Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Jacob und Wilhelm Grimm

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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 32 
aus : The College of the city of New York, 
1884, Mai 16 
Der Grenzlauf. 
Einst stritten die UrnerH mit den Glarnern bitter um ihre Landesgrcnze, 
beleidigten und schädigten'^) einander täglich. Da ward von den Biedermän 
nern der Ausspruch gethan, zur Tag- und Nachtgleiche-H solle von jedein Teil 
früh morgens, sobald der Hahn krähe,±) ein rüstiger kundiger Felsgänger aus 
gesandt werden, und jedweder nach dem jenseitigen Gebiet zulaufen, und da, 
wo sich beide Männer begegneten, die Grenzscheide festgesetzt bleiben, das 
kürzere Teil möge nun diesseits oder jenseits fallen. Die Leute wurden 
gewählt, und man dachte besonders darauf, einen solchen Hahn zu halten, der 
sich nicht verkrähe^) und die Morgenstunde auf das allerfrühste ansage. Und die 
Urner nahmen einen Hahn, setzten ihn in einen Korb und gaben ihm sparsam 
zu essen und zu saufen,") weil sie glaubten, Hunger und Durst werde ihn 
früher wecken. Die Glarner dagegen fütterten und mästeten ihren Hahn, daß 
er freudig den Morgen grüßen könne, und dachten damit am besten zu fahren. 
Als nun der Herbst kam und der bestimmte Tag erschien, da geschah es, daß zu 
Altorf der schmachtende Hahn zuerst krähte, wie es kaum dämmerte; froh brach 
der Urner Felsenklimmer auf und lief der Grenze zu. Allein in Lintthal 
drüben stand schon die volle Morgenröte am Himmel, die Sterne waren ver 
blichen, und der fette Hahn schlief noch in guter Ruh. Traurig umgab ihn die 
ganze Gemeinde, aber es galt?) die Redlichkeit, und keiner wagte es, ihn aufzu 
wecken; endlich schwang er die Flügel und krähte. Aber dem Glarner Läufer 
wird's schwer sein, dem Urner den Vorsprung wieder abzugewinnen! Ängst 
lich sprang er auf und schaute gegen die Scheide: wehe! da sah er oben am 
Gratis den Mann schreiten und schon bergab kommen, aber der Glarner 
schwang die Fersen und wollte seinem Volke noch vom Lande retten so viel als 
möglich. Und bald stießen die Männer auf einander, und der von Uri rief: 
„Hier ist die Grenze!" „Nachbar," sprach betrübt der von Glarus, „sei gerecht 
und gieb mir noch ein Stück von dem Weideland, das du errungen hast!" 
Doch der Urner wollte nicht; aber der Glarner ließ ihm nicht Ruh, bis er 
barmherzig wurde und sagte: „So viel will ich dir noch gewähren, als du mich 
an deinem Hals tragend bergan läufst." Da fasste ihn der rechtschaffene 
Sennhirt») von Glarus und klomm noch ein Stück Felsen hinauf; aber plötzlich 
versiegte ihm der Atem, und todt sank er zu Boden. Und noch heutiges Tages 
wird das Grenzbüchlein gezeigt, bis zu welchem der einsinkende Glarner den 
siegreichen Urner getragen habe. In Uri war große Freude ob ihres Ge 
winstes; aber auch die zu Glarus gaben ihrem Hirten die verdiente Ehre und 
bewahrten seine große Treue in steter Erinnerung. 
Aus den Deutschen Sagen 
der Brüder Grimm Oakob itbö—JM>5, !vilhe!m —l85y.)
	        
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