essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
Literarische Notizen.
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unbarmherzig gegen Bürger vorging, nicht dazu
geeignet, ihn richtig zu erfassen. Schiller suchte
von dem Realismus loszukommen, der Bürger's
Stärke war. Vergleichen wir Bürger's Leonore
mit Schiller's Kampf mit dem Drachen, oder
mit dem Gange zum Eisenhammer: Schiller,
indem er Ereignisse crassester Art ausmalt, läßt
uns dennoch nie zu nahe herantreten; wir sehen
das Unheil aus einer gewissen Entfernung, wo
Bürger dagegen die wilde Jagd beschreibt, wird
uns allmälig, als ob wir selbst mit dahinrasten.
Bei Bürger's Leonore ist es, als ob wir Pferd
und Lederzeug röchen. Dieser Localgeruch ist
alle seinen Darstellungen eigen. Darin steht
Bürger unter unseren Dichtern unübertroffen
da. Ihm fehlte als schaffendem Dichter bei
seinen leidenschaftlichen Anschauungen, wenn
irgend Einem, das mildernde Element des
Publicums einer großen Stadt. Das Göttingen
von vor hundertundfünfzig Jahren war ßas
Höchste, wohin er sich aufschwang. Da lief er
in einem engen Kreise umher, wurde gehetzt
und stürzte und erhob sich nicht wieder.
Griesebach's Ausgabe ist (11, XV) zunächst
für den Bibliophilen bestimmt. Von seiner
ersten, 1872 herausgekommenen Ausgabe der
Gedichte Bürger's urtheilt der Verfasser hier
nicht günstig, auch deshalb, weil sie nur eine
Auswahl enthalte. Unserer Ansicht nach ist eine
Ausgabe säinmtlicher Gedichte Bürger's schätz
bar und unentbehrlich, eine Auswahl aber
wiederum geboten, wo man sie dem größeren
Publicum in die Hände geben möchte.
ßxtf. G. A. Bürger et les origines anglai-
868 de la Ballade litteraire en Alle-
ui agne par G. Bo net Maury, Docteur
es Iettres, Professeur ä la Faculte de Theo
logie protestante de Paris, Paris, Hachette
et Cie. 1889.
Der Titel trägt folgendes Motto: „J'ai
vu la Muse de la Germanie entrer en lice
avec la Muse anglaise et s’elancer pleinc
d’ardeur ä la victoire“ (Klopstock). Der Titel
und das Motto zeigen, daß Bürger selbst nicht die
Hauptsache bei dieser Arbeit war. Der Ver
fasser kennt die deutsche Literatur und ihre
Geschichte und weiß, wie ein Buch eingerichtet
werden müsse, um nicht zu langweilen. Wir
haben die 270 Seiten, aus denen das seinige
besteht, mit Interesse durchgelesen. Er fällt
ein vernünftiges Urtheil über den unglücklichen
Dichter, erklärt viele seiner Gedichte in sehr
annehmbarer Art und stellt ihn in seinen Be
ziehungen zur eigenen und zur heutigen Zeit
in guter Beleuchtung hin. Es steht Viel in
Mr. Maury's Buche, was nicht Jeder wissen
wird, Neues aber eigentlich nicht.
Das Unglück war und ist, daß Bürger
selbst und seine Werke, Alles in Allem genom
men, ein Mißbehagen in uns erwecken, das sich
nicht sortdisputiren läßt. Bürger wandelte
keine Strecke seines Daseins in dem stetigen, be
freienden Sommerwetter dahin, das die Früchte
langsam reifen läßt und dessen der Mensch von
Zeit zu Zeit bedarf, um seines Lebens froh zu
werden. Immer lag irgend ein Gewitter in der Luft,
er unterstand der Herrschaft des Gewaltsamen,
und schließlich: er ging zu Grunde. Wir be
wundern und bedauern ihn. Nirgends erquickt
er uns. Dabei schadet ihm zumeist unsere
heutige literarische Art, den Staub aus den
Wohn- und Schlafstuben der Poeten sorgfältig
zusammenzukehren und einer Analyse zu unter
ziehen. Doch ist, was dies anlangt, Mr. Maury
in anerkennender Art zurückhaltend gewesen.
o. Demeter and other poems. By Alfred
Lord T en ny8 o n. London, Macmillan and
Co. 1889.
Es ist immer noch der Zauber Tennyson'scher
Melodie, der uns aus diesen Blättern entgegen
klingt, mag der Dichter eine neue Klage der
Ceres anstimmen in dem Gesänge, der der
Sammlung den Namen gibt, mag er sich, in
„Merlin and the Gleam“ noch einmal in das
alte romantische Land begeben oder in „Happy"
(The leper's bride) die Dämmerung des Mittel
alters suchen oder in „The ring" jenes Zwischen
gebiet betreten, halb Wirklichkeit, halb Mystik,
halb Gegenwart, halb Ewigkeit, oder endlich
in „Forlorn“ und „Romney's Remorse“ eine
jener Herzenstragödien erzählen, deren ganzer
Inhalt das Leid und die Liebe dieser Welt sind.
Kein Zittern der Hand, kein Gebrechen des
Alters entstellt die Verse, wiewohl „the cen-
tury’s three sti’ong eights“ den Sänger daran
mahnen, daß er selber sich den Achtzigen naht;
aber auch kein Ausweichen vor dem großen und
mächtigen Gedanken des Endes. „This life of
mingled pains and joys“ hat nicht aufgehört,
für ihn — trotz allen Glaubens und aller
Religion — das Geheimniß zu sein; aber auf
der Höhe des Daseins hat er schon einen Blick
„of a height, that is higher“. Wie in den
Frühlingstagen des eigenen Lebens grüßt er,
bei jeder Wiederkehr den Frühling „among the
quarried downs of Wight“, bewillkommnet er
das erste Schneeglöckchen, „prophet of the gay
time, prophet of the May time“; doch er ver
schließt das Auge nicht vor der dunklen Pforte.
Das letzte Lied des Buches gibt dieser Empfin
dung einen sanften, unendlich rührenden Aus
druck — Abschiedsstimmung, kein Abschieds
schmerz, „no sadness of farewell“. Durch das
Zwielicht und Brausen der uferlosen Tiefe ver
nimmt er klar das Rufen einer Stimme, wie
zur Heimfahrt, und er hofft, seinen Fährmann,
Antlitz in Antlitz, zu sehen, „when I have crost
the bar“. Möge der Tag fern sein! Denn
manch' gold'nes Wort der Weisheit und des
Trostes können diese Lippen uns noch spenden.
ßx(f. Bilder - Atlas zum Homer. Sechs
unddreißig Tafeln mit erläuterndem Texte her
ausgegeben von Br. R. Engelmann. Leip
zig, Verlag des Litterarischen Jahresberichts
(Arthur Seemann), 1889.
Wir wissen nicht, welchen Nutzen diese Tafeln
haben sollen. Sie gehören weitauseinander
liegenden Epochen der antiken Kunst an. Kein
Stück reicht an die Zeiten Homer's heran, so
weit wir zu urtheilen im Stande sind. Homer
und sein Gedicht haben mit diesen, zum Theil
sehr häßlichen Illustrationen der Ilias und
^ Odyssee nichts zu thun. Sollen Studenten die
Taseln verstehen, so würde es eingehender An-