© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 28
Lord Dyron.
I
Einer Charakteristik Byrons von einem dem ge
wöhnlichen so ganz entgegengesezten Standpunkt aus
wird es nicht überflüssig seyn einige einleitende Bemer
kungen vorauszuschicken, und zwar zunächst über die Art
von Kenntniß, welche wir im Allgemeinen in Deutsch
land über Byrons Charakter und Genius haben, und
das Verhältniß, in welchem dieselbe zu den zahlreichen
englischen Quellen, den Nachrichten, Memoiren, Brief-
Anekdoten und andern Sammlungen steht. Hieraus
wird sich dann von selbst ergeben, in wie weit ein
neuer Beitrag, wie er hier gegeben werden soll, am
Platz ist.
Wer auch nur oberflächlich mit dem englischen
Wesen bekannt ist, weiß, daß dieses freiheitsstolze Volk
vor allem Vornehmen, vor jeder Autorität, sey es im
Leben oder in der Literatur, einen Respekt hat, der über
die deutsche Philisterhastigkeit in diesem Punkt noch un
endlich hinaus geht. Wer hat nicht von den sonder
baren Reliquien berühmter Personen gehört, welche von
sammelnden Britten überall aufgesucht und zu fabel
haften Preisen gekauft werden? In der englischen Lite
ratur ist das bekannteste Beispiel einer solchen demüthi
gen Bewunderung, die nicht von weitem dazu kommt,
das Wesen eines Mannes zu begreifen, weil sie ganz
darin aufgeht, auf sein „Räuspern und Spucken" zu
sehen, das Leben Johnsons von Boswell. Ueber Byron
nun gibt es gleichfalls eine Menge solcher Noth- und
HülfSbüchlein, aus denen „der edle Lord" nach seinem
Leben, Charakter, Genius u. s. w. erkannt werden soll.
Eine beträchtliche Anzahl derselben ist auch in Deutsch
land allgemein bekannt. Bei dem geringen Werth, den
die meisten von ihnen für diesen Zweck haben, könnte
man sie ganz mit Stillschweigen übergehen, wenn nicht
gerade bei einem Mann von Byrons Eigenthümlichkeit
solche Sammlungen fast unvermeidlich den Uebelsland
mit sich führten, eine durchaus oberflächliche, einseitige,
falsche Vorstellung von dem Helden zu erzeugen, den
sie dem Publikum doch nach seinem innersten Wesen
vor Augen stellen wollten.
In welch hohem Grade dieß der Fall ist, davon
kann man sich aus nichts lebhafter überzeugen als aus
der nach englischen Quellen zusammengeschriebenen Bio
graphie Byrons, welche — so viel wir wissen — die
in Deutschland verbreitetste, ja fast die einzige Quelle
ist, aus der sich das größere Publikum über den von
ihm so hoch geschäzten Dichter unterrichten kann. Na
mentlich dem hohen Ruf gegenüber, in dem wir bei
den Engländern wegen unserer Germanisirung Shake
speares und Byrons als eine „Nation von Kritikern
und Denkern" stehen, ist es eigentlich als eine natio
nale Calamität, als ein öffentlicher Schandfleck zu be
trachten, daß ein Leben Byrons wie das Ortlepp'sche über
haupt nur geschrieben werden konnte. Zur Entschuldigung
unserer Literatur muß man allerdings sagen, daß dieser
Verfasser unter allen, welche in Deutschland die Feder
führen, wohl der unfähigste für ein solches Geschäft war.
Insofern können wir nur den Zufall anklagen, der für
ein übrigens zeitgemäßes Unternehmen gerade das
schwächste Werkzeug auswählte. Der ungeschickteste
und geschmackloseste hätte aber doch wohl nicht so traurig
in der Irre gehen können, wenn aus den vor ihm lie
genden Quellen eine klare Anschauung des zu schildern
den Mannes wäre zu gewinnen gewesen, wenn er nichts
weiter nöthig gehabt hätte, als die Collektaneen zusam
menzustellen und drucken zu lassen. Hiemit hat er es
sich freilich leicht genug gemacht; außer Anfang und
Ende ist fast kein Wort von ihm, sondern alles aus
englischen »accounts« u. s. w. planlos zusammengewür
felt; weil er aber in diesen englischen Quellen über die
innerste Eigenthümlichkeit des Byronschen Wesens nir
gends etwas Greifbares fand, blieb ihm nichts übrig,
als das, was er mit allen Halbgebildeten über den
Dichter dachte, in einer Weise auszusprechen, die für
den Unterrichteten freilich nur insofern Interesse hat,
als sie ihin den komischen Genuß der vollständigsten
Selbstparodie verschafft. Man darf nur den Anfang
und den Schluß dieser erst vor fünfzehn Jahren erschie
nenen Biographie lesen, um es geradezu unbegreiflich
zu finden, wie eine solche Büchermacherei in Deutsch
land um die Mitte dieses erleuchteten Jahrhunderts
möglich war, und jeden Beitrag zu einem ernsteren
Verständniß Byrons als Abtrag an einer nationalen
Schuld anzusehen.
Es beginnt aber diese Biographie also: „Es hat
vielleicht nie einen Dichter, und vielleicht auch nie einen
Menschen gegeben, dessen Seyn und Leben aus einer
so fortlaufenden Kette von Sonderbarkeiten bestand, wie
das Leben des Lord Byron. Oft denkt man, er müsse
bloß affektirt, und selbst mit diesem Affektiren nur ko-
kettirt haben. Wer den edeln Lord nur so obenhin
betrachtet, der wird auch wohl bei dieser Meinung ste
hen bleiben. Wer aber tiefer blickt, wer den herrlichen
Dichter gelesen und genossen, wer alle Himmel und
Höllen aus seiner Lektüre herausgeschmeckt hat, der wird
sagen: geht mir doch alle zum Teufel, ihr Philister,
die ihr das Genie mit der Elle meßt! Das ist ja alles
wirklich empfunden und hervorgewachsen aus eigenster
Individualität! Affektation kommt von Affekt. Affekt
ist die reine, natürliche, starke Empfindung; Affektation
ist das sich Stellen, als ob man dergleichen Empfin
dung hätte. Wer aber kann sich durch sein ganzes Le
ben hindurch stellen, als ob er afficirt wäre?" u. s. w.
Diesem Anfang entspricht ganz der Schluß, von dem
wir, obgleich er sonst noch eine Menge der lustigsten
Sachen enthält, hier nur den lezten Passus geben kön
nen: „So schließt sich denn also diese Biographie unseres
Byron ganz lustig. Byron glaubte sich fortwährend in
der Hölle, indem er im Paradiese war. Ist es denn
auch wohl möglich, daß sich Selige für verdammt hal
ten können? Doch ja! Auch haben ja die Verdammten
im Gegentheil Augenblicke, wo sie sich für selig halten.
Das Resultat ist, daß Byron als einer der glücklichsten
Menschen einer der unglücklichsten entweder war, oder
zu seyn sich einbildete; ob mit Recht, oder Un
recht, darüber schweigt die Geschichte zwar nicht, aber
sie gibt keine befriedigende Auskunft."
■ Diese Proben, die wir zugleich in der Absicht aus
geschrieben haben, einen gewissen humoristischen Styl
zu kennzeichnen, der sich als ein dem Geschmack einer
ordinären, untergeordneten Bildung so ganz entsprechen
der immer und überall geltend machen will, werden
hinreichen, um zu zeigen, wie sehr dem öffentlichen
Urtheil über Byron eine Berichtigung Noth thut.
So traurig nun aber auch der Biograph ist, den
wir so eben kennen gelernt, so hat er doch mit dem,
was er über Affektation und eingebildetes Unglücklich
seyn sagt, unstreitig den richtigen, freilich nie zu ver
fehlenden Punkt getroffen; nur daß er bei seinem Man
gel an allem Urtheil die vollständige Auskunft nicht
finden konnte, welche die Geschichte in allwege über das
ihm räthselhaft scheinende gibt. In Deutschland näm
lich wird kein einigermaßen Kundiger darüber im Zwei
fel seyn, daß er Lord Byron als das grandioseste Bei
spiel jener genialen Romantik, einer sich über alles
erhaben fühlenden und daher an nichts sich ernstlich
und liebevoll betheiligenden geistreichen Subjektivität zu
betrachten habe, welche unter uns zu einem allgemei
nen, cultur- und literarhistorischen Problem geworden
ist. In England lst diese Kategorie weniger bekannt,
deßwegen kann es auch nicht auffallen, daß von allen
den bekannteren Büchern über Byron keines ihn aus
diesem Gesichtspunkt auffaßt. Um so willkommener aber
ist .es auch, eine englische Quelle zu haben, welche
ganz auf dieser Anschauung beruht, wenn sie auch die
deutsche Terminologie hiefür nicht kennt. Es ist auf
fallend, daß man dieses Buch, das den Titel führt:
»Lord Byron and some of his contemporaries etc.
by Leigh Hunt«, fast nirgends auch nur erwähnt
findet, daß wenigstens eine ausführlichere Nachricht über
dasselbe unseres Wissens noch nie gegeben worden ist,
während viel werthlosere Nachrichten über Byron je
dermann bekannt sind. Man wird dieß, neben andern
zufälligen Umständen, hauptsächlich auch daraus zu er
klären haben, daß zur Zeit der Erscheinung des Buches
(das vor uns liegende Eremplar ist ein Galignianischer
Nachdruck von 1828, das Original erschien wahrschein
lich im selben oder im vorhergehenden Jahre in Lon
don) die obligate Bewunderung des Dichters sich durch
eine so abweichende Stimme nicht stören lassen wollte,
wodurch dieselbe auch für die folgende Zeit aus dem
codex receptorurn gestrichen blieb.
Hunts Verhältniß zu der Mehrzahl der übrigen
Byron-Bücher kann man am besten aus seiner eigenen
übersichtlichen Kritik derselben abnehmen. Er theilt die
recollections, accounts, conversations, life and times
u. s. w. in fünf Klassen: erstens solche, die wirklich
Wahres und Neues über Byron enthalten; ferner die
zwei oder drei alte Wahrheiten für den Geschmack des
Publikums zu einer Buchhändlerspekulation zustutzen;
drittens Betrachtungen über seinen Genius, mehr oder
weniger unparteiisch und zuverlässig; viertens Compila
tionen, die Alles, was über ihn aufzutreiben ist, zu
sammenscharren, es mag wahr oder falsch seyn, und
fünftens endlich reine unverschämte Erdichtungen. Die
besten der ersten Klasse sind nach ihm Dallas und
Medwin, Parry und Gamba, und unter ihnen nimmt
wieder Dallas die erste Stelle ein (Moore kannte er
auch nicht). Wir werden von allen mit einander keine
besonders günstige Vorstellung haben können, wenn Hunt
von diesem besten sagt, er gehe merkwürdig irre in Folge
halben Verständnisses; er müsse Byron zum Sterben
gepeinigt haben mit lächerlich zudringlichen Fragen
und feierlich ernsthaften Mißverständnissen. „Der wilde
Poet rannte gegen ihn, daß ihm Hören und Sehen
verging." Um ihn näher zu charakterisiren, führt Hunt
namentlich an, wie er sich immer damit beschäftigte und
nie in's Klare darüber kommen konnte, ob Seine Lord
schaft Christ oder Atheist gewesen. Wir können diesem
Urtheil nur beipflichten und fügen, um das Bild des
lächerlich gewissenhaften, pedantischen Mannes auszu
zeichnen, aus seinen „Erinnerungen" nur die Stelle
hinzu, wo er sich über den Verkauf von Newstead-Abbey