Full text: Rezensionen von Herman Grimm in der Deutschen Rundschau (1881-1890)

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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
solchem Stoffe bildete sich der weiche, lenksame- 
Staatsmann Napoleon's. Und dieser hechblutige 
Augenblicksmensch der ruhigen norddeutschem 
Diplomatie gegenüber! wir bemitleiden tm 
Grunde seinen tragischen Ausgang: »Gr woure 
den Frieden und erklärte den Krieg; nicht, wie 
er sich zu böser Stunde ausdrückte, ,leichten 
Herzens'; aber leichtfertig im Ueberlegen wie 
immer." ^ . . ., 
Als gebrochenen Greis sieht Daudet ihn. 
nach dem Kriege wieder. 
Gambetta war ein Jugendfreund des 
Dichters. Im Quartier latin lauscht das junge 
Volk der Zukunft staunend der brausenden Rede- 
sluth dieses Halbitalieners, der „wie em Faß 
von Jungmost" überschäumt. Immer wieder 
taucht der gewaltige Sprecher am , Horizont. 
Daudet's auf; 1870 begegnen sich die Beiden 
im belagerten Paris: der Infanterist, Daudet 
erhält einen von den letzten Händedrücken des. 
nach Tours abfahrenden DictatorZ; wir ftye.7 
den ruhig in seine gebrechliche Lüftgondel steigen,, 
das Volksich drängen; und dann entführen die 
winterlichen Winde das ganze Hoffen der Welt- 
stabt hinauf — in's Ungewisse! 
Nach diesen zwei Politikern tritt anders 
artige Gesellschaft auf: Pariser Schauspieler 
und' Schriftsteller. Ergreifend ist das Loos 
E d m o n d' s d e G o n c o u r t geschildert: Abend 
sonne des Dichterruhms — und Wehmnth um 
einen Bruder und Mitarbeiter, dem anhaltender 
Mißerfolg das Herz gebrochen hatte. „Wie wenn 
allzu grelle Mißklänge einen Kelch von feinstem 
Krystall springen machen 
Zuletzt ein paar Federzeichnungen aus Paris 
und der provinzialen Gesellschaft. Einiges vom 
Jahre 1871 muß der Deutsche sich gefallen lassen; 
wen Schauergeschichten von gestohlenen Vasen 
und Uhren ärgern, der überschlage diese Er 
gießungen. 
Das literarisch Werthvollste des Buches sin» 
Nachrichten über die Entstehung der Romane: 
„Numa Rouraestan“ und „Les rois en exil“. — 
Unter den hunderttausend Farbencontrasten der 
bunten Welt regt einer diese, der andere jene 
Phantasie besonders an. 
Daudet's liebste Beobachtung ist der Gegen 
satz des Südfranzosen und des Parisers. Große 
Abschnitte der Weltgeschichte erklärt er sich aus 
diesem Gegensatz: z. B. Napoleon den Ersten 
versteht er als „Hamme du Midi“. — Ueber 
die Natur der Provenxalen hat er nun von 
früher Jugend an eingehende Studien gemacht, 
ihre Resultate sorgfältig aufgezeichnet und ge 
sichtet, unterstützt von trefflichem Gedächtniß 
für Bilder, Worte, Mienen; Modelle hatte er 
genug, das wichtigste trug er, der Sohn von 
Nimes, mit sich selber herum. — Aus jenem 
grünen Notizbuch über den „Süden" ist der 
Charakter des Numa Roumestan der krystalli- 
sirte Niederschlag. Es war also ein Irrthum, 
wenn manche Leser, besonders in Deutschland, 
Anspielungen auf Gambetta zu bemerken glaubten, 
wo schlechthin der Mensch des Sonnenlandes ge 
malt war. 
Die „verbannten Könige" hat Daudet lange 
vor sich gesehen, ehe er an die Ausführung des 
Romans ging. Er schildert uns die „erste 
Vision": ein entthronter Fürst schaut vom Bal- 
con eines Hotels in der Rivoli-Straße auf die 
Ruinen der Tuilerien hinab. Dann die Er 
kundigungen und das Spioniren nach den Ein 
zelheiten der „Boheme de l’exil“; die Forschung 
in Büchern verschiedener Art; endlich das, Em 
portauchen der grandiosen und tieftragischeu 
Figur des Elysde M£raut! — 
Möchten Autoren uns öfters so eingehend 
von der Entstehung ihrer Werke berichten wie 
Daudet! Für den Psychologen wäre eben dies 
die wichtigste Art von „Erinnerungen." 
Und — zum Schluß noch ein Wunsch! — 
möchte es bald einmal möglich werden, die 
Werke deutscher Schriftsteller in gleich treff 
licher Ausstattung gleich billig (ä Band 3 Frcs. 
50 Cts.) zu beziehen! — Die zahlreichen Illu 
strationen von Vieler, Montögut, Myrbach und 
Rotti vereinigen genaueste Naturwahrheit mit 
jener leichten Eleganz, die in letzter Zeit auch 
bei uns heimisch zu werden scheint; nur daß 
es ein wenig langsam geht! — 
f. Der Naturalismus. Seine Entstehung 
und Berechtigung. Von Alfred Fried. 
Leipzig und Wien. Franz Deuticke. 1890. 
Die kleine Schrift führt aus, daß der 
heutige Naturalismus weniger der reinen Liebe 
der Natur, als dem Bedürfniß nach Abwechs 
lung entstamme, deren unser übersättigtes Pu 
blicum bedürftig sei. Das Ganze hat ein wenig 
die Gestalt einer Strafpredigt und ist sehr all 
gemein gehalten. Die Ausführungen des Herrn 
Verfassers werden wahrscheinlich mehr von 
Denen gelesen werden, die ohnehin seiner Mei 
nung sind, als von Denen, welchen er in's Ge 
wissen reden möchte. Der Naturalismus, den 
Herr Fried mit Recht bekämpft, hat übrigens 
die Zeiten seiner höcksten Macht bereits hinter sich. 
I Die deutsche Literatur in der Klemme. 
Von Dr. Anton Schmid. Eine literarische 
Randglosse. Weimar. H. Weißbach. 1890. 
Recensent hat dies kleine Heft mit Er 
staunen durchgelesen. Es enthüllte ihm das 
Vorhandensein einer Literaturströmung, die ihm 
bisher so gut wie unbekannt gewesen war. 
Einige der angeführten Namen hatte er hier 
und da zwar gesehen, die ganze Gesellschaft 
aber, ihre Bestrebungen und ihre Machtsphäre 
findet er hier zum ersten Male beschrieben. Da 
zu gleicher Zeit eine Fülle einschlägiger Lite 
ratur angeführt und besprochen wird, so dürste 
die Schrift des Herrn A. Schmid auch später 
einmal Denen werthvoll sein, welche die deutsche 
Literaturgeschichte zu ihrem Studium machen. 
£. Wünsche zur bevorstehende« Reform 
der Gymnasien. Von Dr. I. Keller, 
Gymnasiallehrer. Wittenberg. H. Herrossöe. 
8. a. 
Wir sind immer der Meinung gewesen, die 
Gymnasialfrage könne nicht eher eine Lösung 
finden, als bis eine umfangreiche Literatur die 
Standpunkte in voller Klarheit gezeigt habe, 
von denen aus die Parteien die Dinge betrachten. 
In der Vorrede sagt Herr Keller von seinen Be 
strebungen Folgendes. „Der Verfasser fordert 
von der künftigen Gymnasialreform wenig und 
viel; wenig, insofern er die ganze altbewährte 
Organisation dieser Schulen unangetastet lassen 
und im Wesentlichen nur die Lehrmethode in 
einer Disciplin geändert haben will; viel, indem 
er den bisher dominirenden Fächern diese Stel 
ln ng nimmt. Sein Heilmittel, Verkürzung der 
altsprachlichen Unterrichtsstunden um die Hälfte, 
ist radical, aber es ist milde im Vergleich zu 
den Forderungen, deren Verwirklichungen die 
Schulreformvereine erwarten rc." Unsere Furcht 
bei dieser Bewegung ist, daß die Reform so 
lange verschoben werden könne, bis die ältere 
Generation der Schulmänner, die doch wohl 
allein das Bestehende vertreten, verschwunden 
sein wird, und daß dann eine jüngere Gene 
ration an's Ruder kommen werde, denen 
H. Keller's Radicalismus (wie er ihn nennt) 
viel zu zahm erscheinen dürfte. Was Herr K. 
unter III (S. 27 seiner Schrift) als „Forde 
rungen und Wünsche" vorbringt, ist durchaus 
vernünftig. Sei übrigens Folgendes hier noch 
erwähnt. Der Verfasser verlangt mit Recht, 
daß der Muttersprache künftig benn Unterrichte 
diejenige Rolle zuertheilt werde, welche ihr zu 
kommt. Hierfür aber bedürfte es zu diesem 
Zwecke eigends vorbereiteter Lehrer. Diese Vor 
bereitung^ wäre Sache der Universitäten. Es 
handelte sich da nicht bloß um das gelegentliche 
Hören einer Vorlesung über deutsche Grammatik 
und vergleichende Literaturgeschichte. Bis zu 
welchem Belange werden diese Studien von 
Denen heute betrieben, welche sich im Allge 
meinen für das Lehrfach an höheren Schulen 
bestimmt haben?
	        

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