© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
Nr. 46.
Donnerstag, 15 Februar
1872)
Correapoadenzen sind an die Redaotlon, Inserate an die Expedition der Allgemeinen Zeltnng franco zu richten. Insertionspreis nach anfliegendem Tarif.
Verlag der I. G. Cotta'scheu Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. I. v. Gosen.
Uebersicht.
Herman Grimm. Von I. Schmidt. (I? — Die naturhistorischen Sammlungen
des bayerischen Staates. — Die Ne,orm des Wahlgesetzes in Ungarn. — Die
Ophirfrage.
Neueste Posten. München: Se. Maj. der König. Aus den Kammeraus
schüssen. — Industrie, Handel und Verkehr.
Telegraphische Berichte.
* London, 14 Febr. Die „Times" constatirt daß bezüglich der Alabama-
Frage eine heilsame Wendung der öffentlichen Meinung in Amerika sich bemerkbar
macht. Das Blatt drückt die Ueberzeugung aus: England werde jede Gelegenheit
freudig begrüßen welche eine Versöhnung der Ansichten beider Theile herbeizufüh
ren im Stande wäre. — Wie es heißt, erhielt gestern der Unionsgesandte Schenck
die Antwort auf die Note Granville's.— Die „Morning Post" sagt: Die Unions
regierung beharrt in festen, aber freundlichen Ausdrücken bei ihren Forderungen.
Diese Depesche aus dem Hauptblatt hier wiederholt.
(*) Berlin, 14 Febr. Die „Provincial-Correspondenz" enthält einen län-
zern Artikel welcher die Ausführungen der „Kreuz-Zeitung" betreffend die Rede
des Fürsten Bismarck vom 30 Jan. im einzelnen widerlegt. Der Artikel schließt:
„Der plötzlich mit so großer Entschiedenheit hervortretende Widerspruch der „Krz.-
Ztg." ist in hohem Grade überraschend. Die Regierung wird aus demselben
nur entnehmen können daß derjenige Theil der konservativen Partei, welchem diese
Zeitung dient, den Augenblick für geeignet hält um der Politik Bismarcks offen
entgegenzutreten."
* StraHburg, 14 Febr. Das eidgenössische statistische Bureau theilte
der hiesigen Bibliotheksverwaltung Namens des schweizerischen Bundesraths mit
daß derselbe, die Bemühungen der Kantone zu Gunsten der Wiederherstellung der
Straßburger Bibliothek unterstützend, je ein Exemplar der Bundespublicationen
derselben zuweise.
* Bukarest, 14 Febr. Die Consuln überreichten eine Collectivnote,
Schutz für die bedrängten Israeliten fordernd, indem sie jedoch gleichzeitig die ge
troffenen Regierungsmaßregeln anerkennen. In Galatz wurde ein Ruhestörungs-
Versuch unterdrückt.
* Frankfurt a. M., 14 Febr. SröffmmgScm-sk. O sttrr. Creditacttea 361%,
Staatsbahu 419 %, 1860er L. —, 1882er Amerikaner 95%. Lombarden 221, Silber-
reute —, Galizier —, Banltacierr —. Tendenz: günstig.
(*) Frankfurt a. M., 14 Febr. Schlußcurse. Bayer. 5proe. Aul. v. 1870
100%, bayer. 4%proc. Aul. 100, 4proc. bayer. Präuu-Anl. 115%, 4%proc. bayer.
Ostbahll 153%, neue Emission —, mit 40 Proe. Ein;. 132, Älsenzbahn 127, bad.
Prämien-Aul. 114%. 1882er Amerikaner 96, Söln-Mindeuer-L. 98%, österr. Silber»
reute 63 %, Papierrente —, 1860er L. 91, 1864er L. —, Bankacnen 884. Tredit-
actien 363% Lombarden 221%, Staatsbahu 420% neue 261, Elisabeth 267, Franz-
Joseph Prior. 90, Rudolfsb. Pr. 83%, Ungar. Ostbahn Prior. 74%, span. Zproc. auöl.
Sch. 31%, Napoleons 9.20%, Darmstädter Bank 475, bohrn. Westbahu—, Nordwest-
bahu 90, Oberhesieu 87. Wechsel: Loudon 118%, Paris 92%, Wien 103%.
Tendenz: sehr fest.
(*) Frankfurt a. M., 14 Febr. Nachbörse. Oesterr. Treditacüen 3614z, Staats
bahu 420, 1860er L, 91, 1882er Amerikaner 96, Lombarden 220%, Silberreute
63%k, Galizier 273, Elisabeth 257, Bavkactieu 886, Spanier 315/% neue Staatsbahu
260%, Böhmen 278, Deutsch-östcrr. B. 117%, bayer. Handelbank 119% Raab-Loose 88.
Tendenz: sest.
(*) Frankfurt a. M., 14 Febr. Schlnßnottmngen. (ErgänzuugSdepesche.) Zproc.
GtaatSbahn-Prior. 59%, Sproc. Südbahm-Prior. —, Zproc. Südbahm-Prior. 50,
Ungar. Nordost-Prior. 78, bproc. ital. Rente 65%. 6proc. Pacific Central 88% ?proc.
Chicago 86%, 7proc. Oregou-C-lis. 74.
(*) Frankfurt a. M., 14 Febr. Abeud-EffecteusocietA. 1882er Amerikaner
Bonds 96, Silberreute 63% 1860er L. 91% Creditactien 363%, Lombarden 221%,
Staatsbahu 420%, Galiüer.I73% Elisabeth 257, 3proc. span. ausl. Sch. 31%^, neu«
Staats bahn 260, Baukaeli^k 884% Raab Grazer Loose 88 %, Elbthalbatzu 199. Ten
denz: fest. . Zjr
Weitere telegMhischc Curs« und Handelsberichte s. fünfte Seite.
Herman Grimm.
Zehn ausgewählte Cffays zur Einführung in das Studium der modernen Kunst. *)
Von Julian Schmidt.
V ' i.
)ie Aufschrift ist nicht glücklich gewählt; sie erregt Erwartungen die nicht
befriedigt werden: man denkt an eine Vorschule für Anfänger in der Kunstgeschichte,
statt dessen findet man eine Reihe von Studien für den Kenner. Auf die Methode
bey Zusammensetzung will ich nicht näher eingehen. Es ist überhaupt nicht meine
Absicht nur über die vorliegenden Effays zu schreiben, sondern über den Essayisten,
der eine eingehende Charakteristik mehr als irgendein anderer seines Faches ver
dient.
Ist es aber überhaupt erlaubt und recht einen noch Lebenden, der vielleicht
^mitten seiner Entwicklung steht, charakterisiren zu wollen?
In dem Probeheft der Zeitschrift „Ueber Künstler und Kunstwerke, "Januar
1865, erklärt Herman Grimm die Beschreibung von Werken lebender Künstler
gänzlich auszuschließen.- Ein Urtheil ist nur nützlich wenn es unumwunden aus
gesprochen wird: wie aber sollte Lebenden gegenüber eine solche Unumwundenheit
gestattet sein? „Man erwäge was Urtheil sagen will: nicht ein Hin - und Herreden
über Nebendinge, ein Halbaussprechen des einen, ein Halbverschweigen des andern;
Artheilen heißt: scharf ins Auge fassen was wirklich die lebendige Mitte des Werks,
oder des Charakters seines Urhebers bildet, und ohne Rücksicht zu rcknnen geben
*) Bertis, DttmMter.
welchen Rang man ihm anweist. Wer'chatte den Muth dem besten Freund im
geheimsten Vertrauen ganz offen alles zu sagen was er über ihn denkt? Es müßten
grausame Dinge ausgesprochen werden, wollte man die Gedanken voll zu erkennen
gebend die man hegt im Angesicht dessen was durchschnittlich auf dem Markte des
Lebens zu Tage kommt."
Herman Grimm sagt das zwar nur in Bezug auf Werke der bildenden
Kunst, aber es paßt ebenso auf alle Gattungen der Kunst und Literatur. Für ein
zartes und stolzes Gemüth hat jedes Urtheil, auch das freundlichste und günstigste,
etwas unbehagliches, ja die Unbehaglichkeit steigert sich je tiefer die Sonde ein
dringt. Es ist als wenn der Arzt unsern Leib beklopft um die Organe zu unter
suchen: wenn er auch alles im normalen Zustande findet, so ist es doch verdrießlich
daß er in Dinge eingreift die uns allein gehören.
Allein manches Verdrießliche und Unbequeme muß dennoch geschehen. Die
Kritik auch über Lebende ist nothwendig. Herman Grimm gibt im Verfolg seines
Aufsatzes selber den Grund an: „Ihr letztes Ziel ist das Volk zu bilden, damit
dieses seine Künstler besser erziehe; immer ist es das Publicum gewesen das seine
Künstler aufzog und zur Blüthe brachte." Das Publicum soll daran gewöhnt
werden über das was es genießt, und genießen soll, zu denken: in diesem Sinn
bringen selbst mißwollende und einseitige Kritiker Nutzen.
Freilich ist ein völlig unbefangenes Urtheil erst über Geschiedene möglich.
„Es liegt in unserer Natur erst das Vollendete als ein Ganzes zu begreifen und
zu genießen, und leider bedarf es des Todes ehe ein Mensch für den allgemeinen
Anblick als ein Vollendeter dasteht."
„Leider!" Denn es sollte anders sein. Gerade an jener Stelle beklagt sich
Herman Grimm über die geringe Anerkennung die Cornelius findet (damals
lebte er noch), und sucht dein Verständniß des Publicums durch Kritik zu Hülfe zu
kommen. Er hat seine eigene Methode des Urtheils, jeder hat die seinige: da§
Urtheilen an sich aber ist nicht zu verwerfen, es ist vielmehr nützlich und sogar
nothwendig, wenn das Publicum dazu gebildet werden soll „seineKünstler besser zu
erziehen."
Nur eins sollte der Kritiker festhalten, um der Gefahr der „Grausamkeit"
zu entgehen: er sollte über das „was durchschnittlich auf den Markt des Tages
kommt" seine Gedanken für sich behalten, wenn er überhaupt welche darüber hat;
er sollte „den vollen Ausdruck seiner Gedanken" für solche Dinge aufsparen die
Werth sind durchdacht zu werden. In diesem Sinn wird die gegenwärtige Kritik
geschrieben.
Von Herman Grimms Entwicklung ist mir wenig bekannt. Er hat das
Glück gehabt in dem auserlesensten Kreise des geistigen Lebens aufzuwachsen, er
hat vieler Menschen Städte gesehen: mit besonderer Vorliebe und Nutzen hat er
in Italien verweilt. Der „Michel Angelo" ist schon vor zwölf Jahren geschrieben,
Grimm war damals in den ersten dreißiger Jahren; unter den Effays sind einige
noch älter. Die neuern zeichnen sich Wohl durch größere Reife aus, allein der geistige
Zuschnitt der ältesten und der jüngsten ist so übereinstimmend, daß man bei ihrer
Charakteristik kaum nöthig hat auf die Zeitfolge zu achten. Ich habe keinen Zweifel
daß dieser geistige Zuschnitt im wesentlichen unverändert bleiben wird.
Herman Grimm zu charakterisiren hat eine eigenthümliche Schwierigkeit.
Er hat seine Ideen in die verschiedenartigsten Effays verzettelt, aus denen man sie
zusammensuchen muß, um durch ihre Combination seine eigentliche Weltanschauung
zu erkennen. Er hat sie, und sie ist ihm sehr fest, aber überall tritt sie in anderer
Färbung auf, je nachdem das augenblickliche Gefühl ihn veranlaßt die eine oder
die andere Seite stärker hervortreten zu lassen. Daher finden die Gegner überall
bei ihm Widersprüche, wobei es ihnen freilich mitunter begegnet einen Widerspruch
zu finden wenn er einmal sagt: „die Sonne ist rund," das anderemal: „sie ist hell."
Zuweilen muß man aber wirklich den einen Ausspruch aus dem andern nicht bloß
ergänzen, sondern corrigiren. Sein Denken wird überall durch ein lebhaftes Ge
fühl getragen, also durch etwas Subjektives, und in seiner Abneigung gegen alles
Triviale macht er reichlich Gebrauch von dem was er dem wissenschaftlichen Geist'
unserer Zeit als Recht zuspricht: „EineUnbefangenheit ist eingetreten, die wir selbst
mit einer gewissen Verdutztheit ansehen: wir blicken mit einer Kühnheit nach allen
Seiten um uns der nichts unerreichbar scheint.... es ist eine Jagd nach neuen Ge
sichtspunkten." Ich habe in seinen sämmtlichen Effays die Stellen hervorgesucht
m denen seine bleibende Ueberzeugung den prägnantesten Ausdruck findet. Der ge
wöhnliche Leser nimmt diese Stellen, die sich auf das Allgemeine beziehen, nur so
mit in den Kauf: es ist aber sehr der Mühe werth sie in ihrem innern Zusammen-
hang zu betrachten.
Sehr lehrreich ist sein Verfahren mit dem anderer Essayisten zu vergleichen.
Otto Ludwig z. B. in seinen „Studien über Shakespeare" steht fest auf seinem
Standpunkt, er sieht immer genauer.hin, entdeckt immer etwas neues, aber er selber
rührt sich nicht, und darum erscheint ihm auch der Gegenstand nur von einer be
stimmten Seite. Sein Zweck ist: Regeln für die dramatische Production festzu-
stellen. Aehnlich Heinrich v. Treitschke: er hat einen ungemeinen Scharf
sinn, alle Eigenthümlichkeiten des Gegenstandes die er brauchen kann zu entdecken
und mit einander zu combiniren; er ist dabei noch gerecht und unbefangen, aber
er wird nie etwas anderes sehen als was mit seinem Zweck in Verbindung steht.
Auch er ist, wie Grimm, von einem Enthusiasmus beseelt, aber es ist der Enthusias
mus des Willens, der That. Er will die Nation zu seinem Glauben fortreißen,
sie inBewegung bringen; ihm kommt es darauf an mit ihr inFühlung zu bleiben.-/
auch weny er heftig eifert, hört «nd versteht man ihn dennoch.. Seme Natur ist so
mmmrn