Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über einzelne Kunstwerke

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 28 
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Winkeln des Mundes versinkend, der geöffnet ist, nur 
ein wenig. Redet sie? seufzt sie? athmet sie den Opfer 
dampf ein, der zu ihr aufsteigt? Alles; wenn man 
denkt, sie thäte es, so thut sie's. Lieblich und mit 
einem leichten Grübchen darunter, fast als wollte sie 
sich spalten, liegt die Unterlippe unter der oberen, deren 
Mitte ein wenig über sie hervorspringt, in der Art, 
wie man es oft bei Kindern sieht; aber es kommt 
nichts kleines, niedliches etwa so in diese wundervollen 
Formen. Sanft abgeplattet und energisch groß gerun 
det setzt das Kinn an, und eine volle, starke Rundung 
liegt zwischen ihm und dem Halse, der weder zart, wie 
der der mediceischen Venus, noch schlank, wie der der 
Diana mit dem Rehbock, sondern vom reinsten Eben 
maß ist, für das wir keines schmückenden Beiworts 
bedürfen. 
Die Augen erscheinen klein, doch bemerkt man es 
erst, indem man sie einzeln betrachtet; die Augenlieder 
sind schmal und ohne scharfen Contour. Wie anders 
springen sie bei der Pallas Athene des Phidias her 
vor, daß man fast die drohenden Wimpern zu sehen 
glaubt, und das blitzende Auge, das sie beschatten! Auch 
theilt man ihm die Statue nicht zu, sondern seinem 
weicheren, weniger strengen Nachfolger Skopas, oder 
dessen Schule. * 
Die Brauen sind wenig gebogen und den Augen 
aufgedrückt. Auch die Stirn ist niedrig und breit, die 
Wangen nicht voll, aber breit, der Nasenrücken nicht 
minder, zwischen den Augen leise zusammengenommen, 
dann wieder auseinandergehend und in die Wangen 
auslaufend, bis er sich an der Spitze neu in deutli 
cherer Form gibt. Doch ist hier nichts scharfes, vor 
strebendes in ihrer Bildung; voll und sanft abgerundet, 
dabei ein wenig übergesenkt (im Profil eine der zar 
testen Linien), entspricht sie den aufathmenden Nüstern 
und dem geöffneten Munde, dessen obere Lippe sein 
und sehr nahe unter ihr ansetzt. 
Erwägt man jeden Theil für sich, so geräth man 
in Versuchung, ihn einzeln zu stark zu finden; vergleicht 
man aber die Theile unter einander, so scheinen sie 
fast zu klein. Ich will dieß nicht zu erklären suchen und 
weiß den Grund nicht. Allein dieser Widerspruch drängte 
sich mir stets auf, so oft ich den Kopf genauer und 
längere Zeit ansah. Wie man ihn aber nimmt und 
betrachtet, immer entstehen neue, überraschende Linien 
und niemals auch nur die geringste Biegung, welche 
man anders wünschte. Zauberisch wirken Hell und 
Dunkel, wenn man Abends ein Licht in verschiedenen 
Stellungen zu ihm bringt. Da lebt oft alles, die Lippen 
* Waagen. 
zittern, die Augen blicken und die Wangen sich. 
Was bei Tag eine leere glatte Fläche erschien, erhält 
im zweifelhaften Schimmer lebendigen Ausdruck; an der 
Stirn erscheinen Uebergänge unmerklicher Modellirung, 
und man glaubt gefunden zu haben, was den Augen 
solchen Reiz verleiht, denn es zeichnen sich um sie große, 
wunderbare Höhlen, aus denen sie so strahlend her 
ausleuchten. In den Mundwinkeln nistet sich dann 
aber ein Lächeln ein, wie nur die Göttin lächeln konnte, 
die sich den Sterblichen hingab und dennoch niemals 
schwach und sterblich war. 
Sagt ihr Antlitz schon soviel, was erst die ganze 
Gestalt! Einstimmig wird sie als die schönste aner 
kannt, welche von antiker Arbeit uns erhalten blieb. 
Ich kenne das Original nicht, nur den kalten Gyps- 
abguß, im hiesigen neuen Museum an einer Stelle auf 
gestellt, wo das Licht von der Seite fallend die Figur 
mit einer gleichgültigen Helligkeit umgibt. Ungünstig 
ist der Platz nicht. Sie steht allein in einer Nische, 
man kann ganz in ihre Nähe und wieder zurück treten, 
man fühlt die adelige Ruhe, die Hoheit ihrer Erschei 
nung, man möchte sich nicht abwenden von ihr, — aber 
dennoch: es sind so viele Jahre vergangen, seit der 
Künstler seinen Meißel zum leztenmal ansetzte, und es 
lebt kein Volk mehr, das in ihr das Symbol ewiger 
Gefühle verehrt. 
Der Reiz der Neuheit ist kein frivoler, das Zeit 
alter, in dem wir leben, ist das beste, besser als alle 
vorangehenden, der Frühling, dessen Luft wir athmen, 
der schönste, sein Nachtigallengesang süßer als der des 
verflossenen Jahres. Es ist unmöglich, sich zurückzu, 
zaubern in die Gefühle verlebter Zeiten; was uns aus 
jenem Blüthenalter der Kunst geblieben ist, ermangelt 
des Reizes, der einst sein schönster war: es lebt kein 
Volk mehr, das den Meister umschloß und seine Werke, 
durch die er sein eigenes Geheimniß offenbarte, welches 
zugleich das seines Volkes war. 
Was ist mir diese Gestalt einer Göttin? Was 
nützen mir die Gedanken, die sie in mir erwachen läßt? 
Eine unfruchtbare Sehnsucht sind sie, fremd mir selber, 
in dem sie zu reden beginnt. Ich betrachte sie; ich 
denke, so erhob sie sich aus dem Schaume des Meeres, 
rein, wie die Fluthen, denen sie entstammte, ihre Seele 
durchleuchtend durch die unverhüllten Glieder, wie für 
uns die schönsten Glieder durch ein edel gefaltetes Ge 
wand scheinen. Nicht wie die mediceische Venus, um 
die eine rosige Wolke von Anmuth schwebt, die der 
Flügelschlag ihrer Tauben umrauscht, die den irdischen 
Genuß in die Gewölle trägt, sondern frei, wie Pro 
metheus das Feuer herabholte, scheint sie den Funken 
überirdischer Liebe aufgefangen zu haben, um ihn dem 
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Geschlechte zu verleihen, das verehrend zu ihr aufblickt. 
Ich sehe einen Tempel, durch dessen offenes Dach ein 
warmes, gedämpftes Licht herabströmt, einen Altar, von 
dem die Schleier des Opferdampfes auffliegen; da steht 
sie, tadellos, unangetastet von rohen Händen (weder - 
von denen, die sie stürzten, noch denen, die sie aus 
dem Boden wieder herausgruben); Rosen liegen zu ihren 
Füßen, und das Mädchen, das zitternd zu ihr auf 
schaut, sah sie als Kind schon so dastehen, lächelnd, 
als wäre es unmöglich, daß sie nicht jedes Geheimniß 
ahnte, jeden Wunsch gewährte, den selbst, den nur 
das Herz zu denken wagte. 
Ihr eigen war das Haus, ein Tempel, von der 
untersten Stufe bis zur Spitze der Giebels vom ge 
heimnißvollen Rhythmus des Ebenmaßes belebt. Von 
seiner Höhe herab ein Blick auf die gebirgigen Inseln 
Griechenlands, auf das Meer, aus dem sie aufragen, 
und auf den Himmel, dessen Blau aus seinen Wellen 
emporstrahlt; im Herzen aber Freiheit und weit umher 
die eilenden Schiffe, in Schwärmen kommend oder da 
hinziehend, in ihnen aber siegreiche Krieger und an den 
Rudern die Sklaven, die sie erbeutet, in gefesselter 
Dienstbarkeit. 
Die, welche damals lebten, sahen die Göttin an- ! 
ders als wir, die wir die verstümmelte Gestalt betrach- ■ 
ten, deren Tempel und Altäre verschwunden sind, von 
der wir nicht wissen, von wem und wann sie vollendet ! 
ward, wo sie stand, nicht einmal, wie ihre Arme ge 
formt waren, deren Schönheit wir trotzdem zu ahnen 
meinen im Anblick der herrlichen Schultern, denen 
sie geraubt sind. Gewiß, sie ist schön. Bewunderung 
und Staunen erweckt sie, die Phantasie trägt sie mit 
Macht zurück zu ihren Zeiten, aber fremd bleibt sie uns, 
und während wir im Anschauen verloren sind, sagt uns 
eine leise Stimme, es sey für uns kein Herz mehr in 
dieser Schönheit. 
Es ergeht mir mit ihr wie mit den Dichtungen 
der Griechen, die meine tiefsten Gefühle anrühren, aber, 
wenn ich es recht überlege, mehr durch einen kühlen 
Zwang, als weil ich mich völlig ihnen hingäbe und 
unersättlich mehr verlangte. Orest und Oedipus, Iphi 
genie und Antigone, was haben sie gemein mit meinem 
Herzen? Unwillkürlich legen wir oft in sie hinein, was 
wir in ihnen erblicken möchten, und erblicken es dann 
scheinbar, aber es ist nur eine Täuschung. Zeit und 
Berlin, November 1855. 
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Volk gehen allzusehr verschiedene Wege. Die Welt 
theilte sich unter Freie und Sklaven, Völker bekriegten 
sich, nur um sich zu vertilgen, andere Gesetze, andere 
Familienbande, ein anderes Mitleid, ein anderer Ehr 
geiz, Ruhe und Bewegung anders, als sie fordern und 
begreifen. Der Dichter erhebt sich freilich über seine 
Zeit, aber er ist undenkbar trotzdem ohne seine Zeit. 
Um so höher die Blüthe der Sonne zustrebt, um so 
tiefer schlagen sich ihre Wurzeln in den Boden, welcher 
sie trägt und die andern. Ein Nachklang aller dieser 
Verhältnisse klingt aus den Werken der alten Dichter 
befremdend uns an, durchdringt Alles, was dem Alter 
thum angehört. Es ist eine Scheidewand gezogen zwi 
schen ihm und uns; durchsichtig mag sie seyn, wie vom 
reinsten Crystall erbaut, aber unübersteiglich bleibt sie 
dennoch. Ein Alles überflügelnder Drang nach freier 
Gleichberechtigung vor Gott und dem Gesetz lenkt heute 
einzig unsere Geschicke. In ihm wurzeln unsere Sitten 
und Gefühle. Wir leben, jene Zeiten sind todt. Unsere 
Sehnsucht kann in dem ihre Befriedigung nicht finden, 
was die längst erfüllte Sehnsucht längst vergangener 
Tage stillen sollte. Diese Schöpfungen sind keine 
Nothwendigkeit mehr für uns, wären sie noch schöner 
und wunderbarer. 
Untergehen werden sie nicht durch unsere Nachlässig 
keit. Immer werden sie uns sagen, waö ihre Meister 
erreichten, wie sie sich der Natur rücksichtslos hingaben, 
der einzige Weg, Großes zu gestalten. Unsere Ruhe 
werden sie stets entzücken, aber unsere Leidenschaften 
nimmermehr beruhigen. Fehlten uns plötzlich Homer, 
die Tragiker, Pindar und andere, wären alle Kunstdenk 
male der antiken Zeit versunken, ein ungeheurer Verlust 
wäre das für uns. Aber würden wir Goethe, Sha 
kespeare oder Beethoven hingeben, um jene wieder zu 
' erlangen? würden wir schwanken, wenn hier Raphaels, 
! Michel Angelos und Murillos Werke, dort alle Schätze 
! des Alterthums lägen und ein's oder das andere uns 
j genommen werden sollte? Genießen wir sie beide, stim- 
I men wir nicht dem unsinnigen Treiben derer zu, welche 
j das classische Studium der Jugend aus den Händen 
! reißen möchten, aber empfinden wir dennoch den Unter 
schied zwischen dem, was uns blutsverwandt ist, und 
dem, was wir bewundern, an dem wir uns bilden und 
belehren, und was wir freilich nicht übertreffen könn 
ten, wenn wir es versuchten. 
Herman Grimm.
	        

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