© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
aus
Deutsche Litteraturzeitung,
Nr.45,1886,Nov. 6,
S.1614 -1615
Kunst und Kunstgeschichte.
tobert Vischer, Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart.
Bonz u. Co., 1886. IX u. 632 S. gr. 8°. M. 10.
Der das Buch eröffnende Aufsatz »zur Kritik
mittelalterlicher Kunst« behandelt die byzantinische
Kunst in ihrem Einflüsse auf die älteste deutsche Kunst.
In Nr. 2 wird die Auffassung Giottos zurückgewiesen,
in der Rumohr sich gegen diesen Meister wendet, und
die Anfänge der italienischen Kunst kommen zur
Sprache. Es folgt eine umfangreiche Darstellung der
Entwicklung Raphaels, die den Verf. als selbständigen
und gedankenvollen Beobachter erscheinen lässt. Die
Besprechung eines in Gotha befindlichen Gemäldes von
Signorelli enthält Nachträge zu dem 1879 erschienenen
ersten Buche des Verfs. über diesen Maler, (das an
fangs von vielen Seiten herb zurückgewiesen, heute an
ehrenvoller Stelle seinen festen Platz hat). Die nun
folgenden beiden Aufsätze über Dürer und Wohlge-
muth sind nicht nur dem Raume nach, den sie ein
nehmen, die bedeutendsten der Sammlung. Gleich der
Mehrzahl der übrigen waren auch sie noch ungedruckt
gewesen und zeigen den Verf. von sehr vorteilhafter
Seite. Ich habe mich in Nr. 361 der Nationalzeitung
eingehender darüber ausgesprochen. Die drei letzten
Stücke behandeln Kapitel der deutschen Kunstge
schichte aus dem Zeitalter der Reformation. Vischer
zeigt sich in seinem Buche als ein Mann von sicherem
Urteil und als jemand, der lebendig und gut zu schreiben
weifs. Die darin aufgestellten Probleme sind völlig sein
Eigentum, und die Gedankenreihen, zu denen sie Anlass
geben, gehören ihm ebenso. Wo er widerspricht, ist
es ihm um die Sache zu tun, und kein Anklang an die
widerliche und impotente Rechthaberei, die der Neueren
Kunstgeschichte heute zum Schaden gereicht, macht sich
bemerklich. Seine Anschauung der Kunstgeschichte ist
um so wichtiger, als seine Art, die Dinge philosophisch
zu construieren, heute beinahe nur diesen einen Ver
treter hat. Es ist an der Zeit, dass über dem inhalts
losen Feststellen von Echtheit und Unechtheit und von
chronologischen Entstehungsdaten, mit deren Richtig
keit die, die sie gefunden haben, nichts anzufangen
wissen, zu Betrachtung des höheren Inhaltes der Werke
zurückgekehrt werde, die das eigentliche Wesen der
Kunsthistorik ausmacht.
Zu einer sachlichen Gegenbemerkung gibt mir —
während ich Anderes übergehe — hier nur das Ge
legenheit, was V. in einer der dem Buche angehängten,
inhaltvollen, Noten über Raphael sagt. Es spricht zu
Gunsten des viel umstrittenen angeblichen Jugendbild
nisses. Er beruft sich — wozu er durchaus berechtigt
ist — auf den Gesammteindruck des Gemäldes, den er
davon empfangen habe. Er stellt zwar nicht in Ab
rede, dass die Züge mit den von Raphael selbst in den
Kalk eingeritzten Umrissen seines Kopfes auf der
Schule von Athen nicht stimmen, meint aber, der
gleichen Umrisse könnten gezeichnet worden sein, ohne
dass der Meister sie bei der Ausführung später genau
innegehalten hätte. Dass dies möglich sei, will ich nicht
in Abrede stellen, da der Kopf dicht nebenan, den
Vasari für den Peruginos erkärt, während Neuere
richtiger auf Sodoma geraten haben, mit der unter
den Farben liegenden eingeritzten Zeichnung noch viel
weniger stimmt. Allein V. hat aufser Acht gelassen,
dass bei Raphaels Kopf diese Einritzungen mit dem
von Vasari vor seiner Vita di Raffaello gegebenen PIolz-
schnitte übereinstimmen, ein Umstand, der uns zu der
festen Annahme berechtigt, Raphaels Kopf liege in
dieser Redaction in seiner echten Gestaltung vor und
sei von späteren Restauratoren erst in sein heutiges An
sehen versetzt worden. Ist die Schule von Athen aber
mit diesem einzigen als Bildnis Raphaels bezeugten
Porträt des grofsen Künstlers von i5o8/3o entstanden,
so scheint es unmöglich, dass das, in das Jahr i5oö ver
setzte, unbezeugte, eingestandenermafsen vielfach über
malte Florentiner Porträt in seiner heutigen Gestalt
dem Aussehen Raphaels entsprochen habe.
Berlin. H. Grimm.