Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
A 
aus : deutsche Litteraturzeitung, Nr. 3 
1887, Jan. 15, S. 89-92 
ganz als die Sprache eines Lebenden, der noch selber 
dasteht um für seine Gedanken und die Worte, in die . 
er sie kleidet, einzutreten, und doch, da ihr Urheber so 
früh fortgenommen wurde, werden sie keinen derer 
mehr reizen, die darin zuweilen hart angefasst werden. 
Die Schuld müste in diesem Falle Erich Schmidt und 
mich treffen, die wir die Sachen neu drucken liefsen. 
Mir war es, als mir die Bogen den Sommer über in 
meine Einsamkeit einzeln zu Händen kamen, oft, als 
sende Sch. selber sie mir, und unwillkürlich durch 
schoss mich da und dort der Gedanke: darüber muss 
ich doch erst mit Sch. sprechen, ehe das so wider in 
die Welt geht. Seine Absicht, als er die einzelnen 
Stücke für etwaiges späteres gemeinsames Erscheinen 
| zusammenlegte, war völlige Umarbeitung gewesen. Im 
j Hinblick hierauf konnte wol der Zweifel aufsteigen, 
ob es nicht besser sei, diese Stücke, deren jedes zu 
i verschiedenen Zeiten seine lebendige Wirkung gehabt, 
nun ruhen zu lassen. Natürlich aber musten solche 
Bedenken dann schweigen, als wir erwogen, wie wichtig 
gerade ihr Erscheinen dicht neben einander im An 
scheine eines geplanten Buches sei. Sie bilden so wie 
sie vorliegen ein Supplement zu dem wichtigsten Teile 
der Schschen Litteraturgeschichte. Sie zeigen, wie er zu 
seinen Resultaten gelangte. Es kommt für den Leser 
hierauf zumeist an; weniger, in wie weit man bei einzel 
nen Fragen mit Sch. übereinstimmt oder dessen Me 
thode gutheifst. Ein Fall, in dem ich selbst an vielen 
Stellen bin. Denn so nah ich Sch. stand, so verschie 
den waren oft unsere Meinungen über die Behandlung 
der Dinge so wol, als über die Sicherheit des Gefunde 
nen. Sch. griff anfangs aus dem Bereiche, in den er 
sich neben Müllenhoff gestellt, nur hier und da in den 
der neueren Litteratur herüber, sich damals meist nur 
im Allgemeinen haltend; allmählich erst begann er die 
philologische Behandlung, in der er eine so scharf- # 
disciplinierende Schule durchgemacht, auf Goethe an 
zuwenden. Es schien ihm, als ob sich mit der Lach- 
mannischen Culturmethode auch dem modernen Boden 
ganz neue Frucht abzüchten lassen werde. Ich konnte 
Wilhelm Scherer, Aufsätze über Goethe. Berlin, Weid 
mann, 1886. VIII ii. 355 S. gr. 8°. M. 6. 
Nach Abschluss der Litteraturgeschichte wollte 
Wilhelm Scherer seine »Goethebiographie« in Angriff 
nehmen. Oft fragte er mich »was meinen Sie, soll 
ich damit anfangen?« Ich konnte nicht wissen, wie 
sehr er des Ausruhens bedürftig sei, und ermunterte 
ihn. Was die Aufsätze über Goethe enthalten, sind 
Fragmente einer solchen Arbeit, wie sie ihm seit vielen 
Jahren schon vorschwebte. In verschiedenen Zeiten 
fasste er die Aufgabe, was die Form anlangt, sicherlich 
anders. Hätte er sie angreifen dürfen, so würde 
schliefslich wol nur wenig an kritischen Ausführungen 
sichtbar geworden sein. Sein Streben war auf immer 
gröfsere Einfachheit gerichtet. Er sagte mir einmal 
»wenn ich die Litteraturgeschichte jetzt zu schreiben 
hätte, würde ich Alles noch viel straffer zusammen 
fassen«. Es lag etwas Befehlendes in Schs. Natur: als 
Gelehrter suchte er zu überzeugen und muste zu 
geben, dass alle Untersuchung doch nur zu bedingter 
Sicherheit leite, als Schriftsteller aber wünschte er 
den Widerspruch der Mitlebenden wenigstens abzu 
schneiden, Diese Aufsätze klingen deshalb auch so 
so fest nicht daran glauben: ein gewisses Waltenlassen 
der Willkür schien mir notwendig. Ich erinnere mich 
aus den vergangenen Zeiten, wo nur Wenige im Stillen 
sich mit Goethe beschäftigten und an wissenschaft 
lichen Betrieb dieser Studien auf Universitäten noch 
gar nicht gedacht wurde, wie ein älterer klassischer 
Philologe einmal folgendes Geständnis machte: »es ist 
seltsam, wenn ich die Principien, nach denen wir die 
Texte der antiken Klassiker herstellen, auf Goethes 
Schriften anwende, will nichts dabei herauskommen«. 
Sch. würde dem nicht beigestimmt haben. Er glaubte 
bei seinen Untersuchungen über die Entstehungsge 
schichte des Faust an den Gewinn von festen Punkten, 
zu deren Anerkennung man nötigen könne. Er meinte 
die Lachmannischen »Näte« nachweisen zu können. 
Der Scharfsinn, mit dem er zu Werke geht, ist bewun 
derungswürdig, aber weder mich, noch Julian Schmidt, 
seiner Zeit, hat er überzeugen können. Uns, den so 
viel älteren, war der Glauben an die Wirksamkeit 
philologischer Hilfsmittel nicht mitgegeben worden, der 
Sch. beseelte. 
Sch. hat meine Art, die Goetheschen Dinge zu be 
handeln, im Stillen vielleicht manchmal als eine dilet-
	        
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