© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
2j
tantische angesehen, sich in manchen Fällen in Ver
mutungen aber weiter vorgewagt, als ich je den Mut
gehabt. Er glaubte, wenn er eine Anzahl sicherer
Schritte getan, dann einen Sprung ins Ungewisse sich
gestatten zu dürfen. Seinem Geiste war eine unglaub
lich fruchtbare kritische Erfindungsgabe eigen. Es war
eine Freude, mit ihm zu disputieren, er wüste immer
wider seiner Ansicht nach unangreifbare Stellungen zu
finden. Wenn wir länger zusammen gearbeitet hätten,
würden wir wahrscheinlich viele Gebiete endlich nicht
mehr berührt haben. Ich bespreche diesen Gegenstand,
weil hier etwas liegt, was innerhalb der Goetheforschung
vielleicht zu einer Scheidung in der Behandlungsweise
und in den Grundanschauungen führen wird.
Ich war, wie eine nachträgliche Notiz Schs. zeigt,
die wir aufgenommen haben, mit Schs. Herstellung der
Nausikaa nicht einverstanden. Mein Hauptgrund war,
dass Goethes Schema für diesen selbst nicht bindend
sein konnte. Es galt Goethe nur für den Augenblick
vielleicht, wo er es niederschrieb, und es liefen viel
leicht in diesem Augenblicke selbst schon andere Mög
lichkeiten nebenher, die er ausliefs und die später an
die Stelle des Aufgezeichneten getreten wären. Was
ich Sch. damals als meine Construction der Tragödie
schrieb, war ein im Hinblicke auf solche Möglichkeiten,
zugleich aber im schärferen Anschlüsse an das Vor
handene erfundenes Phantasiegebäude, das ich aber
auch für nichts Besseres ausgab. Das Bedenkliche der,
wie man heute kurzweg zu sagen pflegt, »philologi
schen«, oder »streng wissenschaftlichen« Methode, liegt
überhaupt darin, dass man, nachdem alles aufzu-
treibendu Material aufgetrieben und strengstens unter
sucht worden ist, sich für befugt hält, aus diesem
Bestände absolut zuverlässiger Mitteilungen nun bin
dende Schlüsse zu ziehen. Aber dies aufgebrachte
Material beruhte in seiner Totalität nur auf dem Zu
falle. Man darf Fragmente eines Bestandes niemals
dessen vollen Umfang repräsentieren lassen. Jeder zu
fällige neue Fund ändert dann ja die Lage der Dinge
von Grund aus. Und so finden wir in Erich Schmidts
eben erschienenen »Tagebüchern und Briefen Goethes
aus Italien« den Vermerk wider, Sch. habe, als er die
Nausikaa reconstruierte, die Notizen nicht gekannt,
welche im Goethearchive zum Vorscheine kamen. Es
könnten künftig vielleicht noch andere sich finden,
um das umzugestalten, was man unter Hereinziehung
der von Schmidt gefundenen Fragmente heute etwa
als das erreichbare Material zum Grunde neuer Con-
jecturen gemacht. Möchte dies Material aber noch
so umfangreich und vollständig erscheinen: immer
würde das Bedenken seine Verwertung beeinträchtigen,
dass das Datum der ersten Niederschrift nicht auch
das des ersten Erscheinens in der Phantasie des Dichters
sei, der Jahre lang Dinge mit sich herumtrug, ehe
er sie mit einer Zeile fixierte. Dies gilt besonders
für Faust. Der bleibende Wert der betreffenden Auf
sätze liegt nicht in dem Resultate der Untersuchungen
Schs., sondern in der Art, wie er sie anstellt. Man lässt
sich gern von ihm leiten, wohin er uns haben möchte,
auch wenn man weifs, dass sein Ziel nicht in der Rich
tung liege, die er selbst heute etwa einschlagen würde.
Allen Stücken unserer Sammlung wohnt das lebendige
Element inne, das Sch. in so hohem und in so sehr mit
teilbarem Grade eigen war: dass wir uns von ihm fassen
und fortführen lassen, und dass uns nie gereut, den
Weg, den er wollte, so lange er ihn selbst beschreitet, mit
ihm zurückgelegt zu haben. Die Arbeit über Nausikaa
aber zeigt unter den hier abgedruckten Sch. auch des
halb am vollsten, weil sie seine eigentümliche Gabe
des Reconstruierens am umfangreichsten zeigt. Sein
Bestreben ist: »uns zu erstatten, was die Natur uns
ganz versagt« wie Goethe schreibt. Wenig Tage vor
seinem Ende safs ich einmal bei ihm. Er hatte sich,
weil ihn das erfrischte, bei Tage noch auf eine Anzahl
Stunden zu Bette gelegt. Er explicierte mir, wie er
sich auf lange Zeit hin nun ganz resigniert habe. Wie
der Gedanke an seine Frau und die Kinder ihm in
seinen Arbeiten allein mafsgebend sein dürfe. Wie er
auf lange hin nichts Neues zu unternehmen gedenke.
Es dämmerte schon als ich fortgieng. Er hatte eine
Zeit lang geschwiegen, dann hielt er mich plötzlich
zurück und mit ganz veränderter Stimme begann er:
»Wissen Sie, eine neue Auflage vom Leben Ihres
Onkels wird bald nötig sein! Dazu werde ich ein ganz
neues Kapitel schreiben: Ein ungeschriebenes Buch
Jacob Grimms! Das ist das Buch über Deutsche Sitten
und Gebräuche, das er noch schreiben wollte! Da vveifs
ich, was darin stehen sollte! Das wird ein s^uönes
Kapitel werden! Was meinen Sie?« Was ich meinte?
Ich ahnte, auch dies Kapitel werde ungeschrieben bleiben.
In seiner Stimme lag der alte Kriegsruf. Das Ge
fühl seines Leidens und der Zurückhaltung, die er sich
auferlegen müsse, war verschwunden. Sch., so ruhig
er das Gegenteil versicherte, vermochte den Gedanken
doch nicht zu fassen, dass er in seinem Vorwärts
dringen durch Schranken gehemmt sein solle. Er hätte
nicht leben können ohne grofse Unternehmungen, wie
er sie stets mit sich herumtrug, und für die er, wäre
ihm Leben bestimmt gewesen, geschaffen war. Mit
welchem Ueberblicke organisierte er, verbunden mit
Loeper, die neue Goetheausgabe! Sein Lieblingsge
danke war die Gründung einer »Deutschen Akademie«,
in der alle Gelehrten sich zusammenfinden sollten,
denen deutsche Sprache und Geschichte am Herzen
lägen. Alle Fehde und Gegnerschaft müsse dagegen
zurückstehen. Er hatte einen detaillierten Plan dafür
ausgearbeitet, wie er mir mehrfach aussprach. Gezeigt
hat er ihn mir nie, aber er muss sich in seinen Papieren
finden. Dies ist ein Trost bei seinem Fortgange, dass
die Vorsehung, indem sie seiner Laufbahn ein plötz
liches Ende setzte, ihm lange Jahre vielleicht traurigen
Ankämpfens gegen ein andres Leben ersparte, das ihm
unerträglich gewesen wäre.
Su-llis. lebendiges
unsere Aufsätze aus./
güns/tige Leser finde^
^ Berlin.
mgreifJn der
Sie können k
inge * sprecneis^
ne ander
-I-l p r n-| p n Gri mm.