Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
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tantische angesehen, sich in manchen Fällen in Ver 
mutungen aber weiter vorgewagt, als ich je den Mut 
gehabt. Er glaubte, wenn er eine Anzahl sicherer 
Schritte getan, dann einen Sprung ins Ungewisse sich 
gestatten zu dürfen. Seinem Geiste war eine unglaub 
lich fruchtbare kritische Erfindungsgabe eigen. Es war 
eine Freude, mit ihm zu disputieren, er wüste immer 
wider seiner Ansicht nach unangreifbare Stellungen zu 
finden. Wenn wir länger zusammen gearbeitet hätten, 
würden wir wahrscheinlich viele Gebiete endlich nicht 
mehr berührt haben. Ich bespreche diesen Gegenstand, 
weil hier etwas liegt, was innerhalb der Goetheforschung 
vielleicht zu einer Scheidung in der Behandlungsweise 
und in den Grundanschauungen führen wird. 
Ich war, wie eine nachträgliche Notiz Schs. zeigt, 
die wir aufgenommen haben, mit Schs. Herstellung der 
Nausikaa nicht einverstanden. Mein Hauptgrund war, 
dass Goethes Schema für diesen selbst nicht bindend 
sein konnte. Es galt Goethe nur für den Augenblick 
vielleicht, wo er es niederschrieb, und es liefen viel 
leicht in diesem Augenblicke selbst schon andere Mög 
lichkeiten nebenher, die er ausliefs und die später an 
die Stelle des Aufgezeichneten getreten wären. Was 
ich Sch. damals als meine Construction der Tragödie 
schrieb, war ein im Hinblicke auf solche Möglichkeiten, 
zugleich aber im schärferen Anschlüsse an das Vor 
handene erfundenes Phantasiegebäude, das ich aber 
auch für nichts Besseres ausgab. Das Bedenkliche der, 
wie man heute kurzweg zu sagen pflegt, »philologi 
schen«, oder »streng wissenschaftlichen« Methode, liegt 
überhaupt darin, dass man, nachdem alles aufzu- 
treibendu Material aufgetrieben und strengstens unter 
sucht worden ist, sich für befugt hält, aus diesem 
Bestände absolut zuverlässiger Mitteilungen nun bin 
dende Schlüsse zu ziehen. Aber dies aufgebrachte 
Material beruhte in seiner Totalität nur auf dem Zu 
falle. Man darf Fragmente eines Bestandes niemals 
dessen vollen Umfang repräsentieren lassen. Jeder zu 
fällige neue Fund ändert dann ja die Lage der Dinge 
von Grund aus. Und so finden wir in Erich Schmidts 
eben erschienenen »Tagebüchern und Briefen Goethes 
aus Italien« den Vermerk wider, Sch. habe, als er die 
Nausikaa reconstruierte, die Notizen nicht gekannt, 
welche im Goethearchive zum Vorscheine kamen. Es 
könnten künftig vielleicht noch andere sich finden, 
um das umzugestalten, was man unter Hereinziehung 
der von Schmidt gefundenen Fragmente heute etwa 
als das erreichbare Material zum Grunde neuer Con- 
jecturen gemacht. Möchte dies Material aber noch 
so umfangreich und vollständig erscheinen: immer 
würde das Bedenken seine Verwertung beeinträchtigen, 
dass das Datum der ersten Niederschrift nicht auch 
das des ersten Erscheinens in der Phantasie des Dichters 
sei, der Jahre lang Dinge mit sich herumtrug, ehe 
er sie mit einer Zeile fixierte. Dies gilt besonders 
für Faust. Der bleibende Wert der betreffenden Auf 
sätze liegt nicht in dem Resultate der Untersuchungen 
Schs., sondern in der Art, wie er sie anstellt. Man lässt 
sich gern von ihm leiten, wohin er uns haben möchte, 
auch wenn man weifs, dass sein Ziel nicht in der Rich 
tung liege, die er selbst heute etwa einschlagen würde. 
Allen Stücken unserer Sammlung wohnt das lebendige 
Element inne, das Sch. in so hohem und in so sehr mit 
teilbarem Grade eigen war: dass wir uns von ihm fassen 
und fortführen lassen, und dass uns nie gereut, den 
Weg, den er wollte, so lange er ihn selbst beschreitet, mit 
ihm zurückgelegt zu haben. Die Arbeit über Nausikaa 
aber zeigt unter den hier abgedruckten Sch. auch des 
halb am vollsten, weil sie seine eigentümliche Gabe 
des Reconstruierens am umfangreichsten zeigt. Sein 
Bestreben ist: »uns zu erstatten, was die Natur uns 
ganz versagt« wie Goethe schreibt. Wenig Tage vor 
seinem Ende safs ich einmal bei ihm. Er hatte sich, 
weil ihn das erfrischte, bei Tage noch auf eine Anzahl 
Stunden zu Bette gelegt. Er explicierte mir, wie er 
sich auf lange Zeit hin nun ganz resigniert habe. Wie 
der Gedanke an seine Frau und die Kinder ihm in 
seinen Arbeiten allein mafsgebend sein dürfe. Wie er 
auf lange hin nichts Neues zu unternehmen gedenke. 
Es dämmerte schon als ich fortgieng. Er hatte eine 
Zeit lang geschwiegen, dann hielt er mich plötzlich 
zurück und mit ganz veränderter Stimme begann er: 
»Wissen Sie, eine neue Auflage vom Leben Ihres 
Onkels wird bald nötig sein! Dazu werde ich ein ganz 
neues Kapitel schreiben: Ein ungeschriebenes Buch 
Jacob Grimms! Das ist das Buch über Deutsche Sitten 
und Gebräuche, das er noch schreiben wollte! Da vveifs 
ich, was darin stehen sollte! Das wird ein s^uönes 
Kapitel werden! Was meinen Sie?« Was ich meinte? 
Ich ahnte, auch dies Kapitel werde ungeschrieben bleiben. 
In seiner Stimme lag der alte Kriegsruf. Das Ge 
fühl seines Leidens und der Zurückhaltung, die er sich 
auferlegen müsse, war verschwunden. Sch., so ruhig 
er das Gegenteil versicherte, vermochte den Gedanken 
doch nicht zu fassen, dass er in seinem Vorwärts 
dringen durch Schranken gehemmt sein solle. Er hätte 
nicht leben können ohne grofse Unternehmungen, wie 
er sie stets mit sich herumtrug, und für die er, wäre 
ihm Leben bestimmt gewesen, geschaffen war. Mit 
welchem Ueberblicke organisierte er, verbunden mit 
Loeper, die neue Goetheausgabe! Sein Lieblingsge 
danke war die Gründung einer »Deutschen Akademie«, 
in der alle Gelehrten sich zusammenfinden sollten, 
denen deutsche Sprache und Geschichte am Herzen 
lägen. Alle Fehde und Gegnerschaft müsse dagegen 
zurückstehen. Er hatte einen detaillierten Plan dafür 
ausgearbeitet, wie er mir mehrfach aussprach. Gezeigt 
hat er ihn mir nie, aber er muss sich in seinen Papieren 
finden. Dies ist ein Trost bei seinem Fortgange, dass 
die Vorsehung, indem sie seiner Laufbahn ein plötz 
liches Ende setzte, ihm lange Jahre vielleicht traurigen 
Ankämpfens gegen ein andres Leben ersparte, das ihm 
unerträglich gewesen wäre. 
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