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Magazin für die Literatur des Auslandes.
No. 50.
No. 50.
Magazin für die Literatur des Auslandes.
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Untersuchungen in Astronomie, Chemie und Mathematik bilden
die Hauptarbeit, Vocal- und Instrumental-Concerte das
öfterste Vergnügen. Vervollkommnung und Ascension in die
höheren Sphären sind der Zweck der Beschäftigungen. Nicht sehr
einladend ist es, zu hören, daß all die Prüfungen, welche
geniale Minister uns im irdischen Jammerthals auferlegen, von
überirdischen Prüfungen nicht befreien. Die wissenschaftliche
Erkenntniß, die man hier unten durch Ablegung der großen
Staatsprüfung bekundet, gilt dort oben für nichts, und nochmals
muß man sich in die „Presse" begeben, um in eine höhere Sphäre
zu gelangen. Lehrer geben hierzu Unterrichtsstunden. Wie
klingt es seltsam, wenn gleichwohl der Geist sich dahin ausspricht,
daß wir nach Zeit, sie aber nach der Ewigkeit rechnen! Die sie
bente Sphäre hat noch kein der Erde entsprossener Geist erklommen;
hierin scheint aber der Geist des Vaters weniger gut unterrichtet
zu sein, als der ebenfalls im Geisterreiche befindliche Enkel,
welcher, im Alter von fünf Monaten gestorben, seinem Vater
sehr erleuchtete Mittheilungen machte. Hiernach ist in der sieben
ten Sphäre allerdings ein Erden-Geist, und natürlich kein an
derer als Washington!
Wie würde Herr Hare bei seinen Jüngern bestanden haben,
wenn seines Vaters Geist ihm nicht auch die sozialen Verhält
nisse in den Sphären beschrieben hätte! Nun, auch diese sind
ganz mit Geschmack geordnet. Es herrschen die Wahlverwandt
schaften. Gleichgeartete Geister vereinigen sich zu größeren Cir-
keln, Blutsverwandte finden sich wieder und besuchen sich, und
Ehen werden wie auf Erden geschlossen: „die himmliche Ehe ist
die Vermischung zweier Seelen in eine, welche aus jeder ein
geborenen Ehe hervorgeht, eine Verbindung negativer und posi-
tsve^ Drin^ihien [ die einen wahren und unauflöslichen Bund
ewig ist."
Besondere Religionslehrer sind angestellt, um die Geister in
den göttlichen Prinzipien der Liebe, Weisheit und des Wohl
wollens zu unterrichten. Eine Verzeihung für begangene
Sünden findet nicht statt — keine unmittelbare Gnade — der
einzige Weg, um der Sünde und ihren Folgen zu entrinnen, ist,
über dieselbe hinaus fortzuschreiten. Von Gott selbst ist in den
Berichten nur als von einem noch weit entfernten Geiste die
Rede; wahrscheinlich ist es noch keinem von Erden kommenden
Geiste vergönnt gewesen, ihn zu schauen; die Erde steht in allen
diesen Beziehungen hinter dem Uranus und Syrins zurück!
Für das irdische Leben zieht Hare aus alledem den praktischen
Schluß, daß jeder Spiritist auf Erden bemüht sein wird, sich
so zu verhalten, daß er dort bald in höhere Sphären anstücken
kann. Der deutsche Uebersetzer seinerseits nimmt die Geister-
Mittheilungen in einem solchen Grade als baare Münze an, daß
er, wie alle Dogmatiker, Unfehlbarkeit gegen Unfehlbarkeit stellt.
„Den Grundsätzen des Papstthums gegenüber ist nicht genug
hervorzuheben, daß die allein wahre lebendige göttliche Offen
barung der Natur und der Vernunft (!), welche der amerikanische
Spiritismus in seiner neuen geistigen Verknüpfung mit Welt
und Gott verstitt, die des beständigen Fortschritts der Erkenntniß
und Sittlichkeit ist."
Wir aber entnehmen uns daraus die Lehre, daß es in der
Welt keinen Unsinn giebt, der nicht selbst in dem denkenden
Deutschland seine gläubige Gemeinde fände! G. H.
Kleine literarische Revue.
— Gustav Schwnb's poetische Mustersammlung.* **) ) Diese von
einem deutschen Poeten mit feinem ästhetischen Gefühl in literarge-
schichtlicher Aufeinanderfolge getroffene Auswahl des Besten, was
Deutschland an Liedern und Gedichten seit den Zeiten Haller's
und Klopstock's hervorgebracht, erfreut sich nun seit länger als
einem Menschenalter der Theilnahme und des Beifalles der
Freunde deutscher Poesie. Theilnahme und Beifall sind unver
mindert geblieben, weil der Herausgeber und der nicht minder
mit Liebe und tiefem Verständniß für die Sache beseelte Ver
leger Sorge dafür trugen, daß die späteren Ausgaben nichts von
dem vermissen ließen, was die neuere Zeit gerade auf dem Ge
biete der Lyrik an mustergebenden Prodnctionen geliefert. Ob
der jetzt an die Stelle des verewigten schwäbischen Dichters als
Herausgeber getretene, norddeutsche Kritiker der richtige Ersatz
mann fei, wagen wir nicht zu bejahen. Allerdings was den
Scharfsinn aristarchifcher Correctur und Emendation betrifft, läßt
sich wohl kaum jetzt eine gewandtere Feder in Deutschland nach
weisen, als die des Herrn Michael Bernays. Aber ein Anderes,
als die kritische Theorie, ist bekanntlich die künstlerische Praxis
der es weniger um die Ausmerzung dieses oder jenes Namens,
„dem der bisher behauptete Platz mit gutem Gewissen entzogen
werden kann," als um die volle Geltendmachung eines bisher
vielleicht nicht nach Verdienst anerkannten, poetischen Talents
zu thun ist. Sicher werden nur Wenige Herrn Bernays darin
beistimmen, daß „während der letzten Jahrzehnde eine sicher fort
schreitende Entwickelung in unserer Lyrik nicht wahrzunehmen;
kein Dichter entfaltete eine so großartige Eigenthümlichkeit, daß er
neu erofsnere soiujueu um |iu; (uumptu wumc.
(meint Herr Bernays), das in der Menschheit ewig Wieder
kehrende mit eigenthümlicher Kraft zu erfassen, so daß es in der
dichterischen Darstellung als ein Neues erscheint und als solches
Phantasie und Gemüth ergreift und bewegt — diese Fähigkeit
droht, sich immer mehr zu verlieren."
— Die „Geschichte des deutschen Volkes", von Prof. Dr.
David Müller") ist bereits in dritter Auflage erschienen. Zu
erst herausgegeben in jener Zeit, als sich in dem deutsch-dänischen
Kriege die nationale Politik Preußens unter Bismarck in ihren
Anfängen zeigte, hat das Werk, wie der Vers. im Vorwort zur
neuesten Auflage sagt, das Glück gehabt, bei jeder Erneuerung
mit einem ruhmvollen Abschnitte auf der Bahn unserer vater
ländischen Entwickelung zusammenzufallen: 1867 mit der Grün
dung des Norddeutschen Bundes und 187l mit dem Wiederauf
bau des deutschen Kaiserreiches unter den Hohenzollern. Es ist
dies in schöner Uebereinstimmung mit dem Grundgedanken des
Buches. Der Verf. schrieb für die mittleren Klassen höherer
Unterrichts-Anstalten, und dabei leitete ihn die Idee, daß es
*) Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte, von A. v. Haller
bis auf die neueste Zeit. Eine Mustersammlung, herausgegeben von
Gust. Schwab. Fünfte, neu vermehrte Auflage, besorgt von Michael
Bernays. Leipzig, S. Hirzel, 1871.
") Geschichte des deutschen Volkes in kurzgefaßter übersichtlicher
Darstellung zum Gebrauch an höheren Unterrichts-Anstalten und zur
Selbstbelehrung von Prof. Dr. David Müller. Dritte verbesserte und
bis 1871 vervollständigte Auflage. Berlin, Franz Wahlen, 1871.
nicht sowohl darauf ankommen könne, in den gelehrten Schulen,
zumal in Preußen, Partiknlargeschichte zu lehren, als vielmehr
darauf, den Sinn des Schülers auf die deutsche Geschichte zu
lenken: nur diese kann die „vaterländische" sein. Man
kann den Verf. um dieser Idee willen, welche sich in dem Glau
ben an die deutsche Mission Preußens als Weissagung bewährte,
nicht weniger aber um der Ausführung willen nur beglückwün
schen. Er kennt das für Schulen so wichtige Geheimniß, über
sichtlich und anziehend darzustellen, durch seine kernige Sprache
immer mitten in das Wesen der Ereignisse zu treffen, mit weni
gen kräftigen Strichen eine Persönlichkeit oder eine politische
Lage zu zeichnen. Dem pädagogischen Zwecke entsprechend, treten
die äußeren Ereignisse der Geschichte zwar überwiegend hervor,
aber die kulturgeschichtliche Entwickelung ist nicht vernachlässigt
worden, und vorzugsweise die Entwickelung der Sprache hat der
Verf. in sehr glücklicher Weise in die Darstellung der staatlichen
Geschichte zu verflechten gewußt. Wenn in uns der Wunsch
rege geworden ist, das Kultur-Element in dieser „Volks"-Ge-
schichte nach mehreren Seiten hin noch mit stärkerem Accente
betont zu sehen, so treten wir mit diesem Wunsche gern gegen
die pädagogischen Bedenken zurück. Gewiß sind es auch solche
Bedenken gewesen, welche den Verf. abgehalten haben, in die
Geschichte des letzten Jahres auch die in Deutschland so mächtig
eingreifenden kirchlichen Ereignisse mit aufzunehmen. Aber der
Zweck der Selbstbelehrung, welchem sonst in dem Werke sehr ge
treulich Rechnung getragen worden ist, würde durch eine wenig
stens andeutungsweise Behandlung dieses wichtigen Gegenstandes
sicher gefördert worden sein!
— „Die forstlichen Verhältnisse von Deutsch-Lothringen"*)
hat Herr August Bernhardt. Diriaent der „aw«.*-
zeyn rnrzen Capiteln behandelt, welches weit mehr bringt, als
es dem Titel nach zu versprechen scheint.
Der Verfasser, ein bekannter Schriftsteller auf dem Gebiete
der Waldwirthschaft, hat die Forstmeistereien zu Metz und
Chateau - Salins von der Capitulation der ersteren Stadt ab
bis zu diesem Sommer verwaltet, und giebt daher, was er giebt,
aus eigener Anschauung. Aber er ist nicht bloß bei der An
schauung der Wälder des neuen Reichslandes stehen geblieben,
sondern er hat ein offnes Auge für die Schönheit des Landes,
die Eigenthümlichkeit seiner Bewohner, die wirthschaftlichen Ver
hältnisse und die Besonderheiten der französischen Gesetzgebung.
Die ersten Capitel handeln von dem Gebiet, der Lage und
Bodenbeschaffenheit Lothringens, von der Hydrographie, den
geognostischen und klimatischen Verhältnissen. Bis zum Er
scheinen eines größeren statistischen Handbuches wird der Freund
Deutsch-Lothringens hier ein immerhin ansehnliches Material zur
Kenntniß des Landes finden.
Aber auch die eigentlich fachmännischen Theile der kleinen
Schrift, namentlich die Besprechung von: Forst-Unterrichtswesen
in Frankreich und von der Jagd und Fischerei, werden den Laien
durch bündige und unmuthige Darstellung interessiren.
— Kzrwrzenko, einrussischerDichter.'*) Ein ruthenischer Forscher-
macht den Deutschen das Compliment, daß sie in der Universalität
*) Berlin, 1871, Julius Springer.
**) „Taraö Grigoriewicz Szewczenko, ein kleinrussischer Dichter,
dessen Lebensskizze sammt Anhang" von I. G. Obrist. Czernowitz,
Rud. Eckhardt, 1870.
ihres Geistes sich die geistigen Produkte aller Völker und Zeiten
durch Uebersetzungen und gründliches Eindringen aneignen.
Auf diese deutsche Tugend hat Herr Obrist seine Hoffnung ge
setzt, indem er uns etwas ans den Poesien des kleinrussischen
Dichters Szewczenko in der Uebersetzung vorführt. Kleinrusstsche
Dichtungen meint er motivirend, seien im Vergleiche zu andern
Literaturen von den Deutschen noch zu wenig beachtet und ge
würdigt; sie verdienten aber diese Würdigung, denn sie, die
kleinrussischen Poesien, seien schon von Fr. Bodenstedt („die
poetische Ukraine, eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder."
Stuttgart, Cotta, 1845) auf deutschen Boden verpflanzt und an
gerühmt worden. Inwiefern dieses Lob auch auf die vorliegen
den Dichtungen paßt, mag der Leser und Sprachforscher selbst
entscheiden; uns fehlt zur genauen Beurtheilung der Urtext in
der Original-Ausgabe. Wir können zur Charakterisirung des
Poeten nur beifiigen, daß Szewczenko ein Naturdichter war und
„Dumen" und „Dumken" dichtete. Dumen sind, nach Boden
stedt, eine Gattung Volksgesänge von epischem Charakter in
freier Form und untermischtem Versmaße; die Dumken unter
scheiden sich von ihnen durch größere Regelmäßigkeit in der
Form. T. G. Szewczenko wurde am 25. Februar 1814 im
Dorfe Mornitza (Gouvernement Kiew) geboren, hatte schwere
Leiden und Drangsale zu überstehen (wurde sogar im Alter von
33 Jahren als gemeiner Soldat in die kaukasische Armee ge
steckt und nach Orenburg geschickt), und starb 1861.
— Erdichte von Agnes Gayfer - Langerhanß.*) Während
unsere Zeit den wachsenden Ansprüchen der Frauen auf Theilung
der phvsticben wir her v -- ■ r ‘'" ---
Ganzen nicht geneigt, ihnen die Befähigung zum poetischen
Schaffen abzusprechen: daß eine Frau Gedichte mache, kommt
wenigstens Niemandem unweiblich vor. Und doch setzt gerade
der dichterische Beruf einen Complex von Eigenschaften voraus,
welcher sich, der Natur und den Umständen gemäß, unendlich
weit seltener im weiblichen als im männlichen Charakter vor
finden kann: Sensibilität und Objectivität, Luft an der Welt
und Fähigkeit, die Einsamkeit zu ertragen, Leidenschaft und Maaß
müssen sich, mit gediegener Bildung, in dem vereinigen, welcher
gewissermaßen ein ganzes Stück Menschheit repräsentirt und dem
es nicht darauf ankommt, etwas Neues auszusprechen, sondern
gerade das, was Jeder weiß, was Tausenden die Brust beengte,
bis sie es, losgelöst von der Individualität, in des Dichters Wort
wiederfinden und sich nun getröstet und befreit fühlen. Wir
schicken diese allgemeinen Bemerkungen voraus, damit sie unserer
Anerkennung der vorliegenden Poesien einer Frau desto mehr
Nachdruck geben mögen. In den „lyrischen Gedichten" haben
besonders die zarten Empfindungen des Herzens, sanfte Ergebung,
milde Naturfteude, einen sormgerechten und ansprechenden Aus
druck gesunden. Unter den „Reisebildern" ist die „Nacht in
Neapel", in den „Zeiigedichten" das Carmen „Zur hundertjäh
rigen Geburtstagsfeier von Ludwig van Beethoven" hervorzu
heben, die meisten der erzählenden Gedichte sind voll schalkhafter
Anmuth; so „Die lustigen Gesellen", „Das müde Kind". An-
erkennenswerth ist die durchweg sorgfältige Beachtung der Form
welche diese Sammlung vor vielen Prodnctionen derselben Art
auszeichnet. S. Js.
*) Dresden, Schulbuchhandlung, 1871.