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14. Mai. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1898. Nr. 19.
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sein S. 8, die Beispiele nhd. Indikativs für Kon
junktiv 78, Praes. Indik. für Imperativ 88 f.; die
Auffassung des nhd. Imperativs mit wollen als
Frage 90. Ganz neu ist 8. 541 — 48 ein Ka
pitel über das Relativum, das in buntem Wechsel
Ausgeführteres mit bloss Angedeutetem vereinigt.
Jacob Grimms Arbeitsweise liesse sich an ihm
gut beleuchten. Es würde zu weit führen, die
17 verschiedenen Punkte, unter die sich diese
Beobachtungen reihen lassen, hier einzeln darzu
legen. Sie sind bereits ein Stück aus der Syntax
des zusammengesetzten Satzes, den auch die
Nachträge über konjunktivische Nebensätze 8.
81') 82 1 ) streifen. Auch im engeren Sinne
Stilistisches hat Grimm angemerkt, in den annb-
minirenden Beispielen 8. ZOO'), den zweigliedri
gen Redensarten aus Substantiv und substantivir-
tem Infinitiv 301 f.
Interessant sind einige Zusätze, in denen heute
im Vordergrund stehende syntaktische Fragen be
rührt werden: der Gedanke einer Unterscheidung
der Aktionsart, der S. 5 angedeutet war, tritt
nunmehr stärker hervor, indem Grimm seine hier
her gehörigen Aeusserungen in der Vorrede zu
Vuks serbischer Grammatik (vgl. Streitberg in
den Beiträgen XV, 7 7 f.) und im Sendschreiben
heranzieht — auf die Behandlung der Tempora,
namentlich dort, wo von der Verwendung des
ge- die Rede ist (vgl. auch den Zusatz S. 206:
ob ge- beim Futur, stehe) hat er freilich keinen
Einfluss genommen. Merkmale der Isolirungs-
erscheinungen treten in den Gesichtskreis, s. 8.
296 die Bemerkung über formale Unterschiede
des Subst. Eltern vom Adj. ältern. Die Frage
der subjektlosen Sätze wird gestreift 8. 1; S. 2
steht ein Zusatz über prädikatlose — Grimm
fasst sie elliptisch auf. Weitgehende Vorliebe
für Erklärung syntaktischer Anomalien durch
Ellipse kennzeichnet auch im zweiten Abdruck
mehrere Zusätze:' 8. 306 wird z. B. der partit.
Gen. unsers volles (da lag) durch Auslassung von
ein teil erklärt.
Berücksichtigung der lebenden Mundart ist
wie im ersten Druck so auch in den Zusätzen
verhältnissmässig noch selten, häufiger wird die
Verkehrssprache herangezogen.
Die Arbeit der Herausgeber bestand auch
bei diesem Band — wie beim dritten — nicht
bloss in der gewissenhaften Besorgung des Ab
drucks und der Einfügung der ‘Nachträge’ und
Zusätze an ihrem Ort, sondern auch in der
ebenso dankenswertsten als mühsamen Umände
rung der Stellenangaben und in deren Berichti
gung, wo sie nöthig war. Ihre feinfühlig und
selbstlos im Dienste eines grossen Andenkens
durchgeführte Arbeit verdient wärmsten Dank.
Innsbruck. Joseph Seemüller.
E. Tappolet, Wustmann und die Sprachwissen
schaft. [Mittheilungen der Gesellschaft für deutsche
Sprache in Zürich; Heft III.] Zürich, E. Speidel,
1898. 28 S. 8 D . M. 0,80.
Das Heft hat 28 Seiten. Auf der letzten ge
langt Dr. Tappolet zu folgendem Schlüsse seines
Vortrages: „— wir haben unbefangenere und
angenehmere Lehrer zur Vermeidung unserer
Sprachdummheiten als den Grammatiker Wust
mann, ich meine unsre besten Schrift
steller in allen Gauen deutscher Zunge; da
finden wir, die einen bewusst, die meisten wohl
unbewusst, die Lösung aller praktischen Sprach-
fragen; nicht durch die Grammatik, sondern durch
aufmerksame Lektüre und freie Nachahmung ler
nen wir schreiben.“ Offenbar ist Dr. T. der
Meinung, dem (uns in seinen Schriften unbekann
ten) Herrn Wustmann gegenüber eine That zu
vollbringen, indem er sich unabhängig von dessen
Vorschriften erklärt. Es bedarf jedoch weder
‘aufmerksamer Lektüre 1 noch ‘freier Nachahmung 1 ,
um gutes Deutsch zu schreiben, sondern wer
Deutschen wirklich etwas zu sagen hat, wird
ohne Lektüre und Nachahmung schon wissen,
wie er sich auszudrücken habe. Leute, die sich
mit sogenannter Sprachreinigung befassen, haben
meistens keine eigenen Gedanken, deren richti
ger Ausdruck irgendwie in Betracht käme. Und
dass Dr. T. soviel Seiten braucht, um sich eines
Sprachreinigers zu erwehren, ist seltsam. Jere
mias Gotthelf, einer unserer sprachgewaltigen
Deutschen, würde wenig geleistet haben, wenn
er bei jedem Satze in Leipzig erst hätte
anfragen wollen, ob er so schreiben dürfe.
Oder, da Bizius ein Berner war: Usteri, der
nicht bloss im Zürcher Dialekte schrieb, wird
sich wohl gehütet haben, irgendwo in Deutsch
land um geneigte Korrektur zu bitten, als er
‘Freut euch des Lebens’ dichtete. Deutschland
besteht Arndt zufolge ‘soweit die deutsche
Zunge klingt’ und nicht soweit der deutsche
Schulmeister seine Mitdeutschen korrigirt.
Es giebt ein Studium der deutschen Sprache.
Es frommt, zu ergründen, worin die Schönheit
der Verse und der Prosa Goethes und Schillers
bestehe, sich den Unterschied des historischen
Styles klar zu machen, der Treitschke, Curtius
und Ranke eigen war; zu empfinden, worin die
Sprache Jacob Grimms von der der Zeitgenossen
abwich; sich zu fragen, warum überhaupt einige
Leute zu schreiben wissen und andere nicht.
Niemandem wird beikommen, den Werth und
das Fördernde solcher Studien zu verneinen.
Aber Normen aufstellen zu wollen, wie der le
bendige Fluss einer Sprache zu maassregeln sei,
ist das Werk von Homunculusproduzenten, deren
unschädliches Selbstbewusstsein man ja gern un
gestört lässt, die sich aber nicht aufdrängen sollen.
Die Entwicklung der deutschen Sprache von Luther
bis auf heute ist geheimnissvoll wie das Wachsthum
einesjünglingszum Mann. Di eNatur findet ihre W ege.
Berlin. Her man Grimm.