© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr.50
1893, Dez.16, S. 1579-1580
Xenien 1796- Nach den Handschriften des Goethe-
und Schiller-Archivs herausg. von Erich Schmidt
und Bernhard Suphan. Mit einem Facsimile.
(Schriften der Goethe-Gesellschaft. Im Aufträge des
Vorstandes herausg. von Bernhard Suphan. 8. Band.)
Weimar, Böhlau, 1893. XXNVI u. 268 S. 8°.
Eigentlich genügte es, nur das Erscheinen des
Buches anzukündigen. Was wir empfangen, bildet
eine der grössten litterarischen Ueberraschungen.
Die beiden Dichter schaffen ein Werk, das jedem
einzeln für sich und zugleich doch als unzertrenn
bares Ganzes beiden angehören soll. Vor unseren
Augen arbeiten sie daran. Plötzlich gebt ihnen
auf, das Unternehmen sei der Masse nach zu
gross, dem Geiste nach nicht mehr das, was es
dem anfänglichen Gedanken nach hatte sein
sollen. Unbarmherzig wird nun abgeschnitten
was zuviel erscheint — es fällt unter den Tisch,
wie man auf Redaktionen sagt — und Schiller
giebt dem Reste eine neue Anordnung. Wie und
warum das geschieht, erzählt die von den Edi
toren gemeinsam verfasste Vorrede: auch sie
beide treten für diese Einleitung ein, als habe
jeder allein sie geschrieben. Dann folgt der
Text des Manuskriptes von 1796: die noch un-
verringerte Masse in der ursprünglichen An
ordnung. Dann eine Fülle höchst lehrreicher
erklärender Noten.
Die Xenien sind ein Phänomen einziger Art.
Keine Litteratur besitzt Aehnliches. Ihr uner
schöpflicher Inhalt, das Ueberströmende dieses An
griffes, ihr Auffliegen wie eine Schaar stechender
Insekten, hat für uns heute noch etwas Betäubendes.
Ihre momentane Wirkung muss fürchterlich ge
wesen sein. Denn es vereinigte sich hier die
doppelte Wirkung des beleidigenden Gedankens
und der vollendeten Form, durch welche ihm
Dauer gegeben ward. Heute noch wirken sie
und machen die Betroffenen lächerlich, die nun
freilich den Xenien oft verdanken, dass man über
haupt noch von ihnen wisse. Die Versuche, sich
zu wehren oder sich zu rächen, wobei dann zu-
I weilen wiederum dichterische Form gewählt ward
(die niemalsvaber dauernden Erfolg hatte), das Be
ginnen Einzelner, der Feinheit des Angriffes, der
niemals d r Grazie entbehrte, grenzenlose Grob
heit und Verleumdung entgegenzusetzen, sind nur
1 allzu verständlich. Die zu Anfang des Jahr
hunderts besonders in Berlin, wohin Kotzebue
sich zurückzog, hervorbrechende giftige Feind
schaft gegen Goethe fand in ihnen ihren Ursprung
und hat ihm später genug zu schaffen gemacht.
Berlin. Ilerman Grimm.