Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
aus 
Deutsche Litteraturzeitung , Nr.13 
1898, Apr.2, S. 510-513 
Julius W. Braun, Lessing im Urtheile seiner 
Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und No 
tizen Lessing und seine Werke betreffend aus den 
Jahren 1747—1781 gesammelt und herausgegeben. ’ 
Eine Ergänzung zu allen Ausgaben von Lessings 
Werken. In drei Bänden. Bd. III. ' Berlin, Friedrich 
Stahn, 1897. XI u. 178 S. 8°. M. 6. 
1882 erschien der erste Band von Brauns 
Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeit 
genossen, 1885 der sechste. In diesem letzte 
ren giebt der Vf. Bericht über die gesammte 
Unternehmung, die ohne seine hingebende Arbeits 
freudigkeit nicht zu Stande gekommen wäre. 
Freilich, was er mit ihr für sich selbst erreicht 
habe, erhellt aus dem letzten Satze der Vorrede, 
mit welcher er 1883 den ersten Band des in 
zwischen neu unternommenen Lessingwerkes ab- 
schliesst: 'Es sind’, sagt Br., 'wiederholt An 
fragen an mich gelangt, ob nicht auch ein 
'Klopstock’, 'Wieland’, 'Herder’ von mir zu er 
warten seien. Ich habe darauf nur zu erwidern, 
dass ich leider nicht mehr in der Lage bin, noch 
ferner pekuniäre Opfer bringen zu können, wie 
ich es bei Herstellung dieser acht Bände — (er 
rechnet die Goethe-Schillerarbeit mit hinein) — 
seither habe thun müssen.’ Den jetzt nach 
seinem Tode erscheinenden letzten Band des 
grossen Werkes hat er noch bis zum Beginne 
der Vorrede selbst gearbeitet, deren Ende seine 
Gattin und litterarische Helferin Frau Luise Braun 
(Berlin-Halensee) hinzusetzte. 
Eine kleine Bibliothek liegt in dieser unseren 
drei Dichtern gewidmeten Unternehmung vor, die 
ein Mann in Angriff nahm, der sich Erlaubniss 
und Gelegenheit, sie zu beginnen, erst erringen 
musste. Br. hatte in seiner Jugend sich erwer 
bender Thätigkeit zuwenden sollen. Es bedurfte 
eines bedeutenden Aufwandes von Energie, um 
sich frei zu machen. Der Uebergang zu gelehr 
ter Arbeit aber ist denen, welche nicht von 
früh auf dafür erzogen sind, schwer. Br., wenn 
auch überall unterstützt in seinen Bestrebungen, 
wohlaufgenommen und geschätzt, ging, scheint es, 
im Gefühle endlich hinweg, vom Schicksal nicht 
an die Stelle geleitet worden zu sein, die einzu 
nehmen er seiner Ansicht nach doch wohl würdig 
gewesen wäre. Gelehrte seiner stillen Art sind 
mir öfter begegnet. Sie ermüden nicht, sie lassen 
sich am Bewusstsein genügen, das Ihrige gethan 
zu haben, irgend ein Stückchen ihrer Laufbahn 
hätten sie gern aber einmal in vollem Sonnen 
scheine zurückgelegt. Der ihnen versagt blieb. 
Die durch Br.s Belesenheit und seinen For 
schungstrieb zusammengebrachten Zeugnisse der 
Zeitgenossen über Lessings, Goethes und Schillers 
einzelne Werke, wie sie sich folgten, sind nicht 
nur werthvolles Material für die Beurtheilung der 
drei Männer selbst, sondern ebensosehr des sie 
begleitenden Publikums. Derjenige, der einmal 
die Geschichte des deutschen Publikums schreibt, 
wird möglicherweise durch Br. darauf gebracht 
worden sein. Wo man einen dieser Bände auf 
schlägt, fühlt sich der Blick gefesselt. Die 
Stücke sind in extenso abgedruckt. Was hilft 
die genaueste Quellenangabe dem, der nicht 
eine ausgiebige Bibliothek zur Hand hat? Nur 
aus einem Zusammendrucke der Besprechungen, 
wie er hier geliefert wird, kann z. B. ersehen 
werden, wie geartet das Echo war, das die drei 
Dichter bei ihrem ersten Erscheinen fanden. Wie 
rücksichtslos war die Begeisterung. Wie richtig 
die Voraussicht derer, welche das Weiterleben 
dieser Erstlingswerke prophezeiten. Wie ver 
schieden auch wieder waren die Kreise, inner 
halb deren der Wiederklang erfolgte. Was wir 
hier empfangen, schliesst sich zu einer Litteratur- 
geschichte eigner Art zusammen. Zuerst beschäf 
tigen uns ja die Werke nur um ihrer selbst willen: 
gleichgültig ist uns, wie die Zeitgenossen sie auf- 
nahmen. Nur ob wir mit dem eignen Herzen 
daran betheiligt sind, fragen wir. Dann erst 
suchen wir den Bildungsgang des Dichters zu 
ergründen. Dann seine Technik. Dann wollen 
wir wissen, wieviel original an den Dichtungen 
sei. Endlich aber doch, als retrospektive Litte- 
rarhistoriker, forschen wir nach, wie die Zeit 
genossen urtheilten und welchen Einfluss ihre Kri 
tiken gehabt haben könnten. 
Der Werth zeitgenössischer Kritik wächst, 
wenn wir bedenken, dass im vorigen Jahrhundert 
das deutsche Volk einen Theil seiner edelsten 
Kraft der Beurtheilung dichterischer Arbeit wid 
mete. Oeffentliche Besprechungen waren Ereig 
nisse. Heute haben die Rezensionen längst auf 
gehört, den Durchschnittswerth des öffentlichen 
Urtheils zu geben, da neben den gedruckten 
Schmäh- und Lobartikeln das nur mündlich sich 
fortpflanzende Urtheil der höher gebildeten Klasse 
als das maassgebende nebenherläuft. Gleichgültig 
erscheinen uns heute die 'litterarischen Fehden’ 
von vor hundert Jahren. Will man sie aber 
kennen lernen, so müssen die Aktenstücke selbst 
gelesen werden. Ich kannte Goethes Verhältniss 
zu Kotzebue ziemlich genau, und doch erst als 
ich die heute wenig zugänglichen Journalartikel 
dieses giftigen Talentes in voller Länge bei Braun 
abgedruckt fand, wurde mir die Niedertracht 
Kotzebues und seiner Gehilfen klar, und zugleich 
die Kunst, mit welcher Goethe ihre Stösse parirte. 
Alles bis zu Kotzebues Auftreten gegen Goethe 
Unternommene trug den Charakter gelegentlicher 
Angriffe, von denjenigen ausgehend die ihm nahe 
standen, und ward zumeist mündlich oder in 
Briefen ausgesprochen. Kotzebue aber war eine 
organisatorisch angelegte Natur. Ein Politiker.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.