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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
solchem Stoffe bildete sich der weiche, lenksame-
Staatsmann Napoleon's. Und dieser hechblutige
Augenblicksmensch der ruhigen norddeutschem
Diplomatie gegenüber! wir bemitleiden tm
Grunde seinen tragischen Ausgang: »Gr woure
den Frieden und erklärte den Krieg; nicht, wie
er sich zu böser Stunde ausdrückte, ,leichten
Herzens'; aber leichtfertig im Ueberlegen wie
immer." ^ . . .,
Als gebrochenen Greis sieht Daudet ihn.
nach dem Kriege wieder.
Gambetta war ein Jugendfreund des
Dichters. Im Quartier latin lauscht das junge
Volk der Zukunft staunend der brausenden Rede-
sluth dieses Halbitalieners, der „wie em Faß
von Jungmost" überschäumt. Immer wieder
taucht der gewaltige Sprecher am , Horizont.
Daudet's auf; 1870 begegnen sich die Beiden
im belagerten Paris: der Infanterist, Daudet
erhält einen von den letzten Händedrücken des.
nach Tours abfahrenden DictatorZ; wir ftye.7
den ruhig in seine gebrechliche Lüftgondel steigen,,
das Volksich drängen; und dann entführen die
winterlichen Winde das ganze Hoffen der Welt-
stabt hinauf — in's Ungewisse!
Nach diesen zwei Politikern tritt anders
artige Gesellschaft auf: Pariser Schauspieler
und' Schriftsteller. Ergreifend ist das Loos
E d m o n d' s d e G o n c o u r t geschildert: Abend
sonne des Dichterruhms — und Wehmnth um
einen Bruder und Mitarbeiter, dem anhaltender
Mißerfolg das Herz gebrochen hatte. „Wie wenn
allzu grelle Mißklänge einen Kelch von feinstem
Krystall springen machen
Zuletzt ein paar Federzeichnungen aus Paris
und der provinzialen Gesellschaft. Einiges vom
Jahre 1871 muß der Deutsche sich gefallen lassen;
wen Schauergeschichten von gestohlenen Vasen
und Uhren ärgern, der überschlage diese Er
gießungen.
Das literarisch Werthvollste des Buches sin»
Nachrichten über die Entstehung der Romane:
„Numa Rouraestan“ und „Les rois en exil“. —
Unter den hunderttausend Farbencontrasten der
bunten Welt regt einer diese, der andere jene
Phantasie besonders an.
Daudet's liebste Beobachtung ist der Gegen
satz des Südfranzosen und des Parisers. Große
Abschnitte der Weltgeschichte erklärt er sich aus
diesem Gegensatz: z. B. Napoleon den Ersten
versteht er als „Hamme du Midi“. — Ueber
die Natur der Provenxalen hat er nun von
früher Jugend an eingehende Studien gemacht,
ihre Resultate sorgfältig aufgezeichnet und ge
sichtet, unterstützt von trefflichem Gedächtniß
für Bilder, Worte, Mienen; Modelle hatte er
genug, das wichtigste trug er, der Sohn von
Nimes, mit sich selber herum. — Aus jenem
grünen Notizbuch über den „Süden" ist der
Charakter des Numa Roumestan der krystalli-
sirte Niederschlag. Es war also ein Irrthum,
wenn manche Leser, besonders in Deutschland,
Anspielungen auf Gambetta zu bemerken glaubten,
wo schlechthin der Mensch des Sonnenlandes ge
malt war.
Die „verbannten Könige" hat Daudet lange
vor sich gesehen, ehe er an die Ausführung des
Romans ging. Er schildert uns die „erste
Vision": ein entthronter Fürst schaut vom Bal-
con eines Hotels in der Rivoli-Straße auf die
Ruinen der Tuilerien hinab. Dann die Er
kundigungen und das Spioniren nach den Ein
zelheiten der „Boheme de l’exil“; die Forschung
in Büchern verschiedener Art; endlich das, Em
portauchen der grandiosen und tieftragischeu
Figur des Elysde M£raut! —
Möchten Autoren uns öfters so eingehend
von der Entstehung ihrer Werke berichten wie
Daudet! Für den Psychologen wäre eben dies
die wichtigste Art von „Erinnerungen."
Und — zum Schluß noch ein Wunsch! —
möchte es bald einmal möglich werden, die
Werke deutscher Schriftsteller in gleich treff
licher Ausstattung gleich billig (ä Band 3 Frcs.
50 Cts.) zu beziehen! — Die zahlreichen Illu
strationen von Vieler, Montögut, Myrbach und
Rotti vereinigen genaueste Naturwahrheit mit
jener leichten Eleganz, die in letzter Zeit auch
bei uns heimisch zu werden scheint; nur daß
es ein wenig langsam geht! —
f. Der Naturalismus. Seine Entstehung
und Berechtigung. Von Alfred Fried.
Leipzig und Wien. Franz Deuticke. 1890.
Die kleine Schrift führt aus, daß der
heutige Naturalismus weniger der reinen Liebe
der Natur, als dem Bedürfniß nach Abwechs
lung entstamme, deren unser übersättigtes Pu
blicum bedürftig sei. Das Ganze hat ein wenig
die Gestalt einer Strafpredigt und ist sehr all
gemein gehalten. Die Ausführungen des Herrn
Verfassers werden wahrscheinlich mehr von
Denen gelesen werden, die ohnehin seiner Mei
nung sind, als von Denen, welchen er in's Ge
wissen reden möchte. Der Naturalismus, den
Herr Fried mit Recht bekämpft, hat übrigens
die Zeiten seiner höcksten Macht bereits hinter sich.
I Die deutsche Literatur in der Klemme.
Von Dr. Anton Schmid. Eine literarische
Randglosse. Weimar. H. Weißbach. 1890.
Recensent hat dies kleine Heft mit Er
staunen durchgelesen. Es enthüllte ihm das
Vorhandensein einer Literaturströmung, die ihm
bisher so gut wie unbekannt gewesen war.
Einige der angeführten Namen hatte er hier
und da zwar gesehen, die ganze Gesellschaft
aber, ihre Bestrebungen und ihre Machtsphäre
findet er hier zum ersten Male beschrieben. Da
zu gleicher Zeit eine Fülle einschlägiger Lite
ratur angeführt und besprochen wird, so dürste
die Schrift des Herrn A. Schmid auch später
einmal Denen werthvoll sein, welche die deutsche
Literaturgeschichte zu ihrem Studium machen.
£. Wünsche zur bevorstehende« Reform
der Gymnasien. Von Dr. I. Keller,
Gymnasiallehrer. Wittenberg. H. Herrossöe.
8. a.
Wir sind immer der Meinung gewesen, die
Gymnasialfrage könne nicht eher eine Lösung
finden, als bis eine umfangreiche Literatur die
Standpunkte in voller Klarheit gezeigt habe,
von denen aus die Parteien die Dinge betrachten.
In der Vorrede sagt Herr Keller von seinen Be
strebungen Folgendes. „Der Verfasser fordert
von der künftigen Gymnasialreform wenig und
viel; wenig, insofern er die ganze altbewährte
Organisation dieser Schulen unangetastet lassen
und im Wesentlichen nur die Lehrmethode in
einer Disciplin geändert haben will; viel, indem
er den bisher dominirenden Fächern diese Stel
ln ng nimmt. Sein Heilmittel, Verkürzung der
altsprachlichen Unterrichtsstunden um die Hälfte,
ist radical, aber es ist milde im Vergleich zu
den Forderungen, deren Verwirklichungen die
Schulreformvereine erwarten rc." Unsere Furcht
bei dieser Bewegung ist, daß die Reform so
lange verschoben werden könne, bis die ältere
Generation der Schulmänner, die doch wohl
allein das Bestehende vertreten, verschwunden
sein wird, und daß dann eine jüngere Gene
ration an's Ruder kommen werde, denen
H. Keller's Radicalismus (wie er ihn nennt)
viel zu zahm erscheinen dürfte. Was Herr K.
unter III (S. 27 seiner Schrift) als „Forde
rungen und Wünsche" vorbringt, ist durchaus
vernünftig. Sei übrigens Folgendes hier noch
erwähnt. Der Verfasser verlangt mit Recht,
daß der Muttersprache künftig benn Unterrichte
diejenige Rolle zuertheilt werde, welche ihr zu
kommt. Hierfür aber bedürfte es zu diesem
Zwecke eigends vorbereiteter Lehrer. Diese Vor
bereitung^ wäre Sache der Universitäten. Es
handelte sich da nicht bloß um das gelegentliche
Hören einer Vorlesung über deutsche Grammatik
und vergleichende Literaturgeschichte. Bis zu
welchem Belange werden diese Studien von
Denen heute betrieben, welche sich im Allge
meinen für das Lehrfach an höheren Schulen
bestimmt haben?