Full text: Rezensionen von Herman Grimm in der National-Zeitung (1870 u. o.J.)

aus 
: Nr. 195 der Nationalzeitung 
Versittlichmig der deutschen Literatur. 
Kinder- und Hansmärchen gesammelt durch die Brüder 
Grimm. Nach ethischen Gesichtspunkten ausgewählt und 
bearbeitet von Georg und Lily von Gizycki. Ferd. 
Dü mmle rs Verlagsbuchhandlung. 
Es ist erfreulich, daß jetzt, nachdem der Druck der Schriften 
Jacob und Wilhelm Grimm's frei geworden ist, überall Aus 
gaben der Kinder- und Hansmärchen aufsprießen. Sie können 
nicht weit genug verbreitet werden. 
Eine unerwartete Pflicht aber steht für mich auf. Es ist 
vorauszusehen, daß man die Märchen vielleicht aus der bis 
herigen Ordnung herausnimmt und besonders zusagende Stücke 
für sich publizirt. Die Brüder Grimm selbst haben eilte Aus 
wahl von fünfzig Märchen herausgegeben, welche als Kleine Aus 
gabe im Handel ist. Die meisten neuen Ausgaben der Märchen 
aber werben hoffentlich beide Sammlungen unverkürzt lind un 
verändert abdrucken und die betreffenden Herausgeber sich be 
wußt sein, hiermit eine Pflicht zu erfüllen. Daß es nöthig sei, 
hierauf hinzuweisen, zeigt ein Cirkular der Ferd. Dümmlerschen 
Buchhandlung zu Berlin, das ich hier folgen lasse: 
„Sehr geehrter Herr Kollege!' 
Nichts in der Welt übt auf das kindliche Gemüth einen 
tieferen Zauber aus als unser alter deutscher Märchenschatz. 
Aber gewiß wird es schon Jedermann empfunden haben, daß 
dieser unversiegbare Quell der Freude für die Kinderwelt auch 
sehr viele Rohheiten enthält, die äußerst schädlich auf das kind 
liche Gemüth wirken müssen. Schon längst hat sich daher das 
Bedürfniß geltend gemacht, die erste geistige Nahrung unserer 
Jugend auf ihren sittlichen Gründ zu prüfen. 
Diese Erwägungen haben uns veranlaßt, eine Nene Aus 
gabe der Grimm'schen Märchen zu veranstalten, welche nach 
ethischen Gesichtspunkten revidirt worden ist. Sie 
enthält eine Zusammenstellung derjenigen Märchen, welche als 
sittlich förderlich erscheinen und in denen alles ausgemerzt 
ist, was nachtheilig ans das Kindesgemüth wirken 
muß. Die Namen der Herausgeber, Georg und Lily von 
Gizycki (ersterer Professor der Moralphilosophie an der Uni 
versität zu Berlin) bieten die Gewähr für die Sorgfalt der Be 
arbeitung." 
Drei Generationen des deutschen Volkes haben sich an 
den Grimm'schen Märchen erlabt. Jedem Kinde hat man das 
Buch in die Hände gegeben und alte Leute lesen sie mit Ent 
zücken wieder. Nie hat man gewagt, den sittlichen Grund und 
Boden anzutasten, auf dem diese Blüthen des deutschen Volks 
gemüthes beinahe unbeachtet standen, bis sie von den reinen 
Händen der Brüder Grimm gepflückt worden sind. Das 
Bedenken der in manchen Märchen vorkommenden „Stief 
mutter" ist durch die Erwägung beseitigt worden, daß 
Kinder fast ausnahmslos nicht wissen, was eine Stief 
mutter sei: sie denken dabei an nichts, das die Liebe zu 
einer wirklichen Stiefmutter antastete. Hierüber ist viel ge 
sprochen worden und die Meinung von der Ungefährlichkeit der 
Stiefmuttermärchen hat den Sieg davon getragen. Mache man 
aber, wenn es durchaus sein soll, eine Ausgabe der Märchen 
für Stiefkinder: aber revidire man sie nicht überhaupt 
nach ethischen Gesichtspunkten! Verfälsche man nicht! 
Hüte man die deutschen Kinder vor dieser sich ausbietenden 
Sittlichkeit. Der sittliche Fortschritt der Welt wird bewirkt 
durch einen der Menschheit innewohnenden Trieb zum Reinen, 
Guten und Schönen. Vertraue man auf das, was Jacob und 
Wilhelm Grimm den deutschen Kindern darboten. 
Möchten die deutschen Zeitungen sich dieser Sache annehmen. 
Herman Grimm.
	        

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