, wird das was wir sehen
sollen, in uns viel deutlicher hervorgebracht als wenn er es in der hergebrachten
Weise beschrieben hätte.
Ferner Rom. „Man meint, als die Welt geschaffen sei, da hätte an dem
Fleck der Erde wo Rom steht eine Stadt aus dem Boden wachsen müffen, auf
sprossend ohne menschliches Zuthun. Bei andern Städten könnte man denken: hier
war einst eine wüste Fläche u. s. w., bei Rom sind solche Gedanken fast eine Un
möglichkeit. Bei Berlin, Wien, Paris, könnte ich mir einen Sturm denken der
alles vomBoden abmähte, in Rom aber scheint es als müßten die Steine sich selbst
wieder zu Palästen zusammenfügen, wenn eine Erschütterung sie auseinanderrisse,
als sei es gegen die Gesetze des Daseins daß die Höhe des Capitols ohne Paläste,
Tempel und Thürme sei."
So der Lyriker; nun folgt aber die ergänzende Kritik. „Es ist ein Uebel-
stand daß man sich, um dergleichen Gedanken auszudrücken, fester Bilder mit be-
gränztem Inhalt bedienen muß. Praktisch genommen sind es werthlose Gedan
ken: Rom kann einmal so gut wie Babylon und Perfepolis mit Stumpf und
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Stiel ausgerottet werden. Dennoch liegt in diesen Phantasien ein Inhalt höherer
Art, und die Nothwendigkeit ist vorhanden sie zu sagen. Das Gefühl des Ewigen,
Unvergänglichen sollte ausgedrückt werden, das uns in Rom beschleicht; die Liebe
zu dieser Stadt aller Städte."
Darum ist es nothwendig daß Hennan Grimm das über Rom aussprechen
muß? — Es ist eine subjective, eine lyrische Nothwendigkeit, sein Gefühl zwingt
ihn dazu, und wer ihn deßhalb der Uebertreibung ziehe, dem Würde er mit Faust
antworten: „Wenn ich empfinde, für das Gefühl, für das Gewühl nach Namen
suche, keinen finde, dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife, nach allen höch
sten Worten greife, und diese Gluth, von der ich brenne, unendlich, ewig, ewig
nenne —" ist es dann eine Lüge?
Es ist nicht allein die Uebermacht des Gefühls, die den Künstler dem Kriti
ker voraustreibt, so daß dieser ihn erst einholen und nachträglich ergänzen muß: der
Grund für sein starkes Colorit, das bei Unaufmerksamen den Widerspruch heraus
fordert, liegt zugleich in seiner künstlerischen Methode. Wenn man die Gegenstände
nicht an sich. sondern durch ihren Reflex im Gefühl des Anschauenden malen will, so ist
es nöthig stärkere Farben anzuwenden, damit der zweite Reflex noch herauskomme.
Du ferner ein solches Spiegelbild immer nur eine Allegorie sein kann, da Bild und
Urbild sich nie vollkommen decken, so ist eine gewiffe Freiheit in der Wahl der Ver
gleichungen, ja ein gewiffer Wechsel derselben, der mitunter den Schein des Wider
spruchs annimmt, vollkommen gerechtfertigt. Freilich darf man diese Form der
Darstellung nur schonend anwenden, well sie, oft angewendet, das Bild insSchillern
bringt.
Zuweilen, wenn er nach einem recht bezeichnenden Symbol seiner Ideen und
Empfindungen hascht, das sich ihm immer wieder entzieht, klagt er das Medium der
Darstellung an. „Man betrachte die Sprachen, wie diese heut allmächtigen Werk
zeuge des geistigen Verkehrs abgenutzt und ausgenutzt sinh, und wie sie in einem
immer geringern Maße brauchbar werden die tiefsten Gedanken des Menschen voll
wichtig in sich aufzunehmen. Große Gebiete unseres Seelenlebens bedürfen neuer
Gestaltung und neuer Worte. Man sehnt sich vergebens nach dem Munde der sie
ausspricht: man traut keiner Sylbe mehr, weil die Sprache zu viel eingebüßt hat
von ihrer jungfräulichen Macht, und kaum mehr fähig ist das Geheimnißvolle zu
bergen und zu bewahren." (Essay über Saraceni.)
Ist das nicht zu hart geurtheilt? — Ich führe eine Autorität an, die er
nicht verwerfen wird. In der Einleitung zum „Wörterbuch" sagt Jacob Grimm
freilich: „Wer unsere alte Sprache erforscht» sieht anfangs sich unvermerkt zu den
Denkmälern der Vorzeit hingezogen und von denen der Gegenwart abgewandt.
Je weiter aufwärts er klimmen kann, desto schöner und vollkommener dünkt ihn
die leibliche Gestalt der Sprache; je näher er ihrer jetzigen Faffung tritt, desto
weher thut ihm jene Macht und Gewandtheit der Form in Abnahme zu finden."
„Allein," setzt er hinzu, „auch die neue Zeit weiß schon ihren Anspruch zu erheben.
Nicht nur ist der neue Grund und Boden viel breiter und fester als der oft ganz
schmale lockere und eingeengte alte, sondern jener Einbuße der Form gegenüber
steht auch eine geistigere Ausbildung und Durcharbeitung. Was dem Alterthum
doch meistens gebrach, Bestimmtheit und Leichtigkeit der Gedanken, ist in weit größe
rem Maß der jetzigen zu eigen geworden, und muß auf die Länge alle lebendige
Sinnlichkeit des Ausdrucks überwiegen. Sie bietet einen ohne alles Verhältniß
größeren, in sich selbst zusammenhängenden und ausgeglichenen Reichthum dar,
der schwere Verluste, die sie erlitten hat, vergessen macht."
Und ebenso Unrecht wie dem Medium im allgemeinen thut er seinem eignen.
Mitunter freilich versagt ihm die Sprache, weil er ihr zu viel zumuthet, und dann
wird er hypochondrisch; oft aber erweist sie sich ihm als ein gefügiges und mäch
tiges Instrument, auf dem er Passagen zum Ausdruck bringen kann an die sich im
vorigen Jahrhundert auch ein Virtuose nicht gewagt haben würde: und man merkt
ihm an wie herrlich ihn das freut.
Grimm hat für die deutsche Literatur den Ausdruck „Essay" eingeführt und
durchgesetzt: der Ausdruck paßt hauptsächlich für ihn. Für ihn ist darum alle
wissenschaftliche Arbeit ein Essay, weil er die Unendlichkeit der Aufgabe nicht bloß
deutlich erkennt, sondern leidenschaftlich fühlt; er fühlt ebenso leidenschaftlich nicht
bloß die Unzulänglichkeit seiner eigenen Mittel, sondern der Mittel überhaupt welche
die Sprache bietet, um das Allgemeine und das Endliche in Zusammenhang zu
setzen. Jeder Gedanke des Zusammenhangs schießt wie eine Ahnung in seinem
Geist auf, und er ist reich an solchen Blicken; dann bemüht er sich diese Gedanken
in einander zu verschlingen. Was man aber von jedem Schriftsteller mehr oder
minder sagen kann der nicht gerade nach der Schablone schreibt, gilt von ihm im
eminenten Grad: er wird von seinen Gedanken beherrscht, sie kommen über ihn
ohne Zuthun seines Willens, und es gelingt ihm nicht immer sie zu leiten wohin
er will.
Ueber diese Unfertigkeit des eigenen und des menschlichen Denkens und
Schaffens im allgemeinen ergießt sich ein gewisser Schmerz in den Ausdruck seiner
Schriften. Man hat ihm gegenüber genau das Gefühl das er gegen Lionardo
ausspricht: gerade dieser irrationelle Rest übt einen großen Reiz; man tritt dem
Schriftsteller gemüthlich näher, auch wo es sich nur um wissenschaftliche Fragen
handelt. Freilich würde es der Contrast allein nicht machen, sondern nur der
Contrast zwischen einem unendlichen Wollen und einem -großen, wenn auch an
das Wollen nicht binanreichenden Können.
Die naturhistorische« Sammlungen des bayerischen Staates.
-tö- In der Unterstützung naturwissenschaftlicher Bestrebungen wetteifern
hcutzutag alle Culturländer. England und Amerika verwenden seit Jahren wahr
haft riesige Summen auf naturwissenschaftliche Unternehmungen aller Art. In
Deutschland stehen uns zwar jene reichen Mittel nicht zu Gebot, aber immerhin
zeigt sich auch hier ein erfreulicher Wetteifer unter den einzelnen Staaten. Allent
halben entstehen chemische, physikalische, physiologische und ähnliche Institute, die
selbst weitgehenden Ansprüchen genügen. Auch für Naturgeschichte scheint eine
bessere Aera zu beginnen. In Berlin geht man mit dem Plan um die reichhaltigen
naturhistorischen Sammlungen in einem würdigen Gebäude unterzubringen: irr
Karlsruhe ist eben ein Palast für den gleichen Zweck fertig geworden, und in Wie«
hat man bereits den Grundstein zu einem großartigen Museum gelegt. Württem
berg ist allen deutschen Staaten mit rühmlichem Beispiel vorangegangen. Scho»
seit 1865 erfreut sich Stuttgart eines geräumigen, stylvollen, im schönsten Theile
der Stadt gelegenen Gebäudes, dessen Erdgeschoß von der geognostischen Abthei
lung der „vaterländischen Naturaliensammlung" eingenommen wird. Ein einziger
Saal von riesigem Umfang enthält in geschmackvoller Aufstellung sämmtliche berg
männische Products, Mineralien, Gesteine und Fossilien Württembergs. Im ersten
Stockwerk ist die ganze einheimische Dhierwelt zur Schau gestellt. Die bekannterer
Arten von Säugethieren und Vögeln sind öfters zu Bildern von künstlerischem
Werthe vereinigt. Man steht hier ganze Familien, Männchen, Weibchen und
Junge, in Stellungen gruppirt wie sie nur ein aufmerksamer Beobachter dem Leben
ablauschen konnte. Alle weitern Räume des Gebäudes werden von den allgemeinen
naturwissenschaftlichen Sammlungen erfüllt.
Wie dürftig nimmt sich neben diesem Muster-Institut des Nachbarlandes
die Behausung der bayerischen naturhistorischen Staatssammlungen aus! Und
dieß in München, dessen Bedeutung als Weltstadt hauptsächlich auf seinen glänzen-
dm Musem jeder Art beruht; in München, das sich mit berechtigtem Stolze seines
Reichthums an monumentalen Bautm rühmt!
Allerdings für die Gemälde und Sculpturm der Künstler hat man Paläste
gebaut, in denen alles aufgeboten wird um die Schönheit der einzelnen Objecte
zur Geltung ju bringen und die Annehmlichkeit des Beschauers zu erhöhen. Die
naturhistorischen Sammlungen dagegm befinden sich in einem alten klosterartige»
Gebäude mit niedrigem Thorweg, mit schwer findbarm Aufgängen, mgm Treppen
und dunklen, labyrinthischen Gängm. Von dm zahlreichen Räumen im Innern
sind viele bei allen sonstigen Vorzügen für ihren jetzigm Zweck wenig geeignet
einzelne geradezu ungenügend. Vor allem fehlt ihnen der erforderliche Zusammen
hang, wodurch wmigstens die umfangreicheren Sammlungen in mehrere getrennt
Parcellen zerrissen sind. Wägend der Wintermonate macht die riesige Kälte jeden
längern Aufenthalt in diesen unheizbaren Räumen zu einem gesundheitsgefähr
denden Wagestück. Darum sind auch die naturhistorischen Sammlungen nur im
Sommer der unbehinderten wissenschaftlichen Benützung und dem Besuche des
Publimms zugänglich.
Welche Fülle von Belehrung und Anregung könnten aber diese Samm-
lungm in die weitestm Kreise verbreiten! Sind sie doch in großartigem Maßstab-
angelegt, und behaupten sie doch in ihrer Art keine niedrigere Rangstufe als ihre
der Kunst geweihten Schwester-Institute. Trotzdem sind sie den meisten Münchener»
nur vom Hörensagen bekannt. Auch von dm Fremden findet nur ein kleiner Bruch
theil den Weg zum Akademie-Gebäude. Noch die fleißigsten Besucher trifft man
unter der lembegierigen Jugend und unter der ländlichen Bevölkerung. Während
des Octoberfestes sind alle Räume von Menschen überfüllt; leider müssen aber
gerade an diesen Tagen mehrere Abtheilungm der Staatssammlungm wegen
mangelnder Circulationswege geschlossen bleiben.
Rur ein neues zweckmäßiges Museumsgebäude könnte dem heutigm Be
dürfniß der wissenschaftlichen Staatssammlungen in Münchm gmügm. Wir
würden aber auch die Errichtung eines speciell bayerischen naturhistorischen Mu-
smms, nach dem Muster des bereits in Württemberg existirendm, für einen wesent
lichen Fortschritt und für ein wirksames Anziehungsmittel gerade auf die einhei
mische Bevölkerung halten. Gegenwärtig verschwinden die vaterländischen Pro
ducts unter der Masse von ftemdem Material. Wer sich von den in Bayern vor
kommenden Mineralien, Gebirgsarten und Versteinerungen oder von der bei unS
existirenden Thierwelt ein Bild verschaffen will, wird in mancher Provincialsamm-
lung leichter zum Ziele gelangen als in München. Ohne reichhaltige, allgemeine
Samnllungen ist dm beschreibenden Naturwissenschaften allerdings jede Fori-
mtwicklung abgefchnittm. Arbeiten von weitern Gesichtspunkten bedürfen meist
ein so umfangreiches Material, wie es mit den bescheidenen Mitteln der Univer
sitätsattribute nicht mehr zu beschaffen ist. Dafür müssm einzelne, wohlauS-
gestattete Centralmusem als wissenschaftliches Arsenal dienen. Daneben sollte
jedoch die Pflege der Naturgeschichte des engem Vaterlandes nicht vernachlässigt
werden. Gerade die Sammlungen von streng localem Charakter erfreuen sich vor
züglich der Gunst sowohl der fremden Fachgelehrten als des Publicums. Der
äußerst lebhafte Besuch der „vaterländischen" Abtheilung des Stuttgarter Natu-
raliencabinets beweist am besten welches Interesse die Bevölkerung an diesem
Institut nimmt. Das Interesse beschränkt sich aber nicht allein auf die Betrach
tung der vorhandenen Gegenstände, es äußert sich oft genug in werthvollm Ge
schenken.
In Bayern ließe sich aus dem bereits vorhandenen Staatseigenthum cm
naturhistorisches Nationalmuseum zusammmstellen, das dem württembergischm
zum mindesten gleich käme. Unser Land ist größer, in geologischer Hinsicht man-
nichfaltiger zusammengesetzt und reich an Naturproducten aller Art. Würde man
aus den mineralogischen, geognostischen, Paläontologischen und zoologischen Samm
lungen daS Vaterländische ausscheiden, und diesem etwa noch die bei der geognosti-
scheu Aufnahme gewonnenen Belegstücke beifügen, so wäre damit das Material zu
einem Landesmuseum von imponirender Reichhaltigkeit gewonnen. Zu einem der
artigen Unternehmen würden sicherlich auch die Kreissammlungen oder Private
einzelne Prachtstücke beisteuern, die jetzt unbeachtet und wenig bekannt in den ver
schiedenen Landestbeilen zerstreut liegen. Im Akademie-Gebäude wäre fteilich em
solchesLandesmuseum nicht unterzubringen. Jeder Ausdehnungsversuch der Samm
lungen würde die bereits vorhandene Zerstückelung bis zur Unerträglichkeit steigern,
ganz abgesehen von andern kaum überwindbaren Schwierigkeiten. An die Errich
tung eines isolirten vaterländischen Museums dürfte im Interesse der wissenschaft
lichen Benützung noch weniger gedacht werden. Es scheint uns durchaus nöthig
daß die mineralogischen, zoologischen und andern Abtheilungen des Landesmuseum
unter denselben Fachmännern stehen welche die entsprechenden Haupisammlunger.
verwalten, und daß alles in einem Hause vereinigt bleibe.
Wenn die beschreibenden Naturwissenschaften, die in Bayern lange Jahre
im Vergleich zu den schönen Künsten karg ausgestattet und fast stiefmütterlich be-