Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Jacob und Wilhelm Grimm

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3o. Juni. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1888. Nr. 26. 
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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 32 
Bedeutung des Wolfes, die Sage von Polyphem. Dann 
treten wir in das litterarhistorische Gebiet, wo sich an 
ein Volkslied und zwei Meisterlieder die zum Rosen 
garten gehörigen Abhandlungen Schliessen. Alles dies 
bekannt, nicht aber die beiden letzten Nummern: Ein 
leitungen zu Collegien über die Gudrun und Hartmanns 
Erek (S. 524 — 576 und 5yy—617). Das erste hat W. G. 
in den Jahren 1840—49 sechsmal dreistündig, das zweite 
1843—50 fünfmal gelesen. Durch ein Colleg über Frei 
dank führte er in die Kunstpoesie des deutschen 
Mittelalters ein (S. 524), durch das über die Gudrun 
in das volkstümliche und durch die Vorlesung über 
den Erek in das ritterliche Epos. Geschichte der 
deutschen Litteratur trug er nicht vor, verweist dafür 
vielmehr auf Kobersteins Grundriss und Gervinus’ Ge 
schichte der deutschen Dichtung, »das erste Buch dieser 
Art, das, aus den Quellen selbst geschöpft, seinen Gegen 
stand mit ausgebreiteten Kenntnissen und noch aus 
gezeichneterem Geist, mit einer seltenen Freiheit und 
Unbefangenheit der Betrachtung behandelt« (S. 5z5, 
vgl. 577 f.). Er empfiehlt Gervinus, obwol er »in vielen 
und in wichtigen Beziehungen anderer Meinung« (S. 
525). Daneben verweist er auf Lachmanns litterar 
historische Vorlesungen. Dass W. G. sich nicht selbst 
zu solchen entschloss, muss bedauern, wer hier und 
anderwärts seine gelungenen Charakteristiken und zu 
sammenfassenden Erörterungen liest. Um bei unserm 
Bande zu bleiben, so haben wir in der akademischen 
Abhandlung über Freidank Kap. IV einen Ausblick auf 
den Ursprung und die Entwickelung des Lehrgedichts, 
S. 366 f. schöne Worte über die Tiersage, in der 
Gudrunvorlesung eine Betrachtung des deutschen Volks 
epos, wobei das Nibelungenlied als Paradigma dient 
und das Tierepos eingeschlossen wird. Auf die aus 
führliche Behandlung der Nibelungensage und mhd. 
Nibelungendichtung möchte ich namentlich aufmerksam 
machen, weil man sie an diesem Orte nicht gerade 
sucht und W. G. hier zu den Fragen der sog. höheren 
Kritik klar und fest Stellung nimmt. Bei der Gudrun 
geht er flüchtiger darüber hinweg, weist Ettmüllers 
Kritik kurz ab, sagt über die Müllenhoffsche lediglich: 
»Ein Viertel nur bleibt übrig, der ganze erste Teil fällt 
weg«. Aber er stimmt doch in dem Punkte zu ihm, 
dass er Lachmanns Nibelungentheorie nicht auf die 
Gudrun übertragen haben will und sie, Zusätze ab 
gerechnet, für das Werk eines Einzigen erklärt. Wie 
weit die Leistung dieses »Ordners«, den er ja auch bei 
den Nibelungen annimmt, gehe, wagt er nicht zu ent- ! 
scheiden. Aus dem Erekcolleg sei die vergleichende ' 
Charakteristik Hartmanns, Wolframs, Gottfrieds hervor 
gehoben, auch das über den Sagenkreis der Tafelrunde 
Vorgetragene, besonders aber die warmen Schluss 
betrachtungen über Ziel und Weise des Studiums 
deutscher Philologie. Den Puristen möchte ich die 
Lektüre der Seiten 612—617 empfehlen, nicht minder 
so manchem Schriftsteller zu bedenken, ob er sich 
nicht auch jener »Aufschneiderei« schuldig mache, von 
welcher W. G. S. 612 sagt: »Auf welche Abwege sind > 
wir geraten! Ich rede nicht von dem atemlosen Treiben 
nach dem, was man geistreiche Gedanken nennt, nach 
der Sucht, sich damit zu versteigen, so weit hinauf zu 
versteigen, dass man den Rückweg nicht wider findet, 
oder von der Geringschätzung, mit der man auf schlichte 
und reine Worte sieht«. Ein Muster für Schlichtheit 
und Reinheit des Ausdrucks bietet W. Gs. eigner Stil, 
der gleichmässig zwar, aber nicht ermüdend, nur immer 
in edler Ruhe und Klarheit dahinfliefst, nicht zum 
wenigsten weil klar und bis ans Ende durchdacht ist, 
was W. G. sagen will. 
Als sehr nützliche und dankenswerte Beigaben er 
halten wir ein chronologisches Verzeichnis der Schriften 
W. Gs. von Hinrichs und Schröder sowie ein 40 Seiten 
mit dreispaltigem, kleinem Druck umfassendes Register 
zu allen vier Bänden von Ferd. Wrede, welches an 
die 6000 Stichwörter enthalten wird. Als Herausgeber 
des Bandes ist noch Gustav Hinrichs genannt, aber 
vollendet war er noch nicht, als vor jetzt zwei Jahren 
der Tod dem frischen, arbeitsamen Leben des gut 
herzigen und scharfsinnigen Mannes ein jähes Ziel 
setzte. Edward Schröder hat sich des verwaisten 
Werkes treulich angenommen und es zu gutem Ende 
geführt. 
Berlin. Max Roediger. 
Susanna, ein oberengadinisches Drama des 16. Jahrhun 
derts. Mit Anmerkungen, Grammatik und Glossar herausg. von 
Jak ob Ul rieh. Frauenfeld, Huber, 1888. VI u. 140 S. 8". M. 3. 
Der Wert der neuerdings mit grossem Eifer repro 
ducierten rätischen Litteratur des 16. Jhs. ist ein fast 
ausschliesslich sprachlicher. Originalwerke treffen wir 
nur wenige, meist ist es die deutsche Schweiz, die den 
Stoff geliefert hat, zuweilen auch Italien: es fehlten 
eben dem Lande die äussern Bedingungen zur Ent 
wicklung eines eignen Schrifttums. Dem entsprechend 
ist denn auch die äussere Form wenig ausgebildet, 
Wortstellung wie viele Redensarten verraten überall 
einen hochgradigen Einfluss des Deutschen; das Gefühl 
für regelmässige Verse wie für reine Reime fehlt völlig, 
womit nicht ausgeschlossen ist, dass es einzelne Aus 
nahmen gibt. Auch die von Ulrich herausgegebene Su 
sanna ist eine wörtliche Uebersetzung eines im 16. Jh. 
bei Friese in Zürich erschienenen deutschen Schau 
spieles von Birck. Ueberliefert ist es in drei Hss., 
deren eine dem Neudrucke zu Grunde liegt; von der 
zweiten werden die wichtigeren Varianten angegeben, 
die dritte wird als völlig wertlos bezeichnet. Inwie 
weit der Abdruck genau ist, vermag ich nicht zu sagen, 
durch Interpunction ist das Verständnis dem modernen 
Leser bedeutend erleichtert. Dem Texte folgt eine 
Laut- und Flexionslehre; jene, von den engadinischen 
Lauten ausgehend, sagt, welchen lateinischen sie ent- 
1 sprechen, ein Verfahren, durch welches allerdings dem 
Anfänger das mechanische Auffinden der Entsprechun 
gen erleichtert ist, wogegen der nachdenkende Vorge 
rücktere an manchem Rätsel und mancher Ungenauig 
keit Anstose nehmen wird. Bedenklicher ist es schon, 
wenn in einem für Studierende bestimmten Buche das 
bh aufgenommen wird, das U., sich gleichermaseen 
den sichern Tatsachen lateinischer wie romanischer 
Lautlehre entgegenstellend, entdeckt hat (Zeitschr. f. 
rom. Phil. XI 419). Die Formen- und Wortbildungs- 
I lehre ist um so dankenswerter, als gerade hier ausser 
i Stürzingers Conjugation für den Anfänger nichts vor 
lag. Das Glossar ist etwas spärlich: wol findet man 
viele Wörter schon in der Lautlehre, aber manches 
gerade dem Anfänger schwierige, manche auffällige 
Bedeutung fehlt auch da; selbst der Vorgerücktere ist
	        
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