Full text: Rezensionen von Herman Grimm in der Deutschen Rundschau (1881-1890)

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
a 
aus 
yo. Rmamre! Geibel Aus Erinnern 
' Briesen und Tagebüchern von C. F. L.p- 
mann. Berlin, B.iihcMr Hertz, 1887. 
Einer von Geibel's Schul- und Jugend- 
'freunden, unter denen Ernst Curtius die vor 
nehmste Stelle einnimmt, bat leine Erinncrunaen 
vereinigt mit anderem Material, das dessen 
Tochter zumeist ihm zu Gebote stellte, in dwfenr 
Buche, zu einem Ganzen zusammengearbeitet, 
LaS er unter Emanuel Geibel's einfachem Namen 
veröffentlicht. Dies Buck ist nicht das erste, das 
sich mit dem Dichter beschäftigt. Schon zu seinen 
Lebzeiten erschien eine Biographie; nach seinem 
Tode kamen, neben anderen, die auf -die Familie 
Malsburg bezüglichen Reminiscenzen heraus. 
All das'enthüllt ein tiefes, sagen wir besser 
vielleicht: ein vertieftes, zartempfindcndeS, historisch 
begeistertes Gemüth, dem die Sprache flüssigen, 
wohlklingenden Ausdruck lieh und das genau in 
die Jahrzehnte vom Schicksal hineinversetzt 
wurde, die seiner Art entsprachen. Heute liegt 
schon der edle Rost auf Geibel's Erschcillung, 
der über 3Ules, -was dem Zeitalter Friedrich 
Wilhelm 'deS Bierteu entstammt, sich zu ver 
breiten begrünt. Ein Cultus der Vergangenheit, 
die nie da mar, eine Erwartung einer Zukunft, 
die nie kommen sollte, ein Festbalten am Trug 
bilde einer Gegenwart, die nicht existirte. Aus 
den künstlichen Zauberkreisen Berlins ging 
Gcibel in die noch künstlicheren Münchens über, 
wo König Ludwig'S Nachfolger feinen Vater und 
Vorgänger geistig zu überbieten suchte. All diese 
'Scenerien sind versunken, Geibel's Gestalt aber 
wird als wohlthuendes Element deS 19. Jahr 
hunderts seinen Platz und seinen Rang behalten. 
Litzmann hebt die Verwandtschaft mit Hölderlin 
hervor, dem, beinahe ein Jahrhundert früher 
^erscheinend, nicht so wohl gebettet ward als 
Geibel. Hölderlin's große tragische Gestalt ragt 
über die seines norddeutschen Sinnes- und 
Sangsgenossen hoch und herbe empor; dennoch 
umgibt die gleiche Atmosphäre beide. Auf den 
Abendwolkeu schwimmend, die die wieder herauf 
beschworene Sonne des classischen Alterthumes 
vergoldete, ohne sie doch bei aller Gluth er 
wärmen zu können, vollendeten sie ihren Flug. 
Die Herrlichkeit der antiken Welt stand in vollen 
Strahlen vor ihrem Auge. All die irdischen 
und himmlischen Götter Griechenlands schienen 
ihnen zu winken und dieselbe Sprache mit ihnen 
zu reden. All das ist von der Gelehrsamkeit 
unserer heutigen Zeit als Fata morgana erkannt 
und beseitigt worden. Eben jetzt — wenn da8 
Bild „Fata morgana" den Vergleich gestattete 
— ist man Seitens der heutigen philologischen 
'Gelehrsamkeit damit beschäftigt, die letzten Reste 
dieser Weltanschauung zu Grabe zu bringen. 
Geibel's Versen wohnt eine Melodie^ inne, 
die ihre Kraft nie verlieren kann. Seinen 
Versen aber mangelt die eigentliche Lebendigkeit. 
ZS ist, als lebte er, wie wir ihn vor uns habest, 
ein zweites Leben bereits. Er glaubte über den 
Parteien seiner Zeit zu stehen, „auf einer höheren 
Warte, als auf den Zinnen der Partei," wie 
Freiligrath eS 'formulirte, aber er stand nicht, 
sondern er schwebte. Seine Sprache repräsentirt 
den letzten Versuch, die Leyer Goethe's zu aller 
äußersten Tönen zu nöthigen. Ein letztes AuS- 
ltönen. Was Goethe -uns von heute aber äst, 
ist mehr als Geibel's Jahrzehnte in ihm ge 
sehen und gesucht haben. UnS heute ist «S 
nicht mehr um Goethe's Lieder allein, sondern 
um die Weltanschauung zu thun. die seine Werke, 
nicht bloß seine Gedichte enthalten. 
Litzmann's Buch liest sich angenehm und 
hinterläßt eine erfreuliche Stimmung. Es ist 
immer der Mühe werth, sich mit den Schicksalen 
von Männern zu beschäftigen, die ihrer Zeit 
einst einen Theil der ihr eigenthümlichen Färbung 
verliehen. Eine Anzahl nebenherlaufender Freunde 
Geibel's wird biographisch mitabgethan. Der 
verunglückte Philosoph Röse, den Geibel im 
Stillen Jahr aus Jahr vor Elend und Ver 
derben bewahrte, tritt unter ihnen am charakte- 
ristischten hervor. Röse's Schicksal hat etwas 
Dypisches für die stagnirenden Tage seiner elenden 
-Existenz. Auch Marcus Niebuhr taucht auf, in 
freundlichem Lichte. Ueberhaupt: ein milder 
Schimmer liegt über all den Aussichten ins 
Vergangene, den das Buch gewährt. Wir legen 
<8 mit dem Gefühl aus der Hand, den Anblick 
-eines in sich erfüllten abgerundeten Lebend 
empfangen zu haben, einer Existenz, die man 
-zwischen 1840 und 1870 als deutsches „Dichter- 
Leben" für schön und für berechtigt ansah. 
fi. Briefe an und von Hegel. Heraus 
gegeben von Karl Hegel. In zwei Theilen. 
Leipzig, Dnncker und Humblot. 1887. 
Zugleich neunzehnter Band der „von einem 
Verein von Freunden" herausgegebenen Schriften 
Hegel's. Von diesen Freunden allen lebt heule 
nur noch. in hohem Alter, Michelet. Hegel starb 
1831. Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte 
;das Buch noch aus der Fülle eigner Erinnerungen 
heraus besprochen werden können. Heute liegen 
hie Jahre, in denen diese Briefe geschrieben und 
ihr Inhalt erlebt wurde, weit zurück und müssen 
'historisch construirt werden. ES war nicht die 
Absicht des Herausgehers — wenn wir diese 
recht interpretiren — Hegel als Philosophen und 
Gelehrten erscheinen zu lassen, sondern ihn im 
menschlichen Durchschnittsverkehre zuzeigen. Reise- 
briefe aus Wien oder Paris, oder Zwischenstationen, 
an Frau und Kinder nehmen breiten Raum ein. 
Man hat das angenehme Gefühl einer frischen, 
gesunden Atmosphäre bei der Lectüre. Für 
Theater, Oper, Galerien und Sehenswürdigkeiten 
hat Hegel viel übrig und giebt lebendig und 
angeregt von den empfangenen Eindrücken Rechen 
schaft. Auch eine Anzahl brieflicher Aeußerungen 
Goethe's fehlen nicht. All diese Briefschaften 
aber geben nur fragmentarischen Einblick iu 
Hegel's Existenz, den Verkehr mit Cousin aus 
genommen, dem Hegel bei ganz besonderem An 
lasse näher getreten war und mit dem er eine 
dauernde Freundschaft geschlossen hatte. Wie 
liebenswürdig und leicht stechen Cousin's Briefe 
gegen den übrigen-Jnhalt des Buches ab. Ihm 
ging das persönliche Verhältniß über das wissen 
schaftliche. Sein im Anhange mitgetheilter Brief 
an Schelling, mit dem Cousin ebenfalls befreundet 
war und der ihn quasi zwingen wollte, zwischen 
ihm und Hegel öffentlich zu wählen, ist ein 
Meisterstück. 
,fi. Friedrich Overbeck. Sein Leben und 
Schaffen, Nach seinen Briefen und andern 
Dokumenten des handschriftlichen Nachlasses 
geschildert vonMargaretHowitt. Heraus 
gegeben von Franz Binder. In zwei 
Bänden. Frei bürg, Herder, 1886. 
Overbeck hatte nach dem Tode seiner Frau 
'den Bildhauer Hofmann mit dessen Frau und 
Kindern durch Adoption so eng mit sich ver 
bunden, daß diese Familie als die seinige galt 
und nach seinem Tode die von ihm hinterlaffenen 
Materialen für eine Biographie in doren Hände 
kamen. Eine englische Schriftstellerin, Margaret 
Howitt, übernahm die Arbeit, und das so ent 
standene englische Buch wurde von Franz Binder 
ins Deutsche übertragen, derart jedoch, daß dem 
Uebersetzer alle Papiere mitgetheilt wurden und 
er die Originalbelege zum Abdrucke bringen 
-konnte. Auf Abfassung solcher Biographien ist 
man in England wohlgeübt, pflegt aller einer 
-gewissen Breite und Unübersichtlichkeit zu ver 
fallen, die auch hier sich bemerklich macht. 
Einer Besprechung des Buches würde die 
folgende Disposition sich etwa aufdrängen. 
1. Kurzer Bericht über die äußere Lebensführung 
Lverlleck's, wie sie nun sich darstellt. 2. Hervor 
hebung der zu berichtigenden Thatsachen, d. h. 
Darlegung, wie früher ungenau Bekanntes, nun 
-erscheine. 3. Beschreibung der Haupttverke und 
der Stellung Overbeck's zur gesammten deutschen 
Kunstentwicklung, ein Punkt, der um so wichtiger 
-wäre, als das Buch nichts darüber sagt. So 
gearbeitet würde die Recension der beiden Bände 
Stoff für einen hübschen Aufsatz geben. Allein 
.Jeder, der das Buch gelesen hätte, würde sich 
sagen, eS sei bei dieser Behandlung Etwas aus 
gelassen worden, was sowohl der Verfafferin 
als dem Uebersetzer Hauptsache war: die auf 
-Religion bezüglichen Mittheilungen, welche darin 
enthalten sind. Weder übergehen noch objectiv 
würde das Element sich behandeln lassen, und 
dies ist der Grund, weshalb wir für die D. R. 
von einer eingehenderen Besprechung Abstand 
nehmen, sondern uns auf Angabe dessen be 
schränken, was uns nach der Lectüre des Buches 
als deren Resultat zurückblieb. 
1. Overbeck's Lebenslaus war ein so einheits 
voller, daß man einen Roman, besser, eine Legende 
zu lesen glaubt. Ein so harmonisches Dasein liegt 
fast außer aller Erfahrung. Man begegnet in Fa 
milien zuweilen Kindern zwischen 15 und 17 Jahren, 
schön, talentvoll, ideal, schüchtern, begeistert, mit 
-grenzenloser musikalischer Begabung, die aus 
Erinnerungen mozart'scher, beethovrn'fcher und 
schubert'scher Musik Phantasien zusammenweben, 
die etwas von EngelSmusik haben. Fünf Jahre 
später, und es sind entweder derbe Jünglinge oder 
Jungfrauen daraus geworden, oder ein frühes Ab 
welken hat sie fortgenommen. Denke man sich ein 
solches Licblingsgeschöpf der Vorsehung ausnahms- 
kwejse mun aber mit *
	        

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