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aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 46
1896, Nov. 14, S. 1458-1461
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
Carl Neumann, Der Kampf um die Neue Kunst.
Berlin, Hermann Walther, 1896. IX u. 268 S. 8°.
M. 5, geh. M. 6,75.
Der Leser findet im vorliegenden Buche viele
Fragen berührt, die bei der Beurtheilung von
Ausstellungen meist vom Publikum und von der
Zeitungskritik behandelt zu werden pflegen. Die
Probleme — technische wie geistige — werden
bis auf ihre Herkunft geprüft und ihre Zukunft
erörtert. Es ist erfreulich, dass wahrhaft histo
rische Betrachtung dieser Art mehr und mehr Raum
gewinnt, so dass die Punkte der kunstgeschicht
lichen Arbeit, die eigentlich nur den Sammler,
Händler und Museumsbeamten interessiren, all
mählich zurücktreten. Auf dem gesammten Ge
biete der Neueren Kunstgeschichte scheint dieser
Umschwung sich zu vollziehen. Man empfindet,
dass nicht der Besitz w r eitausgedebnten Notizen-
vorrathes und praktischer Erfahrung, sondern das
Bewusstsein eines höheren Zusammenhanges der
Erscheinungen das Recht verleihen, von einer
»Wissenschaft« der Kunstgeschichte zu reden.
Fast scheint diese Wendung zu höherer Betrach
tung der Dinge als ein nothwendiger Umschlag
in der Zeit der tiefsten Erniedrigung jetzt einzu
treten. Es geht nicht so weiter. Wenn litte-*
rarischer Raub heute offen betrieben und ver-
theidigt wird, als verstehe sich das ganz von selber,
so bleibt nichts übrig, als mit Uebergehung dieses
Unheils sich in gewissenhafteste ehrliche Arbeit
zu versenken. In diesem Sinne ist Neumanns
Schrift sehr erfreulich. Er will durchaus nicht
mehr geben als er selbst erworben hat. Der
neueste Kampf um die Neue Kunst ist ihm ein
Phänomen, dem er theoretisch ganz aus eigenen
Gedanken beizukommen sucht.
Die produzirende Künstlerschaft ist in der
Lage, dem Publikum ihre Erzeugnisse immer
dringender anzubieten. Sie wird dazu durch den
Umstand genöthigt, dass mehr und mehr öffentliche
Schulen bildende Künstler erziehen, immer mehr
Schüler sich ihnen zuwenden, immer mehr Lebens
anfänger ihre Hoffnungen darauf setzen, sich als
Künstler (oder Künstlerinnen) bewähren und er
nähren zu können, und immer mehr Gelegenheiten
sich aufthun, in eigenen Arbeiten mit denen An
derer öffentlich in Konkurrenz zu treten. Die
Presse betheiligt sich lebhaft bei diesem Kampfe
um das Dasein. Nicht nur in Deutschland findet
diese Ueberfüllung des Marktes und dieses Sich-
vordrängen und Selbstdarbieten statt. Zugleich
aber zeigt sich, dass das wirkliche Talent in der
That Raum für gewinnbringende Thätigkeit findet.
Angemessen erscheint es da, dass man theoretisch
frage, welche Stelle die bildenden Künste und
deren Vertreter heute einnehmen, welche ihnen ge
bühre und welche sie in früheren Zeiten einnahmen.
Spricht sich ein erfahrener, historisch gebildeter
Mann darüber eingehend aus, so wird seine
Stimme Beachtung finden. Dies der Grund, wes
halb Dr. Neumanns Buch, wie ich höre, bald
eine zweite Auflage erleben dürfte.
Es enthält eine Darlegung der heutigen Lage
der Dinge unter eine Reihe von Gesichtspunkten
gebracht, die neu und gut durchgeführt worden
ist. Die bildenden Künste und Künstler des
neuesten Tages sind ebensosehr einer sich lang
hinstreckenden inneren Entwickelung, als den
frischhinzutretenden äusseren Bedingungen der
Gegenwart entwachsen. Ich habe mich oft über
diese Dinge ausgesprochen, die vorliegenden Er
örterungen aber mit sich gleich bleibendem
Interesse gelesen. Während die erste Hälfte in
fünf Kapiteln das bringt, was als Titel zugleich
dem Ganzen zugetheilt worden ist: »Den Kampf
um die Neue Kunst«, enthält die zweite vier
»Einzelstudien« benannte Aufsätze über Rauch,
über Feuerbach, über die moderne Malerei (auf
den Ausstellungen) und über Böcklin. Neumann
zeigt in einzelnen Beispielen, wie er die ersten
fünf Kapitel, hätte nicht der Zwang gewaltet,
ihnen die beschränkende Gestalt von Vorlesungen
zu geben, noch breiter in der Ausführung viel
leicht gestaltet haben würde. Auch die vier
abschliessenden Aufsätze erschöpfen ihreThematen
nicht: bei vollerer Behandlung wäre mehr zu sagen
gewesen; zum Theil aber war dies die Absicht:
dargelegt sollte nur werden, wie die drei be
sprochenen Meister sich den Ansprüchen der
neuesten Gegenwart gegenüber verhalten.
In diesem Sinne ist das Buch eine Diskussion,
eine Reihe in Zusammenhang gebrachter Ge
danken, die uns heute besonders angehen. Kein
Künstler soll daraus lernen, was er nun eigent
lich zu thun habe, denn dies kann überhaupt
nicht gelehrt werden; dem Publikum aber werden
die Wege gewiesen, auf denen es sein Urtheil
verfeinern kann, und dies ist auch für Künstler
sehr wichtig, die auf das Verständniss der Be
trachtenden angewiesen sind. Neumann hat seine
Schrift zuerst in Gestalt von Vorlesungen, zu
denen er an’s Frankfurter Freie Deutsche Hoch
stift im Winter vorigen Jahres eingeladen war,
vor die Oeffentlicbkeit gebracht. Sicherlich nicht
ohne Nutzen seiner Hörer. Als Süddeutscher
geht er in seinen Betrachtungen der Dinge meist
von München aus. Der dort waltende lebendige
Verkehr zwischen Schaffenden und Geniessenden
zieht ihn an. Er sucht sich zwischen den Par
teien zu einer unabhängigen Stellung zu erheben,
unterdrückt aber seine Vorliebe für Einzelne nicht.
Seine philosophische Ruhe dem ungewissen Stande
mancher Fragen gegenüber ergiebt sich als ein
Resultat seiner Erfahrung. Er hat Reisen ge
macht, zumal in Italien, viel (oder Alles?) gesehen
Er wird als Universitätslehrer diese Vorlesungen
in ihren grossen Zügen vielleicht noch oft wieder
holen und dann neue Belege für seine grund
legenden Behauptungen gefunden haben.
Mein Wunsch wäre, er entschlösse sich in
Zukunft bei Weitem mehr und viel eingehendere
Beschreibungen von Kunstwerken zu geben.
Den meisten Schriften, die von Kunstgeschichte
handeln, fehlt es hier an Inhalt. Auch bei
gegebene Reproduktionen machen die Darstellung
in Worten nicht überflüssig. Man hat die Dinge