Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 32
Zweite Beilage zur Königlich privilegirten Berlinischen Aeitmrg.
19. Mittwoch dm 24. Januar 1872
stabt der Intelligenz durch die pietistisch-orthodoxe Mißregierung
seit 1840 die Führerschaft aus dem Gebiete der Bildung verlo
ren batte — und man jetzt eine Rückkehr zu den früheren besse
ren Traditionen erwartet.
— Der gestrigen Sitzung der Kreisordnungskommission
wohnten Seitens der Regierung der Minister des Innern und
der Regierungsraty Perstus bei. Die Kommission trat sofort
in die Diskuision ein, die §§. 1. und 2. wurden genehmigt (die
Kreise bleiben in ihrer gegenwärtigen Begrenzung als Verwal
tungsbezirk, jeder Kreis bildet einen Kommunalverband zur
Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten mit den Rechten einer
Corporation). Zu §. 3. wurden mehrere Veränderungen vorge
nommen. Nach der Vorlage sollen Veränderungen feststehender
Kreisgrenzen und die Bildung neuer durch königl Verord
nung erfolgen; die Kommission bat beschlossen, daß diese Ver
änderungen rc. durch Gesetz erfolge. Al. 2. wird gestrichen,
die Beschlußfassung über Al. 3. wird vorbehalten; die Al. 4—6.
werden angenommen. — In §. 4. werden schon die Städte von
25,600 E. berechtigt, einen Kreisverband zu bilden, während die
Vorlage die Zahl „30,000" vorschlägt. Die Ausscheidung ge
schieht nrcht, wie die Vorlage will, durch königl. Verordnung,
sondern durch den Minister des Innern. — Die Beschlußfassung
über die Al. 3. und 4. dieses Paragraphen wrrd ausgesetzt; die
§§. 5. und 6. (Rechte der Kreisangehörigen) werden ohne Dis
kussion genehmigt. Der §. 7. handelt von den Pflichten der Kreis-
augehörigen. Hierbei erklärte sich ein Abgeordneter gegen das ganze
Prinzip des Gesetzes und für die Aufrechthaltung der ständi-
schen Einrichtungen, welche stch als vorzüglich bewährt hätten.
— Als Ablehnungsgrund eines Krcisamtes wird No. 4. der
Vorlage (ärztliche oder wundärztliche Praxis) gestrichen. Alinea 4.
erhält in der Kommission eine schärfere Fassung. — Die §§. 8.,
17., 19., 21., 22., 23., 30—38. wurden angenommen, die Be-
rathung über die §§. 9—16., 18., 24- 26. wurde ausgesetzt; in
tz. 20. ward bestimmt, daß Vater nnd Sohn nicht zugleich Mit
glieder des Gemeindevorstandes sein dürfen.
— Die XV. Kommission begann gestern die Berathung des
ihr überwiesenen Penfronsgesetzes für Civilbeamte. In
der General-Diskussion, welche sich über diese Vorlage ent-
spann, erklärte man sich im Allgemeinen mit der Tendenz
des Gesetz - Entwurfes einverstanden, doch wurden im Laufe
der Diskussion verschiedene • weitergehende Wünsche kund
gegeben , welche sich dahin zusammenfassen lassen: 1) daß
die Pension, wie die Kommission des Reichstages zur Vorbe-
rathung des Gesetz-Entwurfes, betreffend die Rechtsverhält.
Nisse der Bundesbeamten, vorgeschlagen habe, nach vollendetem
zehnten Dienstjahre mit £8- (statt mit wie die Vorlage
will) des Diensteinkommens beginne und dann mit jedem Jahre
nur (statt -bV steige; 2) daß ein Normaljahr nach der Pen-
sionirung eingeführt werde nnd 3) daß das Gesetz auf diejenigen
Lehrer an den königlichen Anstalten Anwendung finden möge,
welche von dem Cultusministerium ressortircn. Zur Sprache
kamen noch viele andere Punkte von untergeordneter Bedeutung,
wie z. B. ob eine Revision des Disciplinargesetzes nothwendig
sein würde, wie das Verhältniß derjenigen Beamten in den neu
erworbenen Laudcstheilen zu gestalten sei, die früher sich nicht
in Staatsstellungen befunden haben, nicht vereidigt seien rc.
-Nachdem die General-Diskussion geschlossen war, wurden die
ersten acht Paragraphen zur Berathung gestellt, von diesen jedoch
nur biejcnigen genehmigt, welche selbstverständliche Bestimmun
gen enthalten; im klebrigen aber wurde die weitere Berathung
bis künftigen Montag ausgesetzt, um den Mitgliedern Gelegen
heit zu geben, ihre Anträge zu formuliren und schriftlich einzu-
bringen.
— In der sogenannten Mahl - Schlachtsteuer -Kom
mission hat der Abg. Donalies (Fortschrittspartei) nach
stehenden Antrag zu §. 1. der Reg.-Vorlage („Alle nach den
bestehenden Vorschriften in der Unterstufe a. der ersten Stufe
in der ersten Hauptklasse der Klaffensteuer zu besteuernden Per
sonen werden vom 1. Juli 1872 ab von der Klassensteuer be
freit —") angebracht: „Allen nach den bestehenden Vor
schriften in der Unterstufe la, 16., 2. und 3. in der ersten
Hauprllaffe der Klassensteuer zn besteuernden Personen wird ein
Abschlag von 33^ pCt. gewährt, so daß dieselben jährlich nur
sür 8 Monate und zwar in vierteljährlichen Raten Klassensteuer
zu zahlen haben. — Eventuell beantragt derselbe Herr Abgeordnete
den §. 1. in seinem ersten Alinea zu fassen: „Allen nach den
bestehenden Vorschriften in der Unterstufe la., 16., 2. und 3.
in der ersten Hauptklaffe der Klassensteuer zu besteuernden Per
sonen wird ein Abschlag gewährt und zwar: für Steuerstuse la.
von 50 pCt., für 16. von 50 pCt., sür 2. von 33^ pCt., für
3. von 25 pCt., so daß dieselben jährlich nur für resp. 6, 6,
8 und 9 Atonale und zwar in vierteljährigen Raten Klaffen-
steuer zu zahlen haben.
— Die Res. über den Antrag Elsner und Behr bez. des
Berliner landwirthschaftlichen Museums, die Herren Abgg.
v. Wedcll und Pieschel, empfehlen dem Plenum, die Staats-
regierung aufzufordern: „dem Landtage der Monarchie noch wäh
rend der jetzigen Session eine Vorlage zu machen, welche dem
landwirthschaftlichen Museum zu Berlin eigene Räumlichkeiten
sichert, und zwar in solcher Ausdehnung, daß auch der erforder
liche Raum zu Auditorien und zur Prüfung landwirthschaftlicher
Maschinen vorhanden ist."
— Der Abgeordnete für den Kreis Strasburg, Ignaz von
LhLkowski hat den Mitgliedern der Unterrichts-Kommission
des Abgeordnetenhauses eine 72 Druckseiren umfassende Denk
schrift zugestellt, in welcher er den Nachweis führt, daß den Be
wohnern Westpreußens polnischer Zunge noch immer die Auer-
kenuuug der sprachlichen Gleichberechtigung vorbehalten
wird. Diese immerhin beachtcnswcrtbe Denkschrift schließt mit
folgenden Werten: „Wie Preußen nach einer politischen Neuge
staltung gestrebt hat, um fem Recht, zu athmen und zu leben,
geltend" zu machen, so wird es jetzt, im Gefühl seiner Kraft,
ohne Eifersucht, der Bevölkerung anderer Nationalität ein na
tionales Athmen nicht versagen."
— Eine bei den Erhöhungen der Dienst-Einkommen ganz-
lich übergangene Beamten-Categorie der Organisten — hat
stch nunmehr mit der dringenden Bitte an das Abgeordne
tenhaus gewandt, dasselbe wolle beschließen, daß 1) die Leh
rergehalter der Organisten an schlecht dotirten Stellen im glei
chen Verhältniß aufgebessert werden, wie die Gehälrer der
übrigen Elementarlehrer; 2) bei Pensionirungen dieselben be
züglich ihres Lehrereinkommens den anderen Elementarlehrern
gleich gestellt werden."
— Das Eisenbahn-Comito für die neu zu erbauende
Lei ne-Lahn-Bahn, an dessen Spitze der königl. Landrath
Frhr. von Dömbcrg steht, hat an das Abgeordnetenhaus eine
gedruckte mit einer ausführlichen Denkschrift und Karte versehene
Perition gerichtet, in der dringend gebeten wird: daß es 1) um
der ostwestlichcn, vorzugsweise strategisch wichtigen, Verkehrslinie
die möglichst nahe uiid bequeme Richtung zu geben; 2) um die
nordsüdlicbe, Vorzugseise ccmmercicü wichtige Verkehrslinie in
ihrer nächsten und bequemsten Richtung für die Zukunft außer
Frage zu stellen; 3) um dem Verkehr die Ucbersteigung des hohen
GebirgSstockes des Kreises Wittgenstein zu ersharen; 4> um die
Staatskasse mit wahrscheinlich noch nicht der Hälfte der dort er
forderlichen Garantieleistung zu belasten; 5) um dem wahren
Interesse der Kreise Biedenkopf und Wittgenstein zu genügen;
6) um zur Anbahnung des in seiner Herstellung eben so ein
fachen als in seiner Leistung vollkommenen Bahnnetzes der Denk
schrift den ersten und entscheidenden Schritt zu thun — dem
Abgeordnetcnhause gefallen möge: „die Zinsgarantie für die von
der Staatö-Regierung beabsichtigte Richtung der Leine-Lahn-
Bahn zn verwerfen und die Erwartung anzusprechen, dieStaats-
Regierung werde ein Gesetz über die zu Gunsten der von uns
vorgeschlagenen Linie zu bewilligende Zinsgarantie zur Vorlage
bringen."
Vorlesungen des wissenschaftlichen Vereins.
Die Vorlesung des letzten Sonnabend hielt in der Singakade
mie Professor Lazarus. Als Gegenstand wählte er: ein
psychologischer Blick in unsere Zeit.
Seit Sokrates (so ungefähr^egann der Redner) jene Inschrift
vom Tempel zu Delphi gelesen, bis zum heutigen Tage sei die
Selbsterkenntniß die Aufgabe nicht nur jedes Einzelnen, sondern
auch der Völker und der verschiedenen Epochen ihrer Entwiche-
lung geworden.
Freilich ist das, was der psychologische Blick an Erkenntniß-
Resultaten gewimik, kaum ein ganz Festes, Exactes, scharf Um-
grcnztes. Alle diese allgemeinen Erkenntnisse wären nicht be
stimmten Punkten, sondern fließenden Linien zu vergleichen,
schwankend wie das Pendel innerhalb einer gewiffen weiteren
Bewegnngsgrenze; aber freilich auch wie dies: fest in einem
Hauptpunkt. So müsse schon der Begriff: „unsere Zeit",
als ein kaum zu begrenzender erscheinen. Betrachten wir nur, was
z. B. im Lause eines einzigen Jahres an unserm Geist vorüber-
rollt, so ists wie ein Chaos. Erst die Ideen gestalten dasselbe
ordnend zum Cosmos. Ein derartiger nicht fest zn begrenzen
der Begriff sei unter Andern auch die öffentliche Meinung, von
der ein Kopf wie Talleyrand dennoch sage, daß sie klüger als
die weisesten Staatsmänner der Geschichte sei. Trotz dieser Un
bestimmtheit fei cs eure Macht, mit der man rechnen müsse,
wie sie sich denn als eine solche in eclatanter Weise wieder bei
der Aufrichtung des deutschen Kaiserreichs bewiesen habe, wo
ohne Frage und Debatte das Reichsparlament, wie sie es
seit 30 Jahren gefordert, al8 zweiter Hauptpunkt der Ver
fassung aufgestellt worden sei.
Die Ideen bilden den Kern, um welchen stch die großen Mas-
sen des Lebensstoffes geordnet gruvpiren. So sei es bei allen
großen Organisationen im Staatsleben, bei der Justizorganisa
tion, in eminentem Sinne besonders bei der Heeresorganisation,
wo eine einfache Idee das gewaltigste, vielumfaffendste Ganze
beseele und nach ihrem Gesetz zweckmäßig bewege. Und inter-
eff'ant und bezeichnend sei es, wie diese Idee Verdeutschen Heeres
organisation gerade aufs Innigste zusammentreffe mit dem
Grundprinzip der den deutschen Geist unter allen immer noch
am kräftigsten beherrschenden philosophisch sittlichen Lehre, der
Lehre Kants, wie es jedem von uns in der großen Zeit des
Krieges zum lebendigen Bewußtsein gekommen wäre. An die
sem liefen innern Unterschiede der deutschen Philosophie von der
französischen offenbare stch nur Mieder die Thatsame, wie scharf
getrennt gerade in unserer hoch Hrtwickelten Zeit die Völkerindi-
vidualitäter. sich hcrausgearoettet ff hättcnt Der Redner wolle
hier nur van unserm Volk spreDen. Den Wenigsten würde,
was er sagen könne, etwas Renas sein. Es handle sicb für ihn
hier nicht darum, analytisch zu Werke zu gehen, nicht die Ideale
der verschiedenen Völker nns> Zeiten wolle er prüfen.
Diese Ideale nehmen in den verschiedenen Epochen der Mensch
heitsentwickelung ganz verschiedene Gestalten an, je nach der
Gestaltung des Gefammtgeistes. Das Ideal eines Menschen
von heut hat wenig gemein mit dem eines Menschen der antiken
hellenischen Welt; wenig mit dem des ritterlichen Mittelalters.
In den verschiedenen Zeiten kommen wechselnd die verschiedenen
Funktionen der Menschensecle zur besonderen Entwickelung und
bedingen die besondere Gestalt des jedesmaligen Ideals. In
einer Epoche ist jene mehr dem Gefühlsleben hingegeben, in
einer anderen der unsicher tastenden Phantasie, in einer der
energischen Thätigkeit, in einer anderen der Speculation. Ja
der psychologische Proceß als solcher sei wesentlichen Aen
derungen und Wandln igen in den verschiedenen Zeiten un
terworfen. So habe sich z. B. bei den Völkern unzwei
felhaft das Tempo des Denkens geändert, die Sprache in
der Wandlung ihrer Gestaltung giebt das Zeugniß dafür. Ver
gleichen wir die breiten schweren Formen des Altgothischen mit
den knappen Bildungen der heutigen Sprache, oder die Breite
des Stils, welche selbst die Erzählung eines so feinen, heitern
und feffeluden Geistes wie Boccaccio, uns heut fast unmöglich
macht, noch mit rechter Lust zn genießen. Das Tempo des ge-
fammten geistigen Lebens ist so schnell geworden, daß wir, wie
jeder erfährt, heute an einem einzigen Zeitnngsmorgen mehr
Nachrichten und Kenntnisse vom ganzen Erdball zugeführt er
halten, als ehedem im Lauf eines Jahres.
Gewisse charakteristische Punkte ergeben sich bald als die
Signatur des geistigen Lebens unsrer Zeit. Vor allem bezeich
nend ist: das Streben zur Feststellung einer mechanischen Welt
anschauung, die Zurückführnng des gesammten Lebens Prozesses
auf das Gesetz der Causalitat. Daher treten, wie es nie vor
dem geschehen, die Naturwissenschaften in den Vorgrund.
Das Umstrickende, das für den modernen Geist so Verfüh
rerische in ihnen, was ihnen überall diese Bevorzugung und
ihren allmähligen Einfluß sichert, liegt in mehreren Grund
eigenschaften derselben Da ist erstens die Thatsache ihres fte-
Ligen Wachsthums von Tag zu Tag. Dann - die andere
Eigenschaft, daß jedes ihrer Resultate, jedes einzelne, durch sie
erworbene Wissen, cxacr, bestimmt, zweifellos ist. Darin frei
lich liegt auch wieder der Mangel, daß sie damit zur Ueber-
schätzung verleiten; daß sie jene Sehnsucht nach dem nicht
Exacten zurückdrängen, welches die ideale Wissenschaft kenn
zeichnet. Ein dritter Vorzug liegt ferner in ihrem Besitz einer
gleichartigen und befestigten Metyode. Mehr noch wie die „ge-
bildete Sprache für uns dichtet und denkt", arbeitet diese Methode
für den, der sich der Naturwissenschaft ergiebt, und wesent
lich durch sie erklärt sich jene Art von „kindlichem Hochmuth",
welchen wir so oft bei kleinen Geistern unter ihren Jüngern
antreffen. Und noch eine vierte Eigenschaft: das praktische
ihrer Resultate. Fast jede ihrer Entdeckungen greift unmittel
bar ins Leben ein und hilft zn dessen Umgestaltung mit. Im
Alterthum geht oft genug mit der höchsten Steigerung der Wis-
seufchaft und Bildung das stetige Sinken der Volkswohlfahrt
Hand in Hand. Heut ist die Steigerung der letzteren die natür-
liebe Conscquenz des wissenschaftlichen Fortschritts.
Aber damit hängt auch wieder ein Mangel eng zusammen.
Die Forderung wird nun so leicht an jede Wiffenfchaft gerich
tet, sie solle praktisch sein, wie die der Natur. Dichter und
Philosophen werden von der ihnen gebührenden Stellung und
Würde im Geistesleben der Völker zurückgedrängt, kaum noch
beachtet.
Die Theilnug der Arbeit, das ist das große Prinzip, der
Grund und daS Geheimniß der Entwicklungen ■ der Gegenwart.
Die Mutier aller Vollkommenheit ist es zugleich die höchste Ge
fahr für die Arbeit, wo es sich darum handelt, daß die Per
sönlichkeit nicht zn Grunde gehe. -Bei der Theilung der Ar
beit siegt der Gegenstand, und die Person siecht dabin.
Es bedarf daher eines Gegenhalts gegen die verderbliche Macht.
Wir haben nach Sckplmluug zu suchen, ans den zersplitterten
Einzelheiten zur Gesammtanfchauung j,u streben auch innerhalb
der Naturwissenschaft selbst; nicht blos eracter, sondern erhabener
würde unsere Naturanschauung werden. Auch der Ergänzung
bedarf ste durch eine gleich eifrige Erforschung des gerfti-
gen Lebenö. Der Redner erinnert an die tiefe und gewaltige
Wirkung, welche viele Hörer in di-fem selben Raum vor Kurzem
von einem Kunstwerk empfangen hätten, der 8-moU-Meffe
von Job. Seb. Bach. Alle Kunst der chemischen Analyse,
alle schärfste Erkenntniß der physiologischen Thatsachen,
alle naturwissenschaftliche Kenntniß genügt noch nicht, den
Boden für ein solches, für jedes echte Kunstwerk zu bereiten.
Dazu bedarf es jener idealen Kraft, die wir zusammenfassen im
Namen: Religion, nicht im Sinne des Buchstabens, sondern
belebenden Geistes. Der Materialismus des Dogmas nnd das
Dogma des Materialismus seien aus demselben Baum gewach
sen. Nicht immer habe die Naturwissenschaft jenes idealen Ele
mentes entbehrt, die ältere kannte eine ähnliche Theilung der
Arbeit noch nicht; nicht der Naturwissenschaft als solcher kann
der gänzliche Mangel des Idealismus in unseren Tagen Schuld
gegeben werven. Eine wahrhafte Erhebung der Naturwissen
schaft wird auch dahin führen, eine höhere Anschauung von
dem zu gewinnen, was über die Natur geht.
Von allen anderen Organen sei (so sagte der Redner mehr
schön als richtig) das Herz dadurch verschieden, daß es immer
thätig sei nnd von der ersten Lebenssetunde bis zur letzten nicht
aufhöre zu schlagen. So sei die Religion das Herz im Orga
nismus des Geistes. Wo das zn schlagen aufhöre, träte auch
in dessen Leben Fäulniß und Tod ein.
Das deutsche Volk stellt in der Geschichte das Phänomen
der Vereinigung der größten Glaubenstiefe und Glaubens
freiheit dar. Die helle reine Flamme, welche ebemo Licht
als Wärme spendet, die Flamme des idealen Lebens zu nähren,
diese Ausgabe scheine daher auch dem germanischen Geist
vor allen anderen in der Geschichte vorbehalten.
Jede Idee gewinnt nur in Gemeinschaft mit den anderen
Kraft nnd Leben. Hier ist Theilung der Arbeit Erstarrung.
Der Redner unterwarf zwei für unsere Zeit besonders charak
teristische und in ihr mit Liebe gehegte, wie die Naturwissen
schaft gleichfalls aus das Zarte gerichtete, Wissenschaften
ans ihre Leistung für Erkenntniß der gesammten das
Leben der Nationen bestimmenden und bildenden Kräfte
hin, einer interessanten Prüfung, Statistik und National
ökonomie; hochzuschätzende Wissenschaften seien es unzweifel
haft. Aber auch bei ihnen bedürfe es der Sammlung und der
Ergänzung, durch die Prüfung der von ihnen unbeachteten,
geistigen und moralischen Kräfte der Nationen. Ein
Beispiel: Statistik und Nationalökonomie nennen das Lebens
alter vom 13. bis 60. Jahr das allein produktive. Die davor
liegende Kindheit, das dahinter liegende Alter sind Factoreu,
mit denen sie, als ökonomisch unproduktiv kaum noch rechnen.
Aber diese für die Wissenschaft berechtigte Auffassung litte an
dem Mangel, daß sie den Menschen alö^rein materielles Wesen
betrachte. In echt dichrerischer und wcwevoller Darfteuung ein
warf dagegen der Redner die Bilder dessen, was gerade
diese beiden „unproduktiven Lebensalter" sür den wahren
Besitz der Menschheit leisten: das Kind durch die Fülle
von neuer sittlicher Kraft und Vertiefung, welche es der Mutter
durch die Sorge um sein Leven, Nahrung, Wohlsein zuführt,
das Alter durch den Schatz der Pietät, um welchen es die ewi
gen Güter der Nationen vermehrt, die höher gelten, als alle
ökonomischen Werthe. Wenn es die Vorsehung mit einem Volke
gut meint, so läßt ste seine Guten und Großen zu hohen Jahren
kommen. Kant, Göthc, Humboldt, die Grimm's, Friedrich der
Große — nur diese Namen brauchen genannt zu werden, um
das volle Bewußtsein davon zu erwecken, was ein solches Alter
der Besten ihrem Volke giebt und wirkt.
Die knappe Zeit drängte den Redner zum Schluß. Gern
hatte er den Blick seiner Hörer noch auf einige der wichtigsten
Punkte im Leben unserer Zeit gelenkt, aus die Politikdie
Nationalliteratur, auf die Gestaltung des Volkslebens in seinen
unteren Schichten, aus die großen humanen Aufgaben der Zeit,
die Mühseligen und Beladenen tm Volke wahrhaft zu erquicken.
Der Redner wendete sich auch hrer energisch gegen die moderne
Auffassung dieser Ausgabe, welche deren Lösung allein auf dem
Wege der Verbesserung der materiellen Lage zu erreichen uieint.
Vor Allem gälte es die geistigen Kräfte und Bedürf
nisse zu wecken, diese zu befriedigen und jene damit fähig zu
machen, daß sie stch auf einen Punkt heben, wo sie aus eigner
Freiheit ihr Glück zn schaffen vermögen. Festhalten sollen wir,
daß das Leben des Geistes und Gemüthes allein die wahren
Grundlagen der Erhebung geben könne, unabhängig von den
Bedingungen der materiellen Existenz und Befriedigung. Der
freudigste Hymnus wahrer Poesie, das Lied Schillers au
die Freude, ist, wie wir nicht vergessen wollen, unter localen
Bedingungen in einem Raum gedichtet, den wir heut kaum als
einen menschenwürdigen Aufenthalt betrachten würden.
Nicht auf ein besseres Jenseits vertrösten und eberzssowenig
zur stumpfen Gleichgültigkeit gegen die materielle Wohlfahrt
gebracht sollen die untern Volksktaffen werden. Nicht nur der
Anspruch auf neue siechte, das Bewußtsein neuer Pflichten ist
in ihnen zu erwecken; und damit bahnt sich der Weg zu ihrer
Erhebung. t r
Was unsere Zeit bedarf, sind Menschen, die in sich gleichsam
die ganze Sammlung des Menscheuthums darstellen, die euren
Blick für das gesammte Leben, den hohen Sinn für die Er
kenntniß des Ganzen haben, den Herzschlag der Geschichte der
Menschheit in stch fühlen.
Der Philosoph wirkt dann am meisten, wenn in ihm das
Ideal des eigenen Volkes lebendig ist; nur so ein Volk kann,
wenn in ihm die Ideale der Menschheit, Leben gewinnen.
Lauter, den erregten Herzen der Versammlung entquellender,
Beifall lohnte den Redner, der, wider den Gebrauch in diesen
Hallen, seinen ganzen Vortrag frei gesprochen und daher auch
mit jener schönen begeisterten Wärme zu beseelen vermocht hatte,
welche dem nur abgelesenen immer mangeln wird. L. P.
Kmrit, Wissenschaft, Literatur.
— Auswahl aus den Kleineren Schriften vonJacob
Grimm. Berlin 1871. 8. Ferd. Dümmler. -- Nichts
ist beklagenswerther, als wenn deutsche Männer, die ihr Volk
so geliebt, daß sic. obwohl höherer Forschung lebend, nickt ver-
schmäheten. sich -oftmals in ihren Schriften unvermittelt an das
selbe zu wenden, wie Humboldt und Jacob Grimm, dennoch
demselben nur dem Namen nach, nicht aus ihren Schriften selbst
bekannt werden. Der -Name der Gebrüder Grimm ist zwar
dem Volke durch ihre unvergleichliche Märchensammlung unver
gessen geblieben; das sind aber keine Schriften, aus denen dem
Leser ihre Persönlichkeit entgegenleuchtete, und daS Hauptver
dienst an derselben gebührt außerdem Wilhelm Grimm.